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GUTE-NACHT/2980: Hinter der Mauer - Auf einmal allein (SB)


Gute Nacht Geschichten


In Omas Garten gibt es viel zu entdecken. Vor allem solche Dinge, die eßbar sind, interessieren die Kinder. Es gibt noch Erdbeeren, und die roten Johannisbeeren werden gerade reif. Die Stachelbeeren schmecken leider sauer. Petersilie und Schnittlauch gibt es wie auch Radieschen jede Menge. Oma hat Salat in ihrem Grabebeet und den bereitet sie jeden Tag frisch zu. Anselm und Solveig mögen Omas Salat. Für Solveig bereitet Oma ihn mit Saurer Sahne, für Anselm nur mit Essig und Öl. Die Geschmäcker der Kinder sind eben verschieden.

Oma ist gerade dabei die Beete und Rabatten von Unkraut zu befreien. "Nicht, daß das Unkraut keine guten Eigenschaften hätte. Nein, auch mit diesen Kräutern läßt sich so einiges anfangen. Aber wenn ich sie zwischen den Blumen und den Grabepflanzen belasse, werden sie sich so schnell ausbreiten, daß meine selbst angebauten Pflänzchen nicht mehr wachsen können", wird Solveig erklärt, die sich für Omas Jäten interessiert. Ein bißchen hilft Solveig ihrer Oma beim Auszupfen. "Am einfachsten ist es, Unkraut herauszurupfen, wenn es geregnet hat. Dann ist die Erde feucht und die Pflanzen lassen sich besser herausziehen. Außerdem nimmst du sie ganz unten, wo sie aus der Erde kommen und nicht weiter oben. Wenn du das ganze Grasbüschel oder den Löwenzahn umfaßt, dann kannst du ihn leicht herausholen", erklärt Oma der Enkelin, die so etwas bisher noch nie gemacht hat.

Bald wird es Zeit für Oma, das Abendessen zu kochen. Die Kinder wollen noch im Garten bleiben. Anselm hat im Grunde nur darauf gewartet, daß Oma ins Haus zurück geht. Er möchte noch einmal durch das Loch zwischen Mauer und Hecke auf den Friedhof kriechen. Solveig ermahnt Anselm. Schließlich haben die beiden Oma versprochen, nicht allein auf den Friedhof zu gehen. "Wir gehen doch nicht hinter die großen Grabsteine. Das wissen wir ja jetzt, daß sie umfallen können", gibt Anselm zurück, "ich gehe nur ein kleines Stück hinter die Mauer und schaue mir von weitem das Friedhofsgeländes an." Damit ist Solveig einverstanden. Gleich folgt sie ihrem Bruder durch das Loch hinter der großen blauen Tonne.

Die Hecke wächst auf einem kleinen Erdhügel. An dessen Rand setzen sich die beiden Kinder und blicken über den Friedhof. Weit hinten scheint eine Frau gerade Blumen zu gießen. Die grüne Gießkanne leuchtet herüber. In der Nähe der Kinder zeigt sich niemand. Genau vor den Füßen der Kinder beginnen die ersten Gräber. Anselm sagt: "Siehst du, diese Gräber haben nicht einmal Grabsteine. Bestimmt sind sie erst frisch gegraben." Dabei macht er eine Grimasse und will seine Schwester erschrecken: "Huhu, die Toten spuken sicher noch hier herum." - "Laß das!", schimpft Solveig, "außerdem können die Gräber nicht frisch sein. Sieh mal, wie alt die Steine um das Grab herum aussehen und wieviel Unkraut darauf wächst."

Solveig möchte wissen, warum auf diesen Gräbern keine Grabsteine liegen und warum hier keine Blumen wachsen oder aufgestellt sind wie bei dem Grab von Uroma. "Die Toten haben vielleicht niemand, der sich um sie kümmert", erklärt Anselm und fährt fort, "oder sie haben kein Geld für Grabsteine." - "Sind die Steine denn sehr teuer?", möchte Solveig wissen. "Ich glaube schon, besonders wenn viele Buchstaben auf den Steinen reingehauen sind", antwortet Anselm. "Wenn sie kein Geld für einen Stein haben, könnten sie doch Blumen auf das Grab stellen. Die sind doch nicht teuer und wild gibt es sie auch, wie drüben auf den Feldern, wo wir mit Oma spazieren waren", findet Solveig, "Oma würde auf jeden Fall das Unkraut herausziehen, wie sie es bei ihren Beeten auch macht."

