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GUTE-NACHT/3223: Der kleine Nachtwächter und der Wasserläufer (SB)


Gute Nacht Geschichten

Der kleine Nachtwächter durchstreift die Stadt. Es ist noch hell am Abend. So ist seine Laterne nicht angezündet und die Taschenlampe noch unangeknipst. Die meisten Bewohner haben sich allerdings bereits in ihre Häuser zurückgezogen. Doch da es warm ist, stehen die Fenster fast überall weit offen.

Da alles ruhig scheint, steigt der kleine Nachtwächter die Treppe zur Stadtmauer hinauf. Dabei tanzt ein Schwarm Mücken um seine Nasenspitze, als hätten sie es sich zur Aufgabe gemacht, den kleinen Nachtwächter zu begleiten. Auch oben auf der Stadtmauer folgen sie ihm, während er seine Runde zieht und dabei in die Ferne blickt. Alles scheint ruhig.

Nach dem ersten Rundgang auf der Mauer zieht sich der kleine Nachtwächter auf eine Tonne zurück. Da diese in einem dunklen Winkel steht, folgen die Mücken ihm hierher nicht. Sie fliegen über die Mauer und tummeln sich im letzten Licht der untergehenden Sonne. Hier über dem Graben, der die Stadt umfließt, fühlen sie sich wohl. Nachdem es noch dunkler geworden ist, ist der Mückenschwarm verschwunden.

"Hoffentlich ärgern sie jetzt nicht den Dichter!", denkt der kleine Nachtwächter. Er stellt sich vor, wie das Licht durch das offenstehende Fenster die Mücken zum Haus des Dichters geradezu anlockt.

Endlich traut sich der kleine Nachtwächter wieder von dem Faß herunter. Er nimmt die Laterne vom Boden und stellt sie zum Anzünden auf die Brüstung der Mauer. Die Taschenlampe legt er gleich daneben. "Autsch!", ist da ein Stimmchen zu vernehmen, "können Sie nicht aufpassen?"

Verstört schaut sich der kleine Nachtwächter um, kann aber niemanden entdecken. "Wer da?", fragt er. "Na, ich bin da", kommt leise die Antwort. Sie haben mich ja gerade fast erschlagen?" Da blickt der kleine Nachtwächter vor sich auf die Mauer. Noch immer erkennt er nichts. Erst als er die Taschenlampe in die Hand nimmt und diese anknipst, entdeckt er das kleine, zitternde Wesen auf der Mauer.

"Zuerst erschlagen Sie mich fast mit diesem Ding und dann streuen sie mir auch noch Licht in die Augen, wie am hellsten Tag. Wissen Sie denn nicht, daß sich so ein Verhalten nicht gehört?" Der kleine Nachtwächter knipst die Taschenlampe schnell wieder aus. Aber da er den Winzling auf der Mauer nun gar nicht mehr sehen kann, zündet er seine Laterne an, die weniger Licht abgibt und es dem kleinen Wesen auch nicht direkt in die Augen leuchten läßt.

Nun, den unscheinbaren Kerl wieder in Augenschein genommen, fragt der kleine Nachtwächter: "Wer sind sie überhaupt?" - "Mein Name ist Gerris Lacustris. Und ich bin ein Wasserläufer", kommt prompt die Antwort. Da wundert sich der kleine Nachtwächter: "Aber, wenn Sie ein Wasserläufer sind, was treiben Sie dann hier oben auf der Mauer?"

"Treiben tue ich schon einmal gar nicht. Aber wenn sie ansonsten auf ihre Frage eine Antwort wünschen, so soll es sein. Ich lebe dort unten auf der Oberfläche des Wassers, das die Burg umfließt. Genauer gesagt laufe ich auf den schwimmenden Blättern genausogut wie auf der Wasseroberfläche selbst."

Der kleine Nachtwächter wundert sich noch immer: "Wenn Sie dort unten leben, wie sind sie hier auf die Mauer geraten?" - "Geraten!", wiederholt der Wasserläufer gereizt, "ich bin selbst die Mauer hinaufgeklettert. Immer an der Wand lang, immer an der Wand lang. Bloß nicht nach unten schauen." Der kleine Nachtwächter kann nicht verstehen, warum Gerris Lacustris diese Anstrengungen auf sich genommen hat und stellt Fragen, auf die der kleine Fremde antwortet.

"Am Tag wenn ich mich - vor der Sonne geschützt - ein bißchen ausruhe, tummeln sich oft große und kleine Menschen im Graben. Wenn es gar zu heiß wird, ruhen auch sie sich am Ufer aus. Da habe ich vernommen, wie die Menschen etwas von sich gegeben haben, in ganz anderen Tönen als wie sie sich sonst miteinander verständigen. Dabei habe ich folgendes vernommen: `Auf der Mauer, auf der Lauer liegt die kleine Wanze. Seht einmal die Wanze an, wie wie Wanze tanzen kann. Auf der Mauer, auf der Lauer liegt die kleine Wanze.'"

