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KALENDERGESCHICHTEN/006: 06-2011   So ein merkwürdiges Gefühl (SB)

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So ein merkwürdiges Gefühl


Wilma spazierte an einem schönen sonnigen Nachmittag die Feldwege entlang und grübelte über dieses und jenes nach. Ihr war wieder einmal unendlich langweilig. Eigentlich konnte sie sich über nichts beklagen. Alles was sie brauchte, bekam sie, musste nicht Hunger noch Durst leiden, konnte fast überall hinlaufen.

Anfangs, als sie auf dem Hof des Bauern Fritz ankam, war das ganz anders gewesen. Wilma war damals gerade mal zwei Jahre alt und sehr, sehr traurig, dass sie ihre Mutter hatte verlassen müssen. Sie fürchtete sich damals sehr, doch ihre Mutter hatte versucht, sie zu trösten: "Mein armes Kind, nun ist es an der Zeit für dich als Pferd, zu den Menschen zu kommen. Menschen verkaufen uns nämlich und der Käufer darf dich dann mitnehmen. Ich weiß zwar auch nicht, wohin du gebracht wirst, aber ich hoffe von ganzem Herzen, dass du ein gutes neues Zuhause haben wirst."

"Mama, ich will aber bei dir bleiben, bei dir und den anderen Pferden. Ich will gar nicht weg!", schimpfte Wilma damals lautstark in den Stall hinein. "Und ich will auch überhaupt nicht zu den Menschen. Die kenne ich doch gar nicht. Wie soll ich die denn bloß verstehen? Nein Mama, ich geh' nicht zu den Menschen!"

"Kleine Wilma, hier gibt es doch auch Menschen - sie versorgen uns mit Futter und halten unseren Stall sauber. Niemand hat dir je etwas getan. Also, warum bist du so störrisch?"

"Ja, diese Menschen hier, die kenne ich ja auch, aber ich will nicht zu fremden. Und am liebsten möchte ich nur bei dir und den anderen bleiben! Warum ist das nicht möglich, ich begreife das nicht!", wütend stampfte Wilma mit dem Vorderhuf auf und scharrte den Sand weit hinter sich.


Das war nun schon eine ganze Weile her und Wilma war über den Schmerz der Trennung hinweg gekommen. Sie hatte auch Glück, weil Bauer Fritz ein sehr gütiger Mann war.

Sie hatte sogar Freunde gefunden: den Hofhund Felix und die Enten Hei und Hoh. Auf dem Hof wohnten auch noch viele andere Tiere: die Schweine, die Kühe, die Kaninchen, die Gänse und Hühner, die Schafe und die vielen Katzen - doch die kannte Wilma nur vom Sehen. Leider lebte kein anderes Pferd auf dem Hof. Wilma war ganz allein - ein Pferd ohne ein anderes ist eine traurige Angelegenheit. Wie oft hatte sich Wilma gewünscht, sich wieder einmal so richtig von Pferd zu Pferd zu unterhalten. Insgeheim hielt sie stets Ausschau, ob nicht auf einer der angrenzenden Wiesen ein Pferd zu finden sei. Bislang hatte sie noch keines entdeckt.

An diesem sonnigen Nachmittag also, wie sie da so ganz in Gedanken versunken umhertrottete, stürmte Felix auf sie zu. Er warf seinen roten Ball voller weißer Punkte vor sich her und schien recht vergnügt zu sein. "Hallo, Wilma, wohin des Weges?", bellte er freundlich.

"Ja, hallo, Felix. Ich weiß noch nicht so recht. Mir ist langweilig. Eigentlich weiß ich gar nicht was ich will oder nicht will", seufzte sie leise.

"Hast du vielleicht Lust mit mir Ball zu spielen?", schlug Felix vor, "wir könnten noch Hei und Hoh fragen, ob sie mitspielen wollen, was meist du?"

"Ach, ich weiß nicht recht", maulte Wilma, "mir ist so merkwürdig zumute. Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist."

