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GUTE-NACHT/2636: Ein Pfennig auf Reisen - Auf Beobachtungsposten (SB)


Ein Pfennig auf Reisen

Seinen geheimen Fleck auf dem Flur findet der kleine Pfennig ganz hervorragend. Von hier aus kann er die Kinder, die den ganzen Tag im Treppenhaus auf und ab laufen, besonders gut beobachten. Manchmal rufen sie ein ganz bestimmtes Wort, das der Pfennig früher noch nie gehört hat. Das Wort zu rufen, scheint die Kinder genauso zu erfreuen, wie das Treppengeländer herunter zu rutschten. Das ist natürlich strengstens verboten, weil es sehr gefährlich ist. Aber gerade das Verbotene lockt.

Der kleine Pfennig glaubt, daß dieses gerufenen Wort wahrscheinlich genauso verboten ist, wie das Rutschen über das Geländer. Den Erwachsenen läßt beides sicher einen Schauer über den Rücken laufen. Um so mehr bereitet es den Kindern Spaß. Manchmal sind sie extra laut, denn dann öffnet sich die rechte Wohnungstür im Parterre und ein alter Mann steckt schimpfend seinen Kopf heraus. Doch weil er nicht mehr so schnell laufen kann, bleibt sein Geschimpfe ohne Resultat. Die Kinder entfernen sich rasch vom Flur, kehren aber bald wieder zurück, wenn der alte Herr sich in seine Wohnung zurück gezogen hat.

Drei Jungen und zwei Mädchen wohnen hier mit im Haus und noch ein Baby, aber das rutscht höchstens auf dem Fußboden herum. Hier im Mietshaus, in dem sich der kleine Pfennig auf dem Flur einquartiert hat, leben nicht nur junge Menschen, Kinder und ihre Eltern. Es gibt auch viele ältere Personen. Die stöhnen, wenn sie mit ihren schweren Einkaufstaschen die Treppe hinaufsteigen müssen, um in ihre Wohnungen zu gelangen. Einen Aufzug gibt es in diesem Hause nicht.

Der kleine Pfennig fragt sich: "Soll ich vielleicht der alten Dame aus dem Stockwerk ganz oben vor die Füße fallen? Ihr so viel Glück bescheren, daß sie sich eine andere Wohnung leisten kann oder besser noch, daß sie jemanden bezahlen kann, der ihr immer die Taschen trägt? Doch die alte Frau ist stets unfreundlich, ja herzlos. Jedesmal raunzt sie die Kinder im Treppenhaus an, die ihr begegnen: "Macht Platz, seht ihr nicht, daß ich schwer zu tragen habe?" So oder ähnlich scheltet sie die Kinder aus. Nein, ihr will der kleine Pfennig kein Glück bringen. Da ist er schon eher auf der Seite der Kinder. Doch die scheinen sowieso schon glücklich zu sein. Sie lachen und toben den ganzen Tag. Nur ein Kind ist nicht so vergnügt. Erst gestern ist es hier im ersten Stock mit seiner Mutter neu eingezogen. Vielleicht liegt es einfach daran, daß sich das Mädchen hier noch nicht eingelebt hat. Sowas braucht seine Zeit. Der Pfennig wird das Mädchen im Auge behalten und noch ein paar Tage mit seiner Entscheidung warten, bis er sich irgendeinem Hausmitglied vor die Füße wirft. Bis dahin werden noch einige Tage und Nächte vergehen. Es gefällt dem kleinen Pfennig eben auf seinem Beobachtungsposten.


Erstveröffentlichung am 9. September 2003

23. Mai 2008

Gute Nacht