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GUTE-NACHT/3410: Der kleine Nachtwächter beim Gautschen (SB)


Gute Nacht Geschichten vom kleinen Nachtwächter


Der kleine Nachtwächter und Rebell ziehen durch die Straßen der Stadt und streben dem Marktplatz zu. Schon von weitem hören sie lautstarkes Gelächter und Gejohle. "Was mag da los sein?", fragen sich die beiden und gehen gleich schneller voran.

Als sie um die Ecke biegen und den Marktplatz nun vor sich liegen sehen, entdecken sie die vielen Menschen am Stadtbrunnen. "Das ist ungewöhnlich zu dieser Stunde", stellt der kleine Nachtwächter fest. Rebell will schon losstürmen, aber sein Herrchen hält ihn zurück. "Erst einmal, wollen wir sehen, warum dort drüben so gelärmt wird."

Den Schritt etwas gezügelt, strebt der kleine Nachtwächter dennoch auf den Brunnen zu. Eine Menschentraube drängt sich um den Brunnen herum, sodaß der kleine Nachtwächter nicht erkennt, was da vor sich geht. Wieder Gelächter und auch Wassergeplätscher. "Ob da einer baden gegangen ist? Vielleicht sogar unfreiwillig? Und die anderen schauen nur zu und helfen nicht?", graust es den kleinen Nachtwächter.

Da spaltet sich die Traube um den Brunnen und drei junge Männer sind im Wasser zu entdecken. Einer von ihnen wird von einem anderen, der vor dem Brunnen steht, untergetaucht, wieder hochgezogen und erneut ins Wasser gedrückt.

Das geht dem kleinen Nachtwächter zu weit: "Wieso schauen alle bloß zu und keiner hilft?" Er beschleunigt seine Schritte. Jetzt sieht er, wie einer der Jungen aus dem Brunnen gezogen, auf ein Brett gezerrt und kräftig durchgewalgt wird. Es sieht so aus, als ob er ausgepreßt wird.

"Was ist denn hier los?", schimpft der kleine Nachtwächter laut, und Rebell unterstützt ihn mit seinem Bellen. Da beginnen die Männer um den Brunnen herum wieder kräftig zu lachen. Dieses Mal lacht sogar der Durchgewalgte auf seinem Brett und die beiden triefnassen Jungen im Brunnen mit.

Der kleine Nachtwächter kann das gar nicht verstehen. Da zeigt ihm einer der älteren, umherstehenden Männer ein triefnasses Stück Papier. Er preßt es aus und sagt: "Der Junge wird erst ein richtiger Drucker werden, wenn er sich auswalgen läßt wie das Papier hier. Das ist das Material, ja der Werkstoff mit dem wir Drucker arbeiten." Nun fügt ein anderer hinzu: "Für unsere Buchdrucker-Zunft ist heute ein Ehrentag. Da werden unsere Lehrlinge freigesprochen. Hier in diesem Städtchen ist es noch immer der Brauch wie vor fast zweihundert Jahren, daß die Lehrlinge, wenn sie denn Gesellen werden wollen, über sich das Gautschen ergehen lassen müssen. Wie das Papier werden sie aus der Bütte geschöpft und auf dem Gautschbrett gut ausgepreßt." - "Sie werden getauft", ruft ein anderer dazwischen und schon geht die Tortour weiter.

Der kleine Nachtwächter schüttelt den Kopf und wendet sich zum Gehen, da die drei Jungen seiner Hilfe nicht bedürfen. "Willst du nicht mit uns feiern, nachdem wir unseren Gautschbrief erhalten haben?", ruft der Junge vom Tisch herunter. Der kleine Nachtwächter winkt ab, ruft Rebell, der sich mittlerweile einen Schluck Wasser aus dem Brunnen gegönnt hat und geht weiter. "Was für barbarische Sitten", denkt er bei sich.

zum 24. Juni 2011

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