"Komm! Spielen hilft dir vielleicht. Danach kannst du immer noch darüber nachdenken, was dich bekümmert."

Wilma fühlte sich nicht wirklich verstanden. Aber ein wenig herumtollen konnte wahrlich nicht schaden. Also stimmte sie zu. Felix freute sich, denn Wilma war berühmt für ihre weiten Ballwürfe. Ja, wenn sie mit ihrem Huf gegen den Ball schlug, dann flog er zwar nicht besonders hoch, dafür aber besonders weit. Felix musste dann rennen, den Ball schnappen und wieder ins Spielfeld rollen. Das war dann der Einsatz der beiden Enten Hei und Ho. Sie flatterten und hüpften, um dem Ball mit ihren Schnäbeln einen Schubs zu geben. Der rollte dann in die eine oder andere Richtung. Natürlich bemühte sich Wilma, den Ball abermals zu erwischen, um ihm erneut einen Tritt zu verpassen und in die Ferne zu katapultieren. Felix versuchte gerade das zu verhindern und die Enten wollten auch wieder in den Ballbesitz gelangen. Es war ein prächtiges, wildes Durcheinander. Immer mal wieder fegte Felix in Windeseile hinter dem Ball her, sprang über ihn rüber, griff ihn mit dem Maul und stürmte zurück. Meistens waren alle nach so einem Spiel ziemlich durstig. Sie torkelten dann zum kleinen Teich und tranken, dabei hatten sie die Köpfe dicht beieinander. Das tat gut und erfrischte.

Genauso oder jedenfalls ziemlich ähnlich trug es sich auch an diesem Nachmittag zu. Nachdem Wilma sich satt getrunken hatte, fühlte sie sich richtig wohl. Als aber Felix, wie auch Hei und Hoh sich auf den Weg nach Hause machten und sie allein zurückblieb, überkam sie wieder dieses merkwürdige Gefühl. Sie drehte sich um und trottete ein paar Schritte in Richtung Waldesrand. Ab und zu neigte sie ihren Kopf und schnupperte am Gras, verspürte aber keine Lust, etwas davon zu fressen.

Plötzlich hüpfte ein kleiner Frosch auf Wilmas Vorderhuf. Um ihn besser sehen zu können, neigte sie ihren Kopf hinunter in seine Richtung. Das war dem Frosch aber zu unheimlich und er hüpfte eilig wieder hinunter ins Gras. "Halt", rief Wilma ihm nach, "warte doch, ich bin zwar groß, aber du brauchst keine Angst vor mir zu haben!"

Gerade bevor er zu einem weiten Sprung ansetzen wollte, hielt der Frosch inne und drehte sich langsam in Richtung des riesigen Pferdes um. "Hallo, was möchtest du denn von mir. Du bist mir unheimlich. Am liebsten wäre es mir, wenn du mich einfach in Ruhe lassen würdest!", ärgerlich qaukte der kleine Frosch seine Worte in die Höhe.

"Oh, ich bitte um Entschuldigung. Als ich dich sah, überlegte ich, ob du, der du doch bestimmt viel in dieser Gegend herumhüpfst, vielleicht noch so ein Pferd wie mich getroffen hast?"

"Nein, das wüsste ich bestimmt", antwortete der Frosch.

"Schade, ich bin nämlich auf der Suche nach einem Pferd, mit dem ich mich unterhalten kann - so von Pferd zu Pferd, verstehst du?"

"Klar, das ist nicht schwer zu verstehen. Leider habe ich aber keines gesehen. Weiß du was, ich will dir aber gerne helfen und die Augen offen halten. Sobald ich eines entdecke, sage ich dir sofort Bescheid!", bot der Frosch sich an.

"Oh, das wäre schön. Ich bin schon ganz aufgeregt und werde auf dich warten", ging Wilma freudig auf sein Angebot ein.

