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GUTE-NACHT/3567: Eine außergewöhnliche Bande - Teil 42 (SB)


Irgendwann gibt Erna es auf, nach ihren Badelatschen zu suchen. Wie konnte es nur geschehen, daß auch sie noch ihre letzten Schuhe verloren hatte. Eigentlich ja nicht verloren. Schließlich hatte sie die Latschen ausgezogen und genau neben sich gestellt. Irgendjemand hatte sie doch sicher weggenommen. Zuerst denkt Erna an die drei Jungen, die ihr und den drei Kumpanen auch schon die anderen Schuhe weggenommen hatten. Es ist schon unheimlich, von anderen umgeben zu sein, die einem nichts Gutes wollen und man sie dann aber nicht sehen kann. Das denken wohl auch Ernas andere drei Weggefährten. Zuerst helfen sie Erna beim Suchen nach den Badelatschen. Hugo sucht insgeheim nach den kleinen Turnschuhen. Dann aber scheint die Suche nicht von Erfolg gekrönt und Willi meint, sie sollten lieber aufbrechen, bevor noch andere Dinge verschwinden.

Da überlegt Erna zum ersten Mal, ob es nicht vielleicht einer ihrer Weggefährten gewesen sein könnte, der die Schuhe versteckt habe. Vielleicht aus Boshaftigkeit, damit Erna gezwungen ist, genauso barfuß zu laufen wie die anderen.

Aber wer sollte soetwas tun, so neidisch auf Ernas fast kaputte Badelatschen sein? Erna überlegt. Der stille Hugo kam dafür sicher nicht in Frage. Paule war zwar manchmal ganz schön sauer. Aber er zeigte es immer gleich und sagte den anderen auch seine Meinung. Blieb eigentlich nur noch Willi übrig. Er konnte manchmal schon ganz schön gemein sein. Aber so hinterhältig hätte Erna ihn doch nicht eingeschätzt. Besonders wo sie es gewesen war, die ihre goldenen Schuhe gegen Herrenschuhe für Willi im Second-Hand-Laden eingetauscht hatte. Hatte er das etwa vergessen? Vorsichtshalber beschloß Erna, Willi ein bißchen mehr im Auge zu behalten.

Hugo ist der letzte, der noch mit Erna zusammen nach den Badelatschen sucht. Das denkt Erna zumindest und findet es sehr kameradschaftlich von ihm. Sie ahnt ja nicht, daß auch Hugo ein paar Schuhe vermißt, die kleinen Turnschuhe. Sie erinnern ihn an eine bessere Zeit in einer scheinbar gerechteren Welt. Doch diese Zeit liegt lange zurück. Doch wenigstens kann er sich an seine unbeschwerten Kindertage zurückerinnern, in denen seine Eltern immer für ihn da waren. Damals hatten sie viel Spaß miteinander und er war der erste aus seiner Klasse gewesen, der von seinen Eltern ganz tolle Turnschuhe aus Leder bekam, nicht diese weichen Dinger aus Stoff. Dann aber war die Zeit gekommen, in der das Geschäft seines Vaters schlechter lief, er keine Einnahmen mehr verzeichnen konnte und die Steuer auch den letzten Rest auffraß. Das schöne Haus, das schon den Großeltern gehörte, wurde ihnen zwangsversteigert und für Hugos Vater brach seine ganze Welt zusammen. Das war ein Schlag von dem er sich nicht wieder erholte. Als dann auch noch Hugos Mutter bei einem Unfall starb, war der endlose Abstieg auf die Straße vorprogrammiert. Sein Vater hatte seine Mutter so geliebt, daß er nicht fähig war, ohne sie weiterzumachen. So tingelte Hugo mit seinem Vater von einem Ort zum anderen, bis die Polizei die beiden aufgriff und Hugo in ein Waisenhaus steckte, weil er doch der Schulpflicht unterlag. So hatte Hugo auch noch seinen Vater verloren. Als er dann etwas älter war, zog es ihn wieder auf die Straße. Vielleicht konnte er seinen Vater wiederfinden.

"Hugo, komm! Wir wollen los!", reißt Willi Hugo aus seinen Gedanken. Der steht gerade nicht weit von dem Fleck entfernt, an dem die beiden Schuhpaare sich verstecken. Hugo dreht sich um und wendet sich zum Gehen. Plötzlich aber nimmt er einen farbigen Streifen im Augenwinkel war, der ihm zuvor nicht aufgefallen ist. Hugo dreht sich zurück und teilt das hohe Gras mit seinen Händen. Da sieht er fest aneinander gedrängt die Badelatschen und die kleinen Turnschuhe liegen. Hugo drängt sich ein Bild aus seinen Kindertagen auf, das er schon längst vergessen zu haben schien, das aber immer noch in ihm schlummerte. Jeden Abend, wenn er zu Bett ging, stellte seine Mutter seine Turnschuhe vor sein Bett und ihre eigenen Schuhe stellte sie rechts und links je einen dicht daneben. "Damit die kleinen keine Angst haben, beschützen meine Schuhe sie. Schließlich kannst du ja nicht auf sie aufpassen, wenn du schläfst." Hugo freute sich dann immer, war ihm doch so, daß auch er beschützt wurde.

"Nun komm endlich!" ruft jetzt Willi noch einmal. Zuerst bückt sich Hugo. Doch dann hält er in seiner Bewegung inne. "Ihr habt es sicher so gewollt", denkt Hugo und ist sich in diesem Moment sicher, daß Schuhe nicht einfach tote, seelenlose Dinge sind. "Macht es gut!" Damit verabschiedet sich Hugo von Mutter Badelatschen und ihren Kindern, den kleinen Turnschuhen."

"Gute Nacht."


zum 12. April 2012