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MALEREI/047: Neue Bilder im Kopf - William Hogarth und die industrielle Revolution (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 127/März 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Neue Bilder im Kopf
William Hogarth und die industrielle Revolution

Von Michael Hutter


Der industriellen Revolution scheint eine Konsumrevolution vorangegangen zu sein. Die Veränderungen von Nachfragevolumen und -struktur wurden unterstützt durch zeitgenössische Bildprogramme. Im frühen 18. Jahrhundert spielten in England Genres der conversation paintings und der satirical prints eine besondere Rolle bei der Durchsetzung des neuen, bürgerlichen Konsumverhaltens.


Bilder, so zeigt der Berliner Kunsthistoriker Horst Bredekamp, bewegen ihre Betrachter, sie regen sie insbesondere in der Wissenschaft zu Entdeckungen und neuen Vorgehensweisen an. Aber haben Bilder auch die Kraft, ihre Betrachter zur Veränderung ihres Konsumverhaltens zu bewegen? Können sie dazu beitragen, dass sich die Wirtschaftsentwicklung nachhaltig ändert? Diese Frage steht im Zentrum einer Studie der WZB-Abteilung "Kulturelle Quellen von Neuheit", die sich mit der Vorgeschichte der industriellen Revolution beschäftigt.

Nach gängigen Vorstellungen waren es fundamentale technische Innovationen, allen voran die Dampfmaschine, die die Förderung von Bodenschätzen und die Warenproduktion mittels Maschinen ermöglichten und so die rasche Expansion der europäischen Wirtschaft im 19. Jahrhundert auslösten. Die Entwicklung funktionsfähiger Innovationen war aufwendig, und noch teurer waren die Maschinen, mit denen die Fabriken ausgestattet wurden. Warum wurden diese ungewöhnlich hohen Investitionen getätigt, erst in England, dann auch auf dem europäischen Kontinent und in Nordamerika? Die ökonomische Theorie sieht den Anreiz für derartige unternehmerische Entscheidungen auf der Nachfrageseite. Letztlich sind es die mit Kaufkraft versehenen Wünsche der Nachfrager, die das Warenangebot und alle vorgelagerten wirtschaftlichen Aktivitäten bestimmen, lautet die These.

Kann es denn sein, dass es vor der industriellen Revolution, also in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, insbesondere in England zu einer Veränderung im Konsumverhalten kam, die derart starke Veränderungen auf der Produktionsseite auslösen konnte? Zahlreiche Studien der vergangenen Jahrzehnte haben dafür Beweismaterial zusammengetragen. Der Kunsthistoriker David Solkin hat gezeigt, dass sich in diesen Jahrzehnten die Ausbildung von Geschmack als einer erfolgreichen Strategie im Statuswettbewerb durchsetzte und dass die Produktion von Kunstwerken dabei eine bislang unterschätzte Rolle spielte. Der Kulturhistoriker John Brewer hat in einem umfangreichen Publikationsprojekt das Ausmaß dargelegt, in dem die Nachfrage nach Dekorations- und Einrichtungsgegenständen, Büchern, Bildern, Kleidern, aber auch Häusern und Gärten zunahm - alles Formen, in denen die "pleasures of the imagination" konsumierbar gemacht wurden.

Die Grundlagen für die These von der Konsumrevolution vor der Produktionsrevolution existieren also bereits. Als Auslöser dieses Umbruchs sind bislang die ästhetischen Theorien des Earl of Shaftesbury und David Humes, die Romane von Henry Fielding und Samuel Richardson und vor allem die Journalpublikationen von Richard Steele und Joseph Addison hervorgehoben worden. Aber spielten auch visuelle Darstellungsformen eine Rolle bei der Entwicklung hin zu Konsumformen, die sich nicht auf endliche materielle Bedürfnisse, sondern auf unendliche imaginierte Bedürfnisse richten?

