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ANALYSE & KRITIK/320: Von der Massenautonomie zum islamischen Staat


ak - analyse & kritik - Ausgabe 541, 21.08.2009

Von der Massenautonomie zum islamischen Staat
Ein Interview über die Revolution von 1979 und ihre Folgen im Iran

Mit Piran Azad sprach Jan Ole Arps


Seit dem "Wahlsieg" Ahmadineschads kommt Iran nicht zur Ruhe. Die wochenlangen Proteste großer Teile der städtischen Jugend gegen den Wahlbetrug wendeten sich bald gegen die konservativen islamischen Eliten des Landes. Piran Azad, seit den 1960er Jahren in der linken Opposition im Iran aktiv, musste 1982 vor der Repression durch das neue theokratische Regime in die Illegalität ausweichen. Vier Jahre später verließ er das Land. Noch heute ist er aktives Mitglied der kommunistischen iranischen Organisation Rahe Karegar (Arbeiterweg). Mit Piran Azad sprach Jan Ole Arps über die Entstehung des islamischen Staates, die massenhafte Erfahrung der Selbstorganisation in der Revolution von 1979 und über die aktuelle Revolte gegen das religiöse Regime.


ak: Seit Wochen protestiert im Iran die Opposition gegen den Wahlbetrug Ahmadineschads. Die Bewegung hat große Teile der Bevölkerung erfasst; besonders die Jugend trägt trotz schwerer Repression die Forderung nach einem Ende der Diktatur und "Freiheit für Iran" immer noch auf die Straße. Zugleich ist die Bewegung sehr heterogen; sie nimmt politische Ereignisse ebenso zum Anlass für ihre Protestumzüge, wie religiöse Veranstaltungen. Sind das nicht erstaunliche Parallelen zu den Protesten vor 30 Jahren, die zur islamischen Revolution im Iran führten?

Piran Azad: Ja, es gibt sehr starke Ähnlichkeiten. Die Forderung nach Freiheit etwa kommt noch aus der Zeit. Allerdings gab es 1979 einen stärkeren Einfluss des linken Diskurses. Nicht im Sinne marxistischer Ideen, aber Fragen der Egalität und Gerechtigkeit und Klassenfragen überhaupt hatten eine größere Bedeutung. Auch in der religiösen Strömung waren diese Elemente stark vertreten. Khomeini und seine Anhänger mussten damals linke Elemente aufnehmen und sie in eine religiöse Richtung interpretieren.

Natürlich kann man nicht vorhersagen, wie sich die Ereignisse entwickeln werden. Ich glaube, heute ist das Selbstbewusstsein der Protestierenden viel größer. Sie werden nicht so leicht bereit sein, ihre Errungenschaften an einen charismatischen Führer abzugeben. Und die Gesellschaft im Iran ist moderner geworden. Es gibt viel mehr Atheisten als vor 30 Jahren. Aber ich glaube, auch damals konnte sich Khomeini nicht vorstellen, dass er einen religiösen Staat gründen konnte, so wie es dann geschehen ist.

ak: Wie konnte sich eine islamische Revolution im Iran vor 30 Jahren überhaupt entwickeln?

Piran Azad: Dafür müsste ich kurz auf die geschichtlichen Hintergründe eingehen.

ak: Einverstanden.

Piran Azad: Bis in die 1960er Jahre war der Iran stark landwirtschaftlich geprägt. Es dominierten feudale gesellschaftliche Strukturen. Und der größte Landbesitzer des Iran war der Schah.

Anfang der 1960er leitete der Schah auf Druck der USA eine kapitalistische Modernisierung des Landes ein. Eine Landreform schränkte den Großgrundbesitz ein; die Industrialisierung wurde verstärkt, einige soziale Reformen durchgeführt. Auch das Bildungssystem wurde ausgebaut. Immer mehr junge Menschen konnten studieren.

