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GUTE-NACHT/2567: Traurige Nachricht im Häuschen am Hang (SB)


Traurige Nachricht im Häuschen am Hang

Als Hedda an diesem Tag erwacht, zeigt der Brief auf dem Nachttisch, daß sie nicht geträumt hat. Der Zwerg will bald kommen und noch jemanden mitbringen.

Hedda schlüpft in ihren Morgenrock und geht in die Küche, um sich als erstes ein Glas Milch einzuschenken. Der leere Kühlschrank erinnert sie daran, daß sie dringend einkaufen gehen sollte, bevor der Zwerg eintrifft.

Das Glas stellt Hedda in die Spüle zu den vielen anderen Gläsern, Tassen und dem sonstigen Geschirr. "Abwaschen wäre auch nicht schlecht", sagt sich Hedda, legt aber nur ein Geschirrhandtuch darüber.

Nachdem Hedda in ihre Jeans gestiegen und sich den rot-weiß gestreiften Pullover übergezogen hat, schnappt sie sich den Korb und das Fahrradschloß und stürmt zur Tür. Da liegt gleich vor dem Eingang wieder ein Brief auf dem Boden. Der Umschlag ist weiß mit einem schwarzen Rand. Das hat nichts Gutes zu bedeuten. Deshalb setzt sich Hedda auf die Treppe, die nach oben führt. Erst jetzt öffnet sie den Brief.

Eine Todesanzeige fällt aus dem Umschlag. H. E. ist gestorben. "Er war doch noch gar nicht so alt. So alt wie ich", denkt Hedda. Sie denkt an Gänseblümchen, die sie ihm brachte, als er mit Grippe im Bett lag. Sie erinnert sich an die Dorfschule, auf deren Schulhof sie beide Fangen gespielt haben. Auch den Konfirmandenunterricht besuchten sie gemeinsam und hielten sogar den Kindergottesdienst zusammen. Er war beliebt, der Sohn des größten Bauern vor Ort. Hedda hatte ihn von Anfang an sehr gern gehabt. Einmal half er ihr sogar, ihre Ostereier zu retten, die ein anderer Klassenkamerad versuchte zu zertreten. Manchmal kletterten beide auf die Mauer unter den Kastanienbäumen, die den Bauernhof eingrenzten. H. E. war wirklich ein guter Freund gewesen.

Hedda steckt die Anzeige zurück in den Umschlag. Da erinnert sie sich an die Briefe, die sie einst von ihren Schulkameraden erhielt, als sie im Krankenhaus lag. Hedda vergißt den Einkauf und steigt auf den Dachboden hinauf. Dort oben hat sie eine Kiste stehen mit all ihren Briefen, die sie jemals bekommen hat. "Willst du den alten Papierkram nicht mal wegwerfen?", wurde sie immer gefragt, wenn sie mal wieder umzog und Kiste um Kiste alter Zettel und Briefe mitschleppte. Nein, wegwerfen, was andere ihr einst geschrieben hatten, das konnte sie wirklich nicht. Dafür gab es doch schließlich einen Dachboden, auf dem man alles aufheben konnte.

Die Kiste hat Hedda gleich gefunden, auch den Briefumschlag mit den Kinderbriefen. Sie liest sie alle nacheinander durch. Die Klassenkameraden beschreiben, wie sie Kasperpuppen gebastelt haben und daß sie Hedda gern einmal besuchen würden, aber das Krankenhaus sei zu weit weg. Alle wünschten ihr gute Besserung. Nur H. E. hatte ihr keinen Brief geschrieben. Jetzt fällt es ihr wieder ein. Schon damals hatte sie sich geärgert, daß ausgerechnet H. E. keinen Gruß geschickt hatte. Aber besser keinen Gruß, als einen, der einen nur traurig stimmen würde.

In die Kiste legt Hedda die alten Briefe zurück. Wie es wohl den anderen Klassenkameraden geht? Als sie bereits den Deckel der Kiste schließen will, entdeckt sie das kleine Buch mit dem Schloß daran. Dahinein hatte sie ihre Gedanken und Erlebnisse geschrieben. Hedda knackt das Schloß und klappt das Buch auf. Sie findet, was sie sucht. Was sie liest, hat mit H. E. zu tun.


*


Heute war er krank und fehlte in der Schule. Deshalb packte ich am Nachmittag die Schulhefte unter den Arm, so als Alibi, und zog los, den kranken Freund zu besuchen. Heimlich pflückte ich ein paar Gänseblümchen. Die lassen sich besser unter der Rockschürze verstecken als größere Blumen. Dann ging ich zum Bauernhof mit den drei großen Kastanienbäumen. Dort wohnt mein Klassenkamerad. Ich klopfte an die Tür und sein Vater öffnete. Ich habe immer etwas Angst vor seinem Vater. Er hat wohl vom Krieg ein steifes Bein und auch etwas am Arm. Ich fragte, ob ich H. E. besuchen kann. Sein Vater ließ mich hinaufgehen. Dort lag er im Bett und sah richtig blaß aus.

"Ich habe dir die Hausaufgaben mitgebracht", sagte ich - wie dumm von mir - und dann fragte ich, "wie geht es dir denn?" H. E. antwortete: "Ganz gut!" Doch so sah er nicht aus. Vorsichtig holte ich die Gänseblümchen unter meinem Rock hervor, die hatte ich in ein feuchtes Taschentuch gewickelt, damit sie nicht verdursteten.

"Hier, die habe ich dir mitgebracht", sagte ich und hielt ihm den kleinen Strauß hin. Es waren nur ein paar Minuten vergangen. Doch schon kam seine Mutter zur Tür herein und fand, daß es besser wäre, wenn ich wieder ginge. Sie verließ das Zimmer und ich sagte: "Übrigens, du hast den ersten Platz beim Märchenschreiben gewonnen!" H. E. strahlte. Und fragte: "Und du?"