"Ja, gut, nee, warte mal, wo kann ich dich denn überhaupt finden? Und wie heißt du überhaupt, ich meine, falls ich nach dir fragen muss?", gab der Frosch zu bedenken.

"Ja, natürlich, ich heiße Wilma und wohne dort drüben in dem großen Stall. Es gibt nur zwei Stalltüren. Hinter einer der beiden bin ich dann. Du brauchst nur einmal laut zu quaken und ich komme angeflitzt!"

"Alles klar, Kumpel, äh, ich meine Wilma. Ich bin übrigens Oke, einfach Oke Frosch", stellte er sich nun ebenfalls vor. Dann hüpfte er davon.

Wilma sah ihm noch eine Weile nach und machte sich dann auf den Heimweg. "Ob er wohl ein Pferd trifft, und was werde ich dann wohl mit ihm besprechen? Über das Wetter? Die Menschen? Über den Stall? Na, ich hab ja noch Zeit genug, mir etwas einfallen zu lassen."

Kurz bevor sie die Stalltür erreichte, hupte ein Auto laut, als es die Hofeinfahrt hinter sich ließ. Nun parkte es vor dem Wohnhaus. Der Motor wurde ausgestellt und die Türen geöffnet. Heraus sprang ein kleines Mädchen, dann noch eines und noch eines. Dann kletterte ein kleiner Junge unbeholfen vom Sitz hinunter und zum Schluß stieg ein großer Mann aus dem Auto. Er drehte sich nach den Kindern um, die am liebsten schon losgerannt wären. "Wartet, halt, bleibt hier. Wir gehen zusammen zu Onkel Fritz und dann, wenn er es erlaubt hat, besuchen wir das Pferd!", bestimmte er energisch.

Alle Kinder blieben stehen und sahen ihn an. Ein leises Maulen machte die Runde, aber alle folgten dem großen Mann in Richtung Haustür.

"Die meinen doch wohl hoffentlich nicht mich?", sorgte sich Wilma. Aber wen konnten sie sonst schon meinen. Sie war schließlich das einzige Pferd auf dem Hof.

Wilma hatte zwar nichts gegen die kleinen Menschen, wenn sie sich in genügend großem Abstand zu ihr befanden, aber ... "Ich muß hier weg!", fuhr es Wilma in den Sinn, "... und zwar schnell!"

Sie hoffte, dass sie noch niemand entdeckt hatte und schlich eilig in Richtung Wald zu der Wiese, auf der sie den Frosch getroffen hatte. Felix, der vor dem Stall gedöst hatte, hob seinen Kopf und wunderte sich darüber, dass Wilma wieder weglief und nicht zum Stall ging. Hei und Hoh planschten in der Pfütze vor der Regentonne und wurden durch Wilmas Getrappel aufmerksam. Sie schüttelten ihre Köpfe, sahen sich an und planschten weiter.

Da drehten die Kinder sich um, entdeckten das Pferd und rannten los - direkt auf Wilma zu. Vor Schreck blieb sie stehen. Das Kind, dass am weitesten vorgelaufen war, ging nun ganz langsam und vorsichtig auf das große, schöne Pferd zu. "Hallo, bist du das neue Pferd, bist du Wilma?" Das Kind wartete gar keine Antwort ab und sprach weiter: "Also ich bin Neele, das da hinten sind meine Geschwister, Svenja, Grit und Peter. Die sind noch ziemlich klein ..."

Lautes Getöse und Rufen ertönte hinter Neele. "Das stimmt gar nicht." - "Gar nicht wahr" - "Ich bin schon groß!" Während sie protestierten, liefen sie stürmisch auf Neele und das Pferd zu. Wilma sah ein, dass Weglaufen nun nicht mehr möglich war. Damit musste sie noch warten. Aber eigentlich fand sie es nun auch gar nicht mehr schlimm, so im Mittelpunkt zu stehen und bewundert zu werden. Die Kinder schienen wirklich sehr freundlich zu sein. Wilma ließ sich streicheln und klopfen und blieb ganz ruhig stehen. Der Junge war der jüngste von den Geschwistern. Er stand noch etwas wackelig auf seinen Beinchen und hatte die kleine Gemeinschaft auch als letzter erreicht. "Ferdchen, Ferdchen, oohh, gans gooss", staunte er laut.

