Schattenblick →INFOPOOL →KINDERBLICK → GESCHICHTEN

GUTE-NACHT/3324: Der einsame Pantoffel am letzen Tag vor Heilig Abend (SB)


Gute Nacht Geschichten vom einsamen Pantoffel


In einem Mietshaus ist es nun einmal so, daß sich immer alle nach der Hausordnung richten sollen. In dieser steht geschrieben, wann die Flure gereinigt werden müssen. Auch wenn Oma Erna der Fuß noch weh tut, sie ist diese Woche mit der Treppe an der Reihe. Natürlich fragt sie sich, ob sie mit einem Nachbarn tauschen kann. Doch wer will sich so kurz vor Weihnachten noch mehr Arbeit aufhalsen? Vielleicht Frau Becker? Aber der alten Dame geht es selber nicht gut. Sie klagt Oma Erna ihr Leid, als diese bei ihr klingelt, daß sie Weihnachten ganz alleine feiern wird, weil ihre Kinder alle keine Zeit haben. Oma Erna überlegt, ob sie sich vielleicht mit Frau Becker über die Weihnachtstage zusammentun soll, schließlich ist auch sie selber die meiste Zeit allein. Aber darüber wird sie später noch nachdenken, denn jetzt muß sie doch erst einmal den Flur selber wischen.

Oma Erna ist gerade an der untersten Stufe angelangt, als ihr Sohn und Tochter Annette gemeinsam vorbeischauen. "Geht schon mal hoch!", begrüßt Oma Erna sie, "ich komme gleich."

"Siehst du, sie schafft das alles gar nicht mehr!", sagt Annette zu ihrem Bruder, als sie allein in die Wohnung gehen. Mops Bello kommt gleich um die Ecke. Zuerst will er knurren, weil Fremde die Wohnung betreten. Doch dann erkennt er Annette, die in den letzten Tagen öfter mit ihm spazieren war, und zeigt seine Freude, indem er ihr seinen Lieblingspantoffel vor die Füße legt. "Du denkst wohl, wir unternehmen jetzt wieder was?", sagt Annette und streichelt Bello.

"Ich weiß auch nicht", sagt der Bruder, "aber wir müssen uns jedenfalls etwas überlegen. Was wird, wenn unsere Mutter nicht mehr allein zurechtkommt? Wir müssen auch jetzt schon öfter kontrollieren, wie es ihr geht." - "Das stimmt", sagt Annette, "doch seit ich in den letzten Tagen mehrfach hier war, habe ich bemerkt, daß ich einiges ganz falsch eingeschätzt habe. Es tut mir leid, daß ich dachte, sie wäre ein bißchen verrückt, weil sie mit einem leeren Sessel spricht und eine lebensgroße Puppe im Bett versteckt hält. In den letzten Tagen habe ich von all dem nichts mehr gesehen und ich weiß gar nicht, warum ich alles je so extrem empfunden habe." - "Trotzdem", beginnt der Bruder wieder, "wir müssen Vorsoge treffen und vor allem müssen wir mit ihr darüber sprechen."

Den letzten Satz hat Oma Erna gehört. "Worüber wollt ihr mit mir sprechen", fragt sie. Als die beiden aber nur herumdrucksen, meint Oma Erna das Rätsel lösen zu müssen: "Ich hab es mir schon gedacht, daß ihr an Weihnachten nicht zum Essen kommen könnt, nicht an Heilig Abend, nicht am ersten und auch nicht am zweiten Feiertag. Aber das ist ja auch verständlich. Ihr habt ja selber Familien und Freunde."

"Nein, nein, so ist das nicht", sagt Annette. "Wie ist es denn dann?", fragt Oma Erna. Die beiden Geschwister schauen sich an. "Wir haben beschlossen, den Heiligen Abend gemeinsam mit dir zu verbringen", sagt der Sohn. "Aber ich habe euch doch erst am zweiten Weihnachtstag entsprechend unserer Absprache erwartet. Nun bin ich gar nicht richtig eingerichtet darauf." - "Das brauchst du auch nicht", sagt Annette, "wir, also deine drei Kinder und die Enkel und Freunde, wollen alle drei Tage zusammen verbringen. Am Heiligen Abend sind wir bei deinem Sohn, am ersten Feiertag bei mir und am zweiten Feiertag bei dir. Unsere große Schwester kommt zwar mal wieder gut davon, doch sie überfallen wir dafür alle an Silvester. Denn auch das neue Jahr wollen wir gemeinsam mit dir beginnen."

Oma Erna kann es gar nicht glauben. Wie kam so ein Gesinnungswandel bei ihren Kindern zustande? Hatten sie vielleicht alle drei die moderne Fassung der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens, die im Fernsehen gerade lief, gesehen, bei der ein hartherziger Mann von dem Geist der Weihnacht heimgesucht und wieder auf den rechten Weg, den Weg des Herzens, geführt wurde? "Du sagst ja gar nichts dazu?", ist Annette enttäuscht. "Ich bin einfach sprachlos. Ich hätte nicht gedacht, daß dieses Weihnachtsfest so schön werden könnte. Ich bin natürlich einverstanden."

An diesem Abend ist Oma Erna wirklich glücklich. Vor Freude hat sie auch gleich noch für den zweiten Weihnachtsfeiertag Frau Becker mit eingeladen. Die hat zugesagt und freut sich nun ebenfalls an diesem Tag nicht allein zu sein. Oma Erna hat sie gebeten, ihr ein bißchen zu helfen. Damit will sie auch gleich schon am Heilig Abend anfangen. Denn bis Oma Erna von einem ihrer Kinder abgeholt wird, wollen die beiden älteren Damen gemeinsam Oma Ernas Weihnachtsbaum schmücken und alles, soweit es geht, schon vorbereiten. Mit dieser Eröffnung hat Oma Erna der alten Dame eine riesige Freude bereitet.

Aber was die Nachbarin noch mehr freute, Oma Erna bat sie am Heiligen Abend auf Bello aufzupassen, und wenn Oma Erna von den Feierlichkeiten bei ihren Kindern zurück sei, wolle sie mit der Nachbarin und Bello noch gemeinsam feiern und den am Nachmittag geschmückten Weihnachtsbaum anzünden. Daß so Omas heimlicher Mitbewohner auch ein Fest bekommt, davon sagte sie zu der Nachbarin nichts.

Erst als sie schlafen geht, blickt sie noch einmal zu dem Sessel im Wohnzimmer und sagt: "Ich glaube, das Fest wird auch dir gefallen." Und zu Bello gewandt: "Komm, wir lassen Opa schlafen, dann kann er ein bißchen von früher träumen."

© 2010 by Schattenblick


Advent 2010