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GUTE-NACHT/2791: Beim ersten Frost tanzt der Clown (SB)


Gute Nacht Geschichten - Wilhelm Wunderlich


Im Licht des Sonnenscheins erstrahlt heute der Park. Es scheint ein freundlicher Herbsttag zu werden. Doch der Schein trügt. Noch liegt Rauhreif auf den Dächern der Häuser, und die Fensterscheiben der Autos sehen aus, als seien sie mit Zuckerguß überzogen. Das wird kalte Finger geben. Aber die Wiese und die Bäume stehen in ihrem Herbstkleid da. Kein Rauhreif hat sich an ihnen festgesetzt oder ist schon wieder verschwunden. Die Sonne hat den Stamm und die Zweige des Holunderbusches vollständig getrocknet und auch die Bänke stehen bereit für den kommenden Besucher, der sich ein wenig ausruhen möchte. Doch vom Ausruhen hält der Mann in der Latzhose mit oranggelber Plastikweste nichts.

Es ist Wilhelm Wunderlich, der in der Latzhose steckt. Von Beruf ist er Straßenfeger, Parkwächter, Gemeindearbeiter, ja der Mann für alles. Er nimmt seinen Besen von der Schubkarre, beginnt die Blätter vom Gehsteig zu fegen und trällert dabei ein Lied vor sich hin: "Weiß sind schon die Dächer, gelb noch immer die Blätter, ja, der Winter beginnt." Wilhelm hat das Lied "Bunt sind schon die Wälder, gelb die Stoppelfelder" einfach etwas umgedichtet. Es bereitet ihm Spaß, bei der Arbeit zu singen und mit dem Besen zu tanzen. Manchmal - wenn keiner zuschaut und auch bestimmt kein Mensch in der Nähe ist - turnt Wilhelm auf einer der Bänke herum. Die grüngestrichene Bank ist dann seine Bühne. Ach, wie gerne wäre Wilhelm Wunderlich zum Zirkus gegangen und Clown geworden. Seitdem er als kleiner Junge einmal im Zirkus zugeschaut und sich dann tagelang dort herumgetrieben und mitgeholfen hatte - solange der Zirkus in der Stadt war.

Seit diesen Tagen ist sein innigster Wunsch, sein Herzenswunsch, Clown zu werden. Das Licht des Sonnenscheins läßt Wilhelms Clownsherz tanzen. Er springt auf die Bank und schneidet Grimassen. Er ist wirklich komisch. Nun dreht er sich im Kreis. Vorsicht! Die Bank kippt! Doch war das nur ein Trick? Clowns geraten oft in gefährliche Situationen. Dabei sehen sie so lustig aus und die Zuschauer lachen und erkennen keine Gefahr. Noch einmal dreht sich Wilhelm und versucht seinen Trick. Dann springt er von der Bank und geht in die Hocke. Die Hände in die Hüften stemmend, streckt er ein Bein mit einem Hüpfer vor und zieht es hüpfend wieder zurück, dann das Gleiche mit dem anderen Bein. Einige Male geht das so hin und her bis Wilhelm ganz außer Puste ist. Er steht auf und macht eine tiefe Verbeugung. Bestimmt könnte Wilhelm eine Menge trauriger Herzen zum Lachen bringen. Doch Wilhelm ist schüchtern. Deshalb traut er sich auch nicht vor Publikum aufzutreten. Aber eben gab es damit keine Probleme. Auch wenn die Sonne geradezu zu einem Spaziergang einläd, schreckt wohl die Kälte die Parkbesucher ab.

Wilhelm Wunderlich macht die Kälte nichts aus. Gestern schon merkte er bei seiner Arbeit, wie sie langsam über das Land kroch. Seine Hände waren zum ersten Mal in diesem Herbst richtig kalt geworden. Als er zum Frühstücken in den im Park gelegenen Schuppen ging, fühlte er das schmerzende Kribbeln in den Fingern, als sich diese wieder aufwärmten. Heute sollten seine Finger nicht frieren. Handschuhe sind Wilhelms Begleiter.

Bis zum Abend fegt Wilhelm alle Wege frei. Die Blätter schiebt er unter die Bäume am Wegesrand oder er fährt sie mit seiner Schubkarre in den Park und kippt sie dort um die Bäume herum. Hier schützen sie die Wurzeln der Bäume und werden mit der Zeit wieder zu guter Erde. So ist der Kreislauf der Natur. Wilhelm Wunderlich liebt die Natur. Deshalb ist er auch nicht ganz so traurig, kein Clown geworden zu sein. Er mag sich gern um die Pflanzen und Tiere im Park kümmern und geht oft ganz eigene Wege dabei. Auf diesen Wegen könnt ihr Wilhelm Wunderlich bestimmt noch des öfteren begleiten.

24. November 2008

Gute Nacht