Dieses Lied ist dem kleinen Nachtwächter nicht unbekannt und er summt es vor sich hin. "Ihr kennt die Töne?", fragt der Wasserläufer. "Ja", antwortet der kleine Nachtwächter und singt es gleich noch einmal. Danach aber fragt er: "Was hat dieses Lied mit euch zu tun?" Da entgegnet der Wasserläufer: "Ja, wißt ihr denn nicht, daß wir Wasserläufer Wanzen sind?"

Der kleine Nachtwächter betrachtet das kleine, dunkelbraune Wesen mit den vier langen Beinen, das ihn ein bißchen an eine Spinne erinnert. "Wanzen habe ich mir stets ganz anders vorgestellt: Mehr wie pralle Käfer und ein bißchen ekelhaft häßlich." Den Rest des Satzes hat der kleine Nachtwächter nur geflüster. Aber Gerris Lacustris hat es dennoch gehört.

"Nun, es gibt viele Arten von Wanzen, Tausende und aber Tausende auf der ganzen Welt. Doch nur eine geringe Zahl von ihnen sind in dieser Region vorstellig. Die meisten sehen wirklich wie Käfer aus. Aber es gibt eben auch ganz andersartige wie beispielsweise unsereins oder die Teichläufer. Manche sind gar nicht als Tiere wahrzunehmen. Beispielsweise die Stabwanze. Sie erinnert an einen kleinen Ast. Ich habe mich einstmals auf eine Stabwanze draufgesetzt. Diese war nicht sehr begeistert davon."

Einen kurzen Augenblick überlegt der kleine Nachtwächter, dann fragt er: "Ich möchte ja nicht neugierig erscheinen, aber was um alles in der Welt wollten sie denn hier oben auf der Mauer?" Gerris Lacustris stöhnt: "Da ich doch eine Wanze bin, wollte ich so gern auch einmal auf der Mauer, auf der Lauer liegen und tanzen. Liegt das nicht auf ihrer Hand?" - "Nun, wo sie es sagen, leuchtet es mir ein." Nach einer Weile des Schweigens fragt der kleine Nachtwächter: "Wie soll es nun weitergehen?"

"Oh, ich habe solche Angst. Ich habe nur ein einziges Mal von der Mauer nach unten geblickt, und jetzt zittere ich am ganzen Körper. Wie soll ich es bloß schaffen wieder auf die Wasseroberfläche zu gelangen? Noch ein Blick über die Mauer und ich falle kopfüber hinunter."

Da setzt sich der kleine Nachtwächter in Bewegung und geht vor der Mauer ein Stückchen auf und ab. Dann plötzlich hat er eine Idee. Er nimmt seinen Strohhut vom Kopf und legt ihn auf die Mauer. "Bitte, Herr Wasserläufer, klettern sie doch einfach auf meinen Strohhut und ich bringe sie wieder hinunter zum Fluß. Das Tor ist zwar in der Nacht verschlossen. Doch für ihre Größe findet sich sicher noch irgendwo ein Durchgang." - "Da bin ich Ihnen aber sehr verbunden", sagt der Wasserläufer und klettert auf den Strohhut. "Gut festhalten!", rät der kleine Nachtwächter. Dann steigt er die Treppe hinab und schreitet weiter zum Tor. Sogleich findet er eine Lücke im Tor, durch die der Wasserläufer zurück zum Graben gelangen kann.

Als der Wasserläufer sich gerade fortmachen will, ruft der kleine Nachtwächter: "Was ist mit dem Tanz?" - "Das ist sehr schade, daß mir da oben so schwindelig war", stöhnt Gerris Lacustris. "Aber das macht doch nichts", betont der kleine Nachtwächter und setzt hinzu, "dennoch sollte der Besuch auf der Mauer nicht umsonst gewesen sein."

Der kleine Nachtwächter blickt sich um. Da entdeckt er einen großen, sehr flachen Kieselstein. "Hier herauf!", ruft er. Der Wasserläufer stellt keine Fragen und klettert nach oben. Nachdem er die hohe Mauer errungen hat, bereitet es ihm, diesen Stein zu erklimmen, keinerlei Schwierigkeiten.

"Dann mal los", ruft der kleine Nachtwächter, klatscht in die Hände und summt das Lied. Anschließend singt er es noch einmal. Dazu wiegt sich der Wasserläufer im Takt und ganz zum Schluß dreht er sich sogar im Kreis. "Gleich nochmal!", fordert der Wasserläufer den kleinen Nachtwächter zum Singen auf.

Danach klettert der Wasserläufer von dem Kieselstein herunter, winkt dem kleinen Nachtwächter mit seinen Fühlern noch einmal zu und begibt sich auf den Weg zum Wassergraben. "Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder!", ruft der kleine Nachtwächter ihm noch nach. Doch von Gerris Lacustris ist nichts mehr zu sehen oder zu hören.


29. Juni 2010