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TIERGESCHICHTEN/014: Nicht verraten ... (SB)



Das war also nun sein neues Zuhause. Er schnüffelte den Boden ab, konnte doch nichts Besonderes erfahren, hob die Nase in die Höhe und immerhin duftete es hier nach Essen. Schritte näherten sich der Haustür, sie wurde geöffnet und ein kräftiger Mann trat heraus, der eine Weile mit jenen Menschen sprach, die ihn hierher gebracht hatten. Dann griff er nach der Leine und lockte den Hund sanft seinen Namen rufend: "Komm Nico, na komm, hier kannst du ab jetzt wohnen. Es wird dir gefallen. Jetzt wird alles wieder gut."

Nico zögerte einen Moment, blickte sich noch einmal um, folgte dann aber dem Mann in den Hausflur. Würde er sein neues Herrchen sein? Unsicher hielt er inne und schnupperte. Plötzlich polterte ein kleiner Junge die Treppenstufen hinunter, blieb in gewissen Abstand vor dem Tier stehen, denn er wollte es nicht erschrecken. Tatsächlich wirkte der Hund verängstigt. Besorgt blickte der Junge auf den Verband, der durch die langen Fellhaare zu sehen war.

"Hallo Tim, darf ich vorstellen, das ist Nico. Wenn du möchtest, kannst du dich ab jetzt um ihn kümmern." - "Papa, wirklich, das ist toll, ist das jetzt richtig echt mein Hund?" - "Aber sicher, nur denk dran, ich habe ihn aus einem Tierheim geholt. Er ist noch ganz jung und wird sicherlich noch wachsen. Doch wie du sehen kannst, wurde ihm eine Verletzung von seinem ehemaligen Besitzer zugefügt." - "Was hat er getan?"

"Er hat ihn so heftig geschlagen, dass es blutete. Glücklicherweise hat die Ehefrau des Mannes den kleinen Kerl geschnappt und ihn ins Tierheim gebracht. Ihr Mann war einfach nicht geeignet, einen kleinen Hund zu erziehen."

"Ja, das glaube ich auch", erschüttert näherte Tim sich dem verschüchterten Hund. "Hallo Nico, nun brauchst du dich nicht mehr zu fürchten, wir machen dich wieder ganz gesund, dann kannst du groß und stark werden und ich passe immer auf dich auf." Er konnte nicht anders, umarmte Nico, der ihn darauf übers Gesicht schleckte. Tim lachte: "Auf gute Freundschaft, mein Guter."



Tim beugt sich zu seinem neuen Hund hinunter, um ihn zu begrüßen. Ein weißer Verband schimmert durch das Fell - Buntstiftzeichnug: 2021 © by Schattenblick

Tim begrüßt seinen Hund
Buntstiftzeichnug: 2021 © by Schattenblick


Mit der Unterstützung seines Vaters hegte und pflegte der Junge den verletzten Hund, dessen Wunde erstaunlich rasch verheilte. Nico wurde immer zutraulicher und Tim gab acht, dass der Hund ihn überall hin begleiten konnte. Noch waren die Sommerferien nicht zu Ende und so unternahm er kleine Ausflüge mit seinem neuen Gefährten. Sie tobten und tollten herum, rannten und jagten sich, warfen beziehungsweise fingen Frisbee-Scheiben. Genauso taten sie es auch an dem verhängnisvollen Tag.

Mitten im wilden Toben bemerkte Tim gar nicht, wie sich der eben noch so blaue Himmel verfinsterte. Schwere Wolken, die schon beinahe schwarz erschienen, türmten sich über ihnen auf. Er sah zum Himmel und erschrak. "Nico, schnell, komm, wir müssen sofort nach Hause, das sieht nach einem bösen Unwetter aus."

Der Wind blies heftig und schien sekündlich stärker zu werden. Ein gewaltiger Orkan tobte über Tims Dorf und die Umgebung. Eine kräftige Bö riss ihn plötzlich zu Boden. Benommen richtete Tim sich wieder auf, er schwankte noch ein wenig, als ein lautes Bersten im Baum zu hören war. Tim erschrak über das unheimliche Krachen, sah jedoch in die falsche Richtung und wurde im nächsten Augenblick von Nico so heftig angesprungen, dass er zur Seite kippte. Nur ein Bruchteil einer Sekunde später schlug ein abgebrochener Ast genau dort ein, wo er eben noch gestanden hatte. Nico schnüffelte Tim ab und leckte seine Hände. "Nico, wenn du mich nicht umgeschubst hättest, läge ich jetzt unter diesem schweren Ast!" Erleichtert herzte er seinen Hund und bedankte sich viele Male.