Wenige Augenblicke später schritt der Mann auf die Kinder zu und schimpfte: "Habe ich nicht gesagt, ihr sollt mit ins Haus zu Onkel Fritz kommen? Wir wollten ihn doch erst fragen, ob ihr zu dem Pferd gehen dürft, oder etwa nicht?"

"Aber schau mal Papa, ist das nicht ein tolles Pferd und ganz lieb ist es ...", machte Neele einen Versuch, den Vater zu beschwichtigen.

"Neele, das eine hat doch mit dem anderen gar nichts zu tun. Ja, das ist ein prächtiges, liebes Pferdchen. Aber wir gehen jetzt erst zu Onkel Fritz. Also, alle Mann los, nun macht schon. Zum kleinen Peter beugte er sich hinab und fragte ihn, ob er auf den Arm wolle. Peter nickte und streckte seinem Vater die Ärmchen entgegen. Er nahm ihn hoch und dann gingen alle auf die Haustür zu.

Wilma blieb zurück und sah ihnen nach. Merkwürdig. Etwas unentschlossen stand sie einen Moment lang da und wusste nicht recht, was sie jetzt tun sollte. Vielleicht warten, bis die Kinder wieder heraus kamen oder zur Wiese laufen, um den Frosch zu berichten, was sich zugetragen hatte ...

Wollte sie jetzt eigentlich noch Ausschau nach einem anderen Pferd halten? Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher. Wieder brachte dieses merkwürdige Gefühl sie durcheinander. Hatte sie doch geglaubt, dass sich dahinter die Sehnsucht nach einem anderen Pferd verbarg, wollte sie jetzt annehmen, dass das Gefühl mit der Freude über die Kinder zusammenhing. Nach einer Weile des Hin und Her trabte sie in Richtung Wiese.

Natürlich konnte sie den Frosch nirgends entdecken. Er war einfach zu klein und das Gras zu hoch. Deshalb rief sie ganz laut: "Oke, Oke, Frosch, hörst du mich?"

Nichts geschah. Kein Frosch in Sicht. "So ein Mist aber auch", dachte Wilma und drehte sich wieder in die Richtung des Stalls.

"Uhhaa! Quaaaaak, wer ruft denn da?", tönte ein kaum hörbares Stimmchen an Wilmas Ohren. "Oke, bist du das?", erkundigte sie sich erstaunt.

"Klar, Mensch, ich meine, klar Pferd, wer denn sonst?", gab der Frosch nun mit kräftiger Stimme Antwort. "Du hast mich geweckt!"

"Oh, das tut mir aber leid", entschuldigte sich das Pferd.

"Schwamm drüber, was möchtest du denn von mir?", wollte Oke nun wissen.

"Ach, weißt du Frosch, ich hatte dich doch gebeten, nach einem Pferd Ausschau zuhalten ..."

"Na hör' mal, so schnell geht das nicht. Außerdem wusste ich ja nicht, wie dringend dein Wunsch ist. Und so beschloss ich erst mal ein Nickerchen zu machen..."

"Oh nein, Frosch, ich hatte gar nicht erwartet, dass du schon ein anderes Pferd für mich gefunden hast, nein, ich wollte mit dir reden."

"Mit mir reden, worüber das denn?", neugierig hüpfte Oke nun auf Wilmas Huf. Sie senkte ihren Kopf, um ihn zu begrüßen.

"Na, denn schiess mal los, was bedrückt dich denn ...?", ermunterte Oke das Pferd.

Wilma sah ihn verständnislos an: "Was soll ich, ich, ich kann nicht schießen, ich meine ..."