Doch die durch die Reformen geweckten Erwartungen in der Bevölkerung erfüllten sich nicht. Die Kleinbauern konnten nicht profitabel wirtschaften. Also wanderten Millionen von ihnen in die Städte, um dort nach Arbeit zu suchen. So ist aus der kleinen Stadt Teheran eine Megacity geworden, an deren Rändern die Slums wucherten.

Während die sozialen Verhältnisse umgewälzt wurden, änderte sich an den politischen Machtverhältnissen wenig. Der Schah war der alleinige Machthaber; jedwede oppositionelle Organisierung war verboten. Der Schah war auch Hauptprofiteur des Ölgeschäfts, das eine immer wichtigere Rolle in der iranischen Wirtschaft spielte. Die Schah-Regierung bestimmte über die Verteilung der Öl-Gelder. Die Kapitalisten im Iran waren vom Schah abhängig. Sowohl die wirtschaftliche als auch die politische Struktur war also vom kapitalistischen Standpunkt aus gesehen deformiert, unvollständig, mangelhaft.

Der Ölschock von 1973 verschärfte diese Entwicklung noch. Fast 45 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kamen nun aus dem Ölgeschäft. Die gestiegenen Öleinnahmen vertieften die gesellschaftliche Kluft zwischen der wachsenden Armut und dem Reichtum des Schahs und der Profiteure seines Regimes noch. Die Inflation stieg, und die "holländische Krankheit" (1) ergriff Besitz vom Iran. Und weil das politische System so stark auf die Person des Schah fixiert war, konnte es nicht auf die Probleme reagieren, es war in der Krise nicht funktionsfähig. Der Schah war allein. Die oppositionellen Kräfte, die sich gegen das Regime stellten, erhielten großen Zulauf.

ak: Sagten Sie nicht gerade, dass jede oppositionelle Regung unterdrückt wurde?

Piran Azad: Das ist richtig. Unter der autoritären Monarchie des Schah-Regimes konnte keine politische Strömung offen aktiv sein. Es gab die Guerilla-Bewegung - die linke Fedayin und die erst linksislamische, später marxistische Volksmudjahedin - , die in der ersten Hälfte der 1970er Jahren sehr aktiv waren. Und es gab die religiöse Opposition. Aber eine legale Opposition existierte nicht. Man wurde schon verhaftet, wenn man nur ein linkes Buch las. Viele Studenten sind nur deshalb im Gefängnis gelandet, weil sie ein Buch gelesen haben - ohne dass sie überhaupt politisch organisiert waren.

Doch mit der Krise entwickelte sich auch der Protest. Ab 1978 waren die Proteste im Iran kaum noch zu bremsen. Religiöse Proteste, aber auch Protest gegen die sozialen Umstände - alles war nun als Anlass willkommen. Trauerfeiern für die Opfer der Repression wurden zu Demonstrationen. Ein Protestereignis war der Funke für das nächste - es war eine gewaltige Dynamik des Protests, ganz ähnlich wie heute. Ab August 1978 wurden die Anhänger Khomeinis hegemonial in diesem Prozess.

ak: Wie konnte die religiöse Strömung solch einen großen Einfluss gewinnen?

Piran Azad: Sie war die einzige politische Strömung, die Spielraum hatte. Marxisten wurden verfolgt, verhaftet, hingerichtet. Mit den Religiösen konnte der Schah das nicht machen. Im damals einzigen schiitischen Land kann sich das Staatsoberhaupt nicht gegen die Religion aussprechen. So konnte sich die religiöse Strömung sammeln und organisieren, während die Linke zerstört war und keine legalen Strukturen aufbauen konnte. Zwar gab es viele, die - wie ich - gewerkschaftliche Tätigkeiten ausübten, aber niemand konnte sich fest organisieren, nicht einmal Gewerkschaften gab es. Außerdem war die sozialistische Perspektive durch die Politik der Sowjetunion und der Volksrepublik China, die nationalistische Strömung durch die korrupten Staaten im Nahen Osten diskreditiert. Die bewaffnete Linke im Iran war 1976 durch den Geheimdienst so gut wie zerschlagen. Das einzige, was sie noch hatte, war einen guten Ruf, weil sie so mutig gewesen war, den Kampf gegen das verhasste Regime aufzunehmen.