Die wirtschaftlichen Veränderungen traten zuerst in England auf, deshalb konzentriert sich die Fallstudie auf diese Region. Dort verbreiteten sich etwa seit dem Jahr 1720 Bilder, die conversation paintings genannt wurden. Auf diesen meist kleinformatigen Ölbildern sind Gruppen von Menschen, meist Personen aus dem erweiterten Familienkreis, zu sehen. Die Personen sind aber nicht, wie bei Porträts üblich, allein auf den Betrachter ausgerichtet, sondern sind untereinander durch Konversationen verknüpft. Getränkerituale und Kartenspiele sind beliebte Formen, Konversationen in stummen Bildern darstellbar zu machen. Der Genuss von Kaffee (meist in spezialisierten Lokalen) und von Tee (häufig im privaten Bereich) hatte wenig mit materieller Flüssigkeitsaufnahme zu tun. Die Getränke dienten als Anregung für Debatten im öffentlichen Raum und für Gespräche zwischen Freunden und Familienmitgliedern.

Die Gerätschaften, die mit dem Servieren insbesondere des Tees verbunden wurden, konnten Grade der Verfeinerung durch edle Materialien und Dekoration erreichen, die den herausragenden Geschmack ihrer Besitzer demonstrierten. Kartenspiele, besonders das damals populäre Whist, waren Formen eines sozialen Austausches, bei dem es nicht auf Standesunterschiede, sondern auf Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen und Einfallsreichtum ankam.

Bemerkenswert ist, dass derartige Sujets gewünscht wurden, obwohl sich in der provinziellen Kunstszene Englands erst einmal keine Künstler fanden, die sie in Bilder umsetzen konnten. Die Maler der frühen conversation paintings stammten aus den flämischen Provinzen und passten die dort gängigen Genreszenen in Wirtshäusern und auf Marktplätzen den Vorstellungen ihrer Auftraggeber an. Entsprechend steif und ungelenk sehen die Personen auf diesen Bildern aus. Dennoch füllten sich die townhouses des englischen Landadels, der sich zunehmend in London aufhielt, und die Residenzen der vermögenden Banker und Handelsherren mit derartigen Bildern. Conversation paintings waren aber nicht die einzige stilistische Neuerung. Eine weitere Spielart, die in den neu entstehenden Vergnügungsgärten populär wurde, waren Dekorationsgemälde, in denen das Distinktionsbedürfnis der Besucher dadurch befriedigt wurde, dass Formen des feinen gesellschaftlichen Umgangs neben Formen des einfachen, bäuerlichen oder kindlichen Lebens gezeigt wurden.

Nur wenige dieser für den modischen Gebrauch angefertigten Bilder haben sich erhalten. Einige befinden sich heute noch in der Sammlung des Victoria Albert Museums, etwa die großen Leinwände, mit denen der Theatermaler Francis Hayman die offenen Speisekojen in Vauxhall Gardens dekoriert hatte. Sie lassen nur mehr ahnen, in welchem Ausmaß derartige Darstellungen die privaten und öffentlichen Räume füllten. Dagegen sind die conversation paintings, die William Hogarth zwischen 1730 und 1760 gemalt hat, weitgehend erhalten, weil sie bis heute wegen der Virtuosität der Darstellung und der Überfülle an Beobachtungen und komischen Übertreibungen geschätzt werden.

Als eines seiner Meisterwerke gilt das Bild der Familie des Bankiers Wollaston, 1730 gemalt. Das Verhaltensideal der perfect balance, der Verfeinerung des gesellschaftlichen Umgangs ohne die Barrieren der Adelsgesellschaft, findet bildhaften Ausdruck: Zwei Gruppen verbinden sich, die eine über ein Whistspiel, die andere über eine Tee-Konversation. Die Mitte bildet der Hausherr, der nach einer Seite zu seiner Frau blickt und sich durch die Geste seiner Hände gleichzeitig der Gruppe auf der anderen Seite des Raums zuwendet. Im Hintergrund der Szene ist die reichhaltige Dekoration des Empfangssaales im townhouse der Wollastons zu sehen - ein Katalog an Konsumgütern, vom Teppich über den Lüster bis zum Teegeschirr.