"Ach, Wilma, das sagen die Menschen nur so, wenn sie den anderen auffordern zu sprechen. Mir scheint, ich habe sie zu viel belauscht. Ich sollte mir das vielleicht wieder abgewöhnen?", überlegte Oke laut.

"Ach so, na gut, also. Ich hatte doch so ein merkwürdiges Gefühl und dachte, wenn ich mit einem anderen Pferd spreche, wird alles besser ...", begann Wilma zaghaft.

"Na, das kann auch gut sein, wieso nicht", warf Oke ein.

"Ja. Aber dann sind vorhin neue Menschen auf den Hof gekommen. Ein großer Mann und vier kleine Kinder. Die sind sofort auf mich zugestürmt und waren ganz lieb zu mir. Erst wollte ich weglaufen, weil man bei Menschen ja nie sicher weiß, ob sie freundlich sind oder nicht. Dann aber streichelten kleine Hände mein Fell und ein kleines Mädchen sprach mit mir. Das tat mir richtig gut und da hatte ich wieder so ein merkwürdiges Gefühl, aber ein bißchen anders, aber auch, ach, ich weiß nicht, sie sind doch Menschen und keine Pferde, ich versteh' das nicht ...", Wilma war ein wenig verzweifelt

Aber Oke schien eine Idee zu haben. "Komm mal mit, Herzchen, ich zeig dir jetzt etwas. Du musst mir aber versprechen, es nie, nie, nie jemandem zu verraten - weder Mensch, Hund, Katze oder Pferd. Versprochen?"

"Ja, Oke, versprochen!", gelobte Wilma feierlich.

Oke drehte sich zu Wilma um und forderte sie auf, ihm zu folgen. Es dauerte nicht lange und er machte vor einem großen, alten Baum halt. Der Baum machte einen erhabenen, mächtigen Eindruck auf Wilma. Sie kam sich ganz winzig vor. Plötzlich hörte sie eine kräftige, ganz tiefe Stimme, die ganz langsam sprach. Aber zu wem gehörte diese Stimme? Irgendwie klang sie alt und holzig?

"Holzig?", dachte das Pferd, "wie komme ich denn da drauf? Wie soll sich denn Holz anhören, sie hatte noch niemals zuvor Holz reden hören."

Wieder diese Laute. Diesmal aber machten sie einen Sinn. "Sieh in die Pfütze zwischen meinen Wurzeln! Schau ganz tief hinein und wundere dich über gar nichts. Hab' keine Angst, was auch geschehen mag, du bist nicht in Gefahr." Das war der Baum, ja, ganz genau, der Baum hatte zu Wilma gesprochen!

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Wilma blickte suchend auf den Boden und tatsächlich entdeckte sie zwischen den Baumwurzeln eine große Wasserpfütze. Sie drehte sich zu Oke um. Der aber nickte ihr auffordernd zu. "Du kannst ihm vertrauen. Er ist mein Freund", beruhigte der Frosch.

Zögernd neigte Wilma ihren großen Kopf in Richtung Pfütze. Sie war total schwarz, irgendwie unheimlich und sie schien unendlich tief zu sein. Mit Pfützen kannte Wilma sich gut aus. Als sie noch klein war, liebte sie es mit einem Fuß hinein zu treten. Das Wasser spritzte dann so schön. Aber tief waren diese kleinen Wasser nie. Wilma war schon ganz nah an der Wasseroberfläche, als sie plötzlich ein starkes Ziehen verspürte. Wurde sie etwa in die Pfütze hineingezogen? Wie könnte das sein? Augenblicklich bekam sie es mit der Angst zu tun. Doch im gleichen Moment erklangen die Worte des Baumes in ihrem Kopf: "... was auch geschehen mag, du bist nicht in Gefahr!"