Zugleich muss man sagen, dass linke Ideen in dieser Zeit sehr einflussreich waren. Daran kamen auch die Religiösen nicht vorbei. Khomeini hatte zwar damals schon viele Anhänger, weil er als einziger großer Mullah innerhalb der schiitischen klerikalen Institutionen offen gegen das Schah-Regime aufgestanden war. Er hatte die Reformen der 1960er Jahre und den Einfluss der USA kritisiert. Die Mullahs waren gegen das Frauenwahlrecht und auch gegen die Landreform, denn der Klerus war nach dem Schah der größte Landbesitzer. Er hatte den Schah als Diktator bezeichnet und ihm vorgeworfen, gegen den Islam zu verstoßen. Deshalb befand Khomeini sich seit 1965 im Exil im Irak.

Seine couragierte Haltung brachte ihm Sympathien bei den jungen, kämpferischen religiösen Studenten, aber auch bei der säkularen Opposition ein. Aber Khomeini war ein konservativer und reaktionärer Religiöser. Seine alte schiitische Philosophie war für die jüngere Generation nicht sehr attraktiv. In dieser Situation spielte die Erneuerung des politischen Islam durch Dr. Ali Schariati eine wichtige Rolle. Schariati fügte der religiösen schiitischen Ideologie linke, liberale und kämpferische Elemente hinzu. Dadurch gewann er großen Einfluss auf die jungen Islam-Studenten, auch auf Mussawi, der in jener Zeit ein Schüler Schariatis war.

Schariati hat auf der ideologischen Ebene den Boden für die Religiösen bereitet. Auf der praktischen Seite waren die Volksmudjahedin mit ihren bewaffneten Aktionen und ihrer schiitischen Vision von Klassengleichheit wichtig. Diese zwei Elemente - die theoretische Erneuerung durch Schariati und die radikale, kämpferische Praxis der Volksmudjahedin - haben die Voraussetzung für die Renaissance der schiitischen politischen Ideologie geschaffen. Die Kader der islamischen Revolution waren durch Schariatis Lehre und die Praxis der Volksmudjahedin zum politischen Islam gekommen. Khomeini hat die Früchte dieser Arbeit geerntet. Man kann also sagen, Schariati machte den Weg frei für die Dominanz der islamischen Strömung und für die islamische Revolution - und damit letztlich für die Renaissance des politischen Islam im Nahen Osten überhaupt.

ak: Wir haben es also von Anfang an mit einer islamischen Revolution zu tun?

Piran Azad: Ja und nein. Der revolutionäre Prozess, der 1978 in Gang kam, war nicht von Anfang an religiös dominiert, auch wenn religiöse Elemente immer eine wichtige Rolle spielten. Doch die Bewegung war vielschichtig. Sie war antiautoritär, anti-monarchistisch und antikapitalistisch. In der Revolution waren drei Forderungen zentral: Freiheit, Unabhängigkeit, Republik. Die Forderung nach Freiheit war gegen die Monarchie und die alten Autoritäten gerichtet. Der Wunsch nach Unabhängigkeit richtete sich gegen den Einfluss der USA, der im Iran in allen Bereichen spürbar war. Diese beiden Parolen wurden von allen Menschen, die gegen das Schah-Regime waren, geteilt. Die dritte Forderung schließlich wandelte sich mit der Zeit und unter dem wachsenden Einfluss der religiösen Strömung zur Forderung nach einer islamischen Republik. Bis August 1978 war die islamische Strömung noch nicht dominant. Man kämpfte zusammen gegen die Herrschaft des Schah. Khomeini genoss auch bei den säkularen Oppositionellen große Sympathien, weil er mutig gegen den Schah auftrat. Das ist die Logik, nach der der Feind meines Feindes mein Freund ist - dieselbe Logik, die man heute bei manchen Linken trifft, die Ahmadineschad unterstützen, weil er gegen die USA ist.

ak: Wenn die Linke politisch so schwach war: Woran machte sich der linke Einfluss auf die revolutionäre Bewegung fest?