Hogarth hat in Dutzenden ähnlicher Werke diese Selbstdarstellung der immer zahlreicher werdenden reichen Familien ins Bild gesetzt. Seine Kompositionen fanden über Kopien und Stiche ein Publikum, das weit über den Besucherkreis der dargestellten Familie hinausreichte. Hogarths noch größeres Verdienst bestand darin, dass er neben den conversation paintings, die das richtige, das polite behaviour zeigten, ein neues Genre erfand: die moral subjects. Die moral subjects bestanden jeweils aus einer Serie von sechs bis zwölf Kupferstichen, die den progress, also die Entwicklung von Personen schilderten, die unweigerlich in Not und Tod endeten. Alle diese Personen verhalten sich falsch: Sie haben ihre Triebe nicht unter Kontrolle, sie geben sich geschmacklosen Vergnügungen hin, oder sie sind faul und leichtsinnig. Der Witz der Darstellung und der Reichtum der Nebenhandlungen machten diese für viele erschwinglichen Bilderserien zu Verkaufserfolgen. Oft wurden sie schon vor ihrer Erstveröffentlichung kopiert, dann lagen sie in Kaffeehäusern zur Ansicht, und schließlich wurden sie in weiteren Auflagen lange Zeit in Europa verbreitet, so dass Georg Lichtenberg noch 1794 einen ausführlichen Kommentar zu den sechs Drucken der "Heirat nach der Mode" in Göttingen veröffentlichte.

Das waren die Bilder im Kopf der Zeitgenossen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, erst in London und seiner regionalen Umgebung, dann in den europäischen Haupt- und Universitätsstädten. Es waren Bilder vom richtigen und falschen Leben in einer Welt der selbst gewählten, nicht durch überkommene Traditionen bestimmten Lebens- und Verbrauchsformen. Zweifellos wurde der entstehende Verhaltenskodex einer zivilen, einer civil society auch in literarischer Form auf den Begriff gebracht, aber die Worte blieben doch abstrakter als die visuellen Darstellungen der Gärten, Häuser, Innenausstattungen, Porzellangefäße, Speisen, Getränke, Kleidungsstücke und all der anderen Konsumgüter, deren Erwerb und Verbrauch so erstrebenswert geworden war, weil neben dem Genuss auch sozialer Aufstieg gekauft werden konnte.

Es scheint also tatsächlich eine visuelle Komponente des Prozesses gegeben zu haben, der die Konsumgewohnheiten der Epoche so stark veränderte, dass darauf mit einer massiven Ausweitung des Angebots reagiert werden konnte. Den technischen Innovationen waren die künstlerischen Innovationen vorausgegangen - soviel lässt sich zeigen. Aus der starken Erfindungskraft der Bilder Hogarths folgt keineswegs, dass die industrielle Revolution ohne diese wenigen bemalten Leinwände und bedruckten Papiere anders verlaufen wäre. Aber seiner Erfindungskraft und der ästhetischen Qualität seiner Gemälde ist es zu verdanken, dass seine Werke im gesellschaftlichen Gedächtnis geblieben sind und wir noch heute in der Lage sind, den Bildern im Kopf der Menschen jener Epoche nachzuspüren.


Michael Hutter ist seit 2008 Direktor der Abteilung "Kulturelle Quellen von Neuheit" und Forschungsprofessor an der Technischen Universität Berlin. Er studierte in München und in den USA Mathematik und Wirtschaftswissenschaft und habilitierte sich 1986 an der Universität München. Von 1987 bis 2008 war er Professor an der Universität Witten/Herdecke. Seine Forschungsarbeiten behandeln in jüngerer Zeit die Interdependenz zwischen Kunst und Wirtschaft.
mhutter@wzb.eu


Literatur

Maxine Berg, "From Imitation to Invention: Creating Commodities in Eighteenth-century Britain", in: Economic History Review, Vol. 55, No. 1, 2002, S. 1-30

John Brewer, The Pleasures of the Imagination. English Culture in the Eighteenth Century. New York: Farrar, Straus and Giroux 1997, 721 S.

Mark Hallett, The Spectacle of Difference. Graphic Satire in the Age of Hogarth. New Haven: Yale University Press 1999, 272 S.

Michael Hutter, Wertwechselstrom. Texte zu Kunst und Wirtschaft. Fundus Band 183. Hamburg: Philo Fine Arts 2010, 320 S.

David H. Solkin, Painting for Money. The Visual Arts and the Public Sphere in Eighteenth-Century England. New Haven: Yale University Press 1993, 312 S.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 127, März 2010, Seite
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. April 2010