Und dann blickte Wilma auf Gras, auf saftiges grünes Gras. Da wo eben noch die schwarze Pfütze war, breitete sich eine Wiese voller bunter Blumen vor ihr aus. Aber das beste daran war, viele, viele Pferde grasten gemächlich darauf. Zögernd setzte Wilma einen Huf vor den anderen und schritt langsam auf die anderen Pferde zu. Ein prächtiges schwarzes Pferd hob seinen Kopf und schaute in Wilmas Richtung. Irgendwie fühlte sie sich unbehaglich, fasste sich aber ein Herz und ging mutig weiter.

"Na sieh' mal einer an, wir bekommen Besuch!", laut, unangenehm laut, rief das schwarze Pferd den anderen zu, "hey, seht mal, wer da kommt. Ein neues Pferd - und was für eines. Ziemlich mickrig. Ich frag mal, wo unser Gast herkommt und was er hier will!"

Wilma war ganz erschrocken. Tatsächlich wandte sich das schwarze Pferd an Wilma und stellte seine Frage: "Was willst du denn hier und wer bist zu überhaupt?"

"Ich weiß gar nicht, wie ich hierher gekommen bin. Da war diese Pfütze und plötzlich stand ich auf dieser Wiese. Mein Name ist Wilma, aber was ich will, weiß ich eigentlich auch nicht mehr", gab sie verstört aber artig Antwort.

Das große schwarze Pferd machte ihr Angst. Es schnaubte laut und schüttelte seinen Kopf. "Aha, so, so, nun gut. Ich heiße Bronco. Schau dich um, hier gibt 's nur die schönsten und größten Pferde in meiner Herde. Ich glaube nicht, dass du hierher passen wirst. Dein Fell ist struppig und du bist viel zu klein. Geh' lieber wieder dahin, wo du hergekommen bist."

Das war alles. Wilma war entsetzt. Was hatte sie nur getan. Dieser Bronco kannte sie doch überhaupt nicht. Warum war er so unfreundlich zu ihr. Sie begriff das einfach nicht. Auf keinen Fall wollte sie auf dieser Wiese bei diesen Pferden bleiben. Niemals! Was aber viel schlimmer war, sie wusste nicht, wie sie wieder nach Hause kommen konnte. Sie drehte sich um und trottete niedergeschlagen schon mal in die Richtung, aus der sie gekommen war.

Ein Eichhörnchen hatte alles mitangesehen, kletterte geschwind den Baum hinunter bis auf einen starken Ast, der sich genau in der Höhe von Wilmas Kopf befand. Als sie nun an diesem Ast vorbeigehen wollte, rief das Eichhörnchen: "Halt, warte mal Pferdchen."

"Huch, wer sprich da?", blickte Wilma sich um und entdeckte dann das Eichhörnchen auf dem Ast. "Meintest du etwa mich?"

"Ja, sicher. Ich habe mitangehört, was dieser blöde Bronco zu dir gesagt hat. Belauschen ist eigentlich nicht so meine Sache, aber der Kerl brüllt ja immer so laut. Nun, egal, ist passiert, wollte dir nur sagen, mach dir nichts aus seinem Gerede. Der ist so eingebildet, kaum zum aushalten. Das schönste Pferd auf der Welt ist er, jedenfalls glaubt er das. Und nur die schönsten Pferde vom Rest der Welt dürfen sich in seiner Nähe aufhalten, ja, ja", erklärte das Eichhörnchen das Verhalten des schwarzen Pferdes.

"Ja, weißt du, ich fühle mich in seiner Nähe überhaupt nicht wohl und will eigentlich nur noch wieder nach Hause", jammerte Wilma.

"Aber die anderen Pferde sind ganz nett, lass dich nicht einschüchtern. Kein Pferd hat Angst vor ihm. Sie kennen ihn schon ganz lange und wissen, dass es eben so seine Art ist, sind einfach freundlich zum ihm und er kann sich einbilden, was er will, was kümmert sie das. Versuch doch eines der anderen Pferde kennenzulernen. Vielleicht willst du dann doch bleiben."