Piran Azad: Zum Beispiel in der grassierenden gesellschaftlichen Selbstorganisation. Während des revolutionären Prozesses hat die Bevölkerung, besonders die Jugend, überall Räte (Shoras) gegründet. Überall wurde Mitsprache eingefordert. Nach der Revolution gab es solche Räte in allen Firmen, Fabriken, Universitäten und Schulen - überall. An der Universität gab es keinen Rektor. Die Studenten, die Professoren und Lehrer und die Angestellten der Universität bestimmten Delegierte, und die haben sich in der Universitätsversammlung, der Shora der Universität, zusammengefunden und gemeinsam entschieden. Das Gleiche geschah in vielen Fabriken und Firmen und auch in Teilen der Armee. Es gab eine absolute autonome Selbstorganisierung in allen Bereichen. Und die Bevölkerung war bewaffnet. Es gab ja einige Tage eine Bürgerkriegssituation, vor allem in Teheran, und in diesem Zusammenhang waren die Kasernen geplündert worden, so dass alle Menschen Waffen besaßen.

Über diese massenhafte Selbstverwaltung konnten die Religiösen nicht hinweg gehen. Also haben die Mullahs gesagt: Ja, auch der Prophet Mohammed war für die Einrichtung von Shoras, Räten. Sie haben sich beteiligt.

Auch in der Religion selbst spielten linke Inhalte eine große Rolle. Die Religion als politische Kultur ist stets von Bewegungen von unten beeinflusst. Es sind ja oft die Unterdrückten, die in die Kirche gehen. Und auf ihre Themen muss die Religion eingehen. Khomeini hat einen Koran-Vers ausgegraben, in dem es heißt, Gott steht auf der Seite der Unterdrückten. Die religiöse Strömung hat sich also als wahre Vertreter der Armen und Unterdrückten ausgegeben. Übrigens hat Khomeini auch die Frauen, die sich in der Revolution stark engagiert hatten, auf die Straße gerufen und ihre Forderungen teilweise aufgenommen, um an die Macht zu gelangen.

ak: Sie sagten, ab Sommer 1978 wurde die religiöse Strömung hegemonial. Zugleich existierten autonome Selbstverwaltungsorgane, und die Bevölkerung hat sich bewaffnet. Können Sie beschreiben, wie es weiter ging?

Piran Azad: Im Februar 1979 ist Khomeini in den Iran zurückgekehrt. Er hat einen provisorischen Staat eingesetzt mit Premierminister und Kabinett, eine Woche vor dem Sturz des Schah-Regimes. Parallel existierten die Räte in allen Bereichen der Gesellschaft. Es gab also eine Zeit lang eine Parallelstruktur, in der der neue Staat noch nicht mächtig war und die Shora die meisten gesellschaftlichen Bereiche kontrollierte.

Die provisorische Regierung, die Khomeini eingesetzt hatte, bestand aus religiös-liberalen Fachleuten und Technokraten. Sie waren für eine private Wirtschaft und einen normalen bürgerlichen Staat. Khomeini und seine Mullahs haben sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht zugetraut, die Regierungsgeschäfte zu führen. Sie hatten noch keine Ahnung, wie so etwas funktioniert. Also assistierten sie als Stellvertreter der Minister und lernten von den Technokraten, denen sie über die Schulter schauten, wie man eine Regierung führt.

Es gab also diese technokratische Staatsstruktur, an die sich die Mullahs angeschlossen hatten, und es gab die parallele Struktur der Shoras. Khomeini und seine engsten Anhänger waren im Hintergrund tätig und verfolgten die Absicht, die Revolte von unten zu kontrollieren und ins System zu überführen. Sie haben die Bewegung der Shoras scheinbar gefördert und sich als Vertreter der Selbstorganisierung und der Revolte von unten präsentiert, mit der Absicht, selbst die Führung zu übernehmen. Es war ein klassisches bonapartistisches politisches Projekt.