Vor drei Tagen hatten wir als Hausaufgabe aufgehabt, eine Geschichte darüber zu schreiben, warum die Bäume im Herbst bunt werden.

"Meine Geschichte hat den zweiten Platz gemacht. Meine Affen gefielen den anderen nicht so gut wie deine Schwäne. Ich fand deine Geschichte auch besser als meine", erzählte ich ihm. H. E. sagte: "Deine war aber auch nicht schlecht." - "Nunja", sagte ich und zuckte mit den Schultern. "Affen kommen sehr selten in Märchen vor", tröstete er mich. "Ja, vielleicht lag es daran", stimmte ich ihm zu. Nun kam seine Mutter wieder ins Zimmer und drängte mich zum Gehen.

"Soll ich dich morgen wieder besuchen?", fragte ich. "Brauchst du nicht! Bestimmt bin ich morgen schon wieder gesund und komme in die Schule", bemerkte er. Ob er das nur sagte, weil mein Besuch ihm peinlich war? Ich hätte ihm gern noch etwas ganz Liebes gesagt. Doch mir fiel nichts ein, besonders weil seine Mutter uns nicht noch einmal allein ließ. So sagte ich nur: "Tschüß." - "Tschüß, Männlein!" lachte er. So krank ist er wohl wirklich nicht mehr, wenn er schon wieder daran dachte, mich zu ärgern. Dabei weiß er gar nicht, daß es mich überhaupt nicht ärgert, wenn sie morgens zum Schulanfang vorschlagen, das Lied "Ein Männlein steht im Walde" zu singen. Es macht mich eher stolz, weil es zeigt, daß ich genauso stark bin wie die Jungs. Denn nur, weil ich keine Angst habe, mich mit ihnen zu fetzen, haben sie mich so genannt.


*


Hedda schmunzelt. Dann liest sie die nächste Seite. Dort hatte sie H. E.s Geschichte mit den Schwänen festgehalten.


*


Es war einmal ein Wald. Der war tagein, tagaus grün. Doch er wollte nicht immer nur ein grünes Kleid tragen. Er sah neidisch den bunten Vögeln nach, wenn sie im Herbst in den Süden zogen. "Nicht einmal verreisen kann ich, wenn ich schon immer grün sein muß." Immer mehr ärgerte sich der Wald über sein eintöniges, immer gleich bleibendes Aussehen. "Warum können meine Blätter denn nicht bunt sein, so wie die Blumen, die im Sommer am Waldesrand stehen?" fragte sich der Wald.

Fast jeden Tag ging das nun so. Sein Klagen wurde immer lauter. Längst waren die Sommerblumen verblüht und schon die meisten Vögel gen Süden gezogen. Doch eines Abends kam ein großer Schwarm Schwäne daher. Auch sie wollten in den Süden ziehen und nur noch eine kleine Rast während der kommenden Nacht in diesem Wald verbringen. Der Wald erlaubte es ihnen. So hatte er etwas Gesellschaft und sein Klagen blieb nicht ungehört. Am nächsten Morgen, bevor die Schwäne aufbrachen, bedankte sich der Anführer der Schwäne für das Nachtquartier. "Vielleicht können wir ja auch etwas für dich tun. Hast du einen Wunsch", fragte der Schwan. "Ja", sagte der Wald, "aber den könnt ihr mir sicher nicht erfüllen." - "Warum nennst du nicht einfach deinen Wunsch? Dann werden wir weitersehen." Der Wald hatte nur den einen Wunsch: "Ich möchte nicht immer grün sein!" - "Gut", sagte der Anführer der Schwäne, "bis bald. Hab nochmals vielen Dank!"

Jetzt erhob sich der Schwan in die Lüfte und alle anderen folgten ihm. Der Wald sah die Schar gen Himmel fliegen. Er mußte seine Augen etwas zukneifen, denn die Herbstsonne blendete ihn. "Habe ja gewußt, daß mir keiner helfen kann", sprach der Wald zu sich selbst. Doch plötzlich geschah etwas Sonderbares. Es begann zu regnen und weil die Herbstsonne schien, stellte sich auch bald der Regenbogen ein. Der Wald erblickte ihn und wünschte sich nichts sehnlicher, als auch einmal so bunt zu sein. Während er den Regenbogen betrachtete, sah er, daß die Schwäne noch nicht in der Ferne verschwunden waren. Sie flogen direkt auf den Regenbogen zu.

Was dann geschah, war so wunderbar, daß man es nicht wirklich beschreiben kann. Die Schwäne bohrten mit ihren Schnäbeln Löcher in den Regenbogen, so daß die Farbe heraustropfte und sich wie der Regen über den ganzen Wald verteilte und ihn bunt färbte. Der Wald war so froh, daß er all seine Blätter, bevor sie bald abfallen würden, noch einmal so schön bunt zur Schau tragen konnte. Die Menschen, die sich schon in ihre Häuser zurückgezogen hatten und kaum noch Spaziergänge unternahmen, kamen wieder aus ihren Häusern hervor und durchwanderten den Wald mit freudigen Gesichtern.

Im Jahr darauf, als die Schwäne wieder auf der Durchreise waren, bedankte sich der Wald so viele Male, daß die Schwäne ihm gern wieder einen Wunsch erfüllten. Jeder kann sich wohl denken, welcher Wunsch das war. Seit damals fliegen die Schwäne nicht vorher gen Süden, bevor sie nicht an einem der Herbsttage Löcher in den Regenbogen gebohrt haben, wie bei einem Schweizer Käse.

29. Februar 2008

Gute Nacht