Wilma überlegte hin und her. Hatte sie sich nicht gewünscht, mit anderen Pferden zusammen zu sein? Aber jetzt plötzlich überkam sie wieder so ein merkwürdiges Gefühl. Doch wieder ganz anders als die Male davor. Sie dachte an die Kinder, die gerade auf dem Hof angekommen waren. Jetzt wusste sie, dass sie lieber zu ihnen wollte. Oder doch nicht? Das war ja eine Karussellfahrt in ihrem Kopf - bei den Pferden bleiben, bei den Kindern bleiben? Wie sollte sie sich nur entscheiden?

"Sag' mal, liebes Eichhörnchen, weißt du denn wie ich wieder nach Hause kommen kann?", erkundigte sich Wilma schon mal.

"Klar, das ist ganz einfach!"

"Na, dann. Sagst du mir bitte, was ich tun muss?", forderte sie das Eichhörnchen auf.

"Klar, du wünscht dich dorthin, wo du dich am meisten zu Hause fühlst", und als wüsste das Eichhörnchen von Wilmas Gedanken, von dem Hin und Her, von dem nicht wissen, dem nicht sicher sein, fügte es hinzu: "Du darfst nicht danach fragen, ob es richtig oder falsch ist, nur einfach wünschen."

Und Wilma wünschte so doll sie nur konnte und im nächsten Augenblick stand sie wieder vor dem Baum. Von der Pfütze war nichts mehr zu sehen, von Oke, dem Frosch, keine Spur. Alles war still. Wilma trabte zurück auf den Hof. Es schien, als sei gar keine Zeit vergangen. Gerade ging die Haustür auf und die Kinder stürmten erneut auf Wilma zu. Kleine Hände streichelten sie. Neele, das älteste der Kinder sprach zu ihr: "Wir werden dich jetzt ganz oft besuchen kommen und wenn du erlaubst, möchten wir auch gern auf dir reiten? Was hältst du davon?"

Wilma war ganz perplex. Neele schien das zu bemerken und fügte hinzu: "Du kannst es dir ja noch überlegen. Aber weißt du, Wilma, damit es dir in der Zeit, in der wir nicht hier bei dir sein können, nicht langweilig wird, will Onkel Fritz noch ein Pferd auf seinen Hof holen. Ist das nicht toll. Hoffentlich verstehst du dich gut mit ihm."

Das war ganz schön viel Neues auf einmal. Wilma wußte gar nicht wie ihr geschah. Aber sie freute sich, warf ihren Kopf hoch und wieherte. Neele und die anderen Kinder lachten und dann verabschiedeten sie sich: "Bis bald Pferd." Und Peter, der auf dem Arm seines Vaters saß, versuchte Wilma zu streicheln: "Bald Ferdchen."

Wilma freute sich schon auf das Wiedersehen. Zwei Tage später hielt ein großes Auto mit einem Anhänger auf dem Hof. Aus sicherer Entfernung beobachtete Wilma das Geschehen. Die Tür vom Anhänger wurde geöffnet und heraus trippelte nervös ein großes schwarzes Pferd. Wilma erschrak. Nein, das ist doch nicht etwa Bronco. Das musste sie nun sofort wissen, rannte los und als sie etwas näher kam, erkannte sie, das es sich um eine etwas ängstliche und etwas ältere Pferdedame handelte. Langsam ging sie weiter und als sie dicht vor ihr stand begrüßte Wilma sie: "Herzlich willkommen."

"Oh, ja, ja, vielen Dank. Guten Tag. Ich bin noch etwas durcheinander von dieser holprigen Autofahrt, entschuldige bitte."

"Ach, das wird schon. Schön, dass du da bist." Jetzt fühlte Wilma sich vollkommen wohl. Hier war nun wirklich der schönste Ort auf der Welt, hier war ihr Zuhause - und das merkwürdige Gefühl war verschwunden.


31. Mai 2011