Zugleich hat Khomeini die Bevölkerung gebeten, die Waffen wieder abzugeben und zu Hause zu bleiben. Die neue Regierung werde die Anliegen der Armen angemessen vertreten. Er konnte zu diesem Zeitpunkt niemandem befehlen, nach Hause zu gehen. Er musste die Bevölkerung bitten. Wenn man in einer revolutionären Krise einen Staat gründet, dann muss man mit den Forderungen aus der Bevölkerung umgehen. So war es auch für Khomeini. Dabei hatte er schon damit begonnen, die zerstörten alten Institutionen zu übernehmen, sie zu rehabilitieren und wieder aufzubauen. So ist es in jeder Revolution, die einen neuen Staat erreichten will. Erst wird das alte System zerstört, aber um den neuen Staat aufzubauen, werden die alten Institutionen repariert. Wenn ein Staat separat von der Bevölkerung wieder entsteht, gehen die Menschen langsam wieder zur Tagesordnung über. So ging es auch mit den Räten, die es in der revolutionären Phase überall gab. Innerhalb der ersten zwei Jahre nach der Revolution haben sie sich entweder aufgelöst oder sie wurden zu islamischen Räten.

ak: Hatte Khomeini von Anfang an einen religiösen Staat vor Augen?

Piran Azad: Rein theoretisch: ja, aber praktisch glaubte er zunächst nicht an die Möglichkeit, diese Vorstellung zu realisieren. Nach dem Sturz der Schah-Regierung hat er ja zunächst ein technokratisches Kabinett rekrutiert. Er glaubte zwar schon an die Direktregierung der Mullahs, aber die Möglichkeit gab es noch nicht. Im ersten Verfassungsentwurf, den Khomeini 1979 aus Frankreich mitbrachte, stand kein Wort von einem religiösen Staatsführer ("Velayate Faghih"); es war fast eine normale Verfassung. Nach sechs Monaten im Iran hat er herausgefunden, dass er viel mehr machen kann.

Khomeinis Doktrin war die, dass die Mullahs die Vertreter Gottes auf Erden waren und dass sie die politischen Geschicke des Landes bestimmen sollten. Die klerikalen Institutionen haben sich also direkt in die Regierung und den Staatsapparat begeben. Aber das ging nur mittels einer bonapartistischen Form der Sonderregierung.

Khomeinis nächster Schritt zur Islamisierung des Staates bestand darin, das Kabinett von liberalen religiösen Technokraten zu entlassen. Das tat er, indem er ihnen vorwarf, mit den USA zu paktieren. Danach brachte er seine Männer in die erste Reihe. Schließlich berief er eine verfassungsgebende Versammlung ein - auch das war eine Forderung aus dem revolutionären Prozess. Auf der Versammlung wurde Khomeinis ursprünglicher Entwurf abgelehnt. Die anderen Mullahs kritisierten, es gäbe zu viele Rechte für Frauen darin, und anderes mehr. Im neuen Verfassungsentwurf stand nun, die Regierung ist gottgegeben, und Gott gibt sie den Mullahs. Die Regierung muss von religiösen Experten geführt werden. Der vorherige Entwurf war ganz säkular.

Aber auch der Einfluss linker Forderungen schlug sich in der neuen Verfassung nieder. Zum Beispiel wurde festgelegt, dass die Wirtschaft in einen staatlichen Sektor, einen Kooperativsektor und einen privaten Sektor gegliedert sein soll. Und die beiden ersten Sektoren waren die dominanten. Man sieht, wie vorsichtig die neuen Machthaber aus dem Klerus ihr Projekt mit den Forderungen von unten ausbalancieren mussten. So ist es immer in Revolutionen: Sie pflügen die ganze Gesellschaft um. Selbst wenn sie besiegt sind, bleiben viele Errungenschaften als Nebenprodukte übrig.

ak: Wie lange hat es gedauert, das Projekt des islamischen Staates durchzusetzen?