Doch der Sturm ließ ihnen nicht lange Zeit, um sich von dem Schrecken zu erholen. Sie mussten sich einen sichereren Platz suchen. Doch wohin so schnell? Der Weg nach Hause führte über eine einfache Holzbrücke und war ohnehin viel zu weit. Ratlos drehte Tim sich im Kreis und da fiel ihm der alte Schafstall ein, der auf der nächsten Koppel stand. "Komm, Nico, schnell!", rief er und rannte auch schon los. Der Wind zog ihm beinahe die Füße vom Boden weg, doch irgendwie gelang es dem Jungen, den Stall zu erreichen. Er stürzte hinein, Nico hinterher. Durch die Ritzen in der Bretterwand pfiff der Wind ein böses Lied. Tim konnte sich nicht erinnern, jemals so viel Angst gehabt zu haben. Die Holzlatten wackelten heftig, das Dach wurde mit jeder Sturmbö ein wenig angehoben.

"Das dauert nicht lange, dann reißt der Sturm uns das Dach weg", dachte Tim und in dem Moment geschah es tatsächlich. Das Holzdach wurde regelrecht weggezogen, so als hätte es überhaupt kein Gewicht. Nun prasselte aus den schweren, dunklen Wolken Regen mit so einer Wucht, als seien im Himmel Schleusentore geöffnet worden. Tim schluchzte und weinte, Nico stupste ihn an und drängte sich an ihn. Doch mit dem Regen ebbte bald auch die Windstärke ab. Allmählich wurde es ruhiger und schließlich hörte es auch auf zu regnen. Das Dunkel des Himmels erhellte sich zusehends.

Triefnass und durchgefroren verließen die beiden den völlig zerstörten Schafstall und schlugen den Weg nach Hause ein. Der Boden war aufgeweicht und matschig und als sie die glitschige Holzbrücke hinter sich gelassen hatten, musste Tim laut lachen. Nico schüttelte sich, von seinen langen Fellhaaren spritzte das Wasser nur so umher. "Hey, Nico, lass dass, ich habe die Nase voll vom Regen, mir reicht `s!" Schuldbewusst setzte der durchnässte Hund sich hin und blickte Tim traurig an. "Na, komm, mach nicht so ein Gesicht, wir haben doch alles gut überstanden, komm, jetzt laufen wir nach Hause und ich trockne dich auch ab, okay?" Er klopfte Nico auf den Rücken und rannte los, der Hund nebenher.

Als sie sein Elternhaus erreichten, kamen ihnen schon Vater und Mutter entgegen gelaufen. "Tim, wo warst du, ist dir was passiert?", rief seine Mutter besorgt schon von weitem.

"Nein Mama, es ist alles gutgegangen. Wir haben im Schafstall Schutz gesucht, aber der ist nun auch hinüber, das Dach wurde fortgerissen", versuchte Tim seine Mutter zu beruhigen, was gründlich misslang. "Was, das ist ja furchtbar, komm her, lass dich anschauen, bist du auch wirklich nicht verletzt?"

Seine Mutter war furchtbar aufgeregt, sie konnte sich gar nicht beruhigen. "Ich habe mit so einem Wetterumschwung überhaupt nicht gerechnet. Hätte ich das nur geahnt, ich hätte dich gar nicht aus dem Haus gelassen. Was hätte alles passieren können." Nun mischte sich Tims Vater ein: "Wir wussten einfach nicht, wo wir nach dir suchen sollten, alles ging so schnell. Im Nachbardorf hat eine Windhose zwei Dächer abgerissen und einige Bäume entwurzelt. Wir können von Glück sagen, dass sie nicht bis in unser Dorf kam."

Als Tim seine Eltern so besorgt sah und merkte, dass sie sich Vorwürfe machten, weil sie nichts von alledem verhindern konnten, entschloss er sich, ihnen nichts von dem herabgestürzten Ast zu berichten, der ihn nur deswegen nicht traf und wahrscheinlich schwer verletzt hätte, weil Nico ihn im rechten Augenblick umgeschubst hatte. Er fühlte sich seinem Hund eng verbunden wie mit einem echten Freund und nun teilten sie auch noch ein Geheimnis. Erst irgendwann später würde er seinen Eltern alles erzählen.

"Jetzt aber schnell ins Haus, duschen und trockene Sachen anziehen", forderte die Mutter ihren Jungen auf. "Papa, kannst du Nico bitte trockenreiben? Ich habe es ihm versprochen? Er ist patschnass geworden." - "Wird gemacht", und zu Nico gewandt, "so du kleines Wassertier, komm, trockenruffeln."

Ende


6. September 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 167 vom 11. September 2021


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