Solveig rutscht von dem kleinen Erdhaufen herunter und beginnt an dem Grab das Unkraut heraus zu ziehen. "Was machst du denn da?", schimpft Anselm. "Schau mal", sagt Solveig, "jetzt kommen richtige kleine Blumen zum Vorschein. Hilf mir mal. Das Beet sieht dann bestimmt ganz schön aus." Aber Anselm will kein Unkraut aus dem Beet zupfen. Ihn interessiert viel mehr, was es hier noch so alles zu entdecken gibt. Er überlegt, wenn die Totengräber Löcher in die Erde graben, ob sie dann vielleicht manchmal sogar auf Schätze stoßen oder auch nur auf Scherben aus alter Zeit. Er würde gern einmal so einen Totengräber befragen. Etwas weiter vorn entdeckt er ein offenes Grab. Da könnte er doch mal kurz hineinschauen.

Solveig ist so mit dem Zupfen des Unkrauts beschäftigt, daß sie nicht mitbekommt, daß Anselm sich davon geschlichen hat. Vorsichtig schaut er hinunter in das offene Grab. Außer einem Loch und aufgehäufter Erde ist hier nichts zu entdecken. Keine Schätze und auch keine Tonscherben. Aber hätten sie existiert, hätte der Totengräber sie sicher nicht in dem Erdloch liegen gelassen. Anselm hockt hinter dem Grab. Von hier aus kann er besser in das Erdloch hineinschauen. Von hier aus kann er seine Schwester nicht mehr erblicken.

Aber auch Solveig kann ihren Bruder nicht mehr sehen und ist richtig erschrocken. Wo ist er so schnell hin? Ist er zurückgekrochen und hat sie hier auf dem Friedhof allein gelassen? Oder hat er sich versteckt und will sie gleich erschrecken? Auf einem Friedhof allein, selbst wenn es am Tag ist, bereitet Solveig doch Angst. Sie läßt von dem Grab ab, stellt sich auf und blickt sich nach ihrem Bruder um. Noch immer sieht sie ihn nicht. Denn inzwischen ist Anselm wirklich auf den Gedanken gekommen, seiner Schwester einen Schrecken einzujagen.

Solveig läuft ein bißchen hin und her, entfernt sich aber nicht weit von der Hecke. Als sie ihren Bruder immer noch nicht entdeckt, beginnt sie ihn zu rufen. Zuerst gibt sich Anselm nicht zu erkennen. Plötzlich aber fällt ihm ein, daß auch Oma Solveigs ängstliches Rufen hören kann, schließlich steht Solveig noch immer dicht bei der Mauer und der Hecke. Da taucht er hinter dem Grab wieder hervor, zuerst mit den Händen, als käme er gerade daraus hervor geklettert. Solveig stößt noch einen schrecklichen Schrei aus. Dann aber sieht sie ihren Bruder und ist nur noch ärgerlich. Warum will Anselm sie immer nur erschrecken?

Solveigs Rufen und ihr Schrei sind nicht ungehört geblieben. Denn Oma ist gerade in den Garten gekommen, um die Kinder zum Abendessen zu holen. Sofort erkennt sie, woher Solveigs Rufen erschallt. Sie läuft zur Mauer und schaut hinüber. "Kind, was machst du da? Komm schnell wieder zurück. Wie bist du denn darüber gekommen?" Solveig kriecht durch das Loch zurück in Omas Garten. Während Oma die Kleine in den Arm nimmt, kehrt auch Anselm zur Mauer zurück und kriecht ängstlich durch den Spalt. Er hat keine Angst vor den Geistern, die er Solveig wissen machen wollte. Seine Angst ist viel greifbarer. Was wird Oma wohl zu ihm sagen, wenn sie ihn in die Finger bekommt?

14. Juli 2009

Gute Nacht