Piran Azad: Die Versammlung wurde im September 1979 gewählt, aber die Arbeit dauerte mehrere Monate. In der Zeit wurde die Verfassung geschrieben, die dann - ein Jahr nach der Revolution - angenommen wurde. Erst dann wurde die Gesellschaft gemäß der neuen Verfassung umorganisiert. Das hatte sich Khomeini vorher auch nicht vorstellen können. Das war auch der Zeitpunkt, an dem die Islamisierung der Shoras in Angriff genommen wurde. Aber es dauerte noch eine Weile, bis dieser Prozess abgeschlossen war.

ak: Was heißt "Islamisierung der Shoras"?

Piran Azad: Nachdem die neue Verfassung den Iran zum islamischen Staat erklärte, hat die Regierung ein Gesetz erlassen, laut dem Kandidaten für die Shoras sich prüfenlassen mussten, ob sie Anhänger des Islam und der neuen Verfassung sind. Nach und nach wurden die nicht-islamistischen Leute aus den Räten rausgeworfen. An manchen Orten wurden die Shoras auch ganz aufgelöst. Die Universität zum Beispiel wurde komplett geschlossen. Die Begründung war, die alte Universität sei eine Institution der Imperialisten. Nun wollte man eine Kulturrevolution machen und dann eine neue, islamische Universität aufbauen. Also wurde die Universität geschlossen - drei Jahre lang! Nach der Neugründung gab es keine Räte mehr. Die Fabriken konnten natürlich nicht alle geschlossen werden. Also wurden die Räte beibehalten und in islamische Räte umgewandelt. Kommunisten und Linke wurden rausgeworfen. Erst zwei Jahre nach der Revolution war dieser Prozess weitgehend abgeschlossen. 1981 setzte dann auch die schlimme Repression gegen die gesamte Opposition ein.

ak: Wie konnten die Räte, die für ein massenhaftes Bedürfnis nach Selbstverwaltung und gesellschaftlicher Mitsprache standen, derart ausmanövriert werden?

Piran Azad: Es dauerte seine Zeit. Khomeini und seine Anhänger konnten nicht von Anfang an ihr Projekt umsetzen. Sie konnten nicht in einer konventionellen Weise den Staat wieder aufbauen. Warum? Weil es eine revolutionäre Phase war. Dieser Prozess hat alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens ergriffen. Alle Strukturen standen in Frage. Das ist die Essenz einer revolutionären Phase: Alles steht in Frage, niemand akzeptiert die Dinge, wie sie sind.

Aber der Widerspruch ging auch durch die Bevölkerung. Die Menschen wollten mitbestimmen und mitsprechen, waren aber nicht stark genug, ihre Institutionen gegen den islamischen Staat zu behaupten. Sie waren noch nicht in der Lage, auf eigenen Beinen zu stehen und ihre Autonomie zu behaupten. Als Khomeini sagte, geben Sie Ihre Waffen ab, haben alle ihre Waffen zurückgebracht. Die Mehrheit der Bevölkerung war bereit, der neuen Regierung zu folgen. Die Linken kamen mit ihrer Forderung, die Rätestrukturen aufrechtzuerhalten, nicht durch. Hätte der Kampf mit dem Schah länger gedauert, dann hätte sich das Selbstbewusstsein, das nötig gewesen wäre, um die Autonomie zu verteidigen, vielleicht entwickelt.

ak: Spielt diese kurze, aber massenhafte Erfahrung der Autonomie in den Protesten heute eine Rolle?

Piran Azad: Ja, diese Erfahrung ist sehr wichtig, obwohl die jüngere Generation, die heute protestiert, damals noch nicht dabei war. Doch solche Erfahrungen werden weitervermittelt, und heute knüpft die Jugend daran an. Aber es gibt auch einen Unterschied: Durch die neuen Kommunikationsmedien ist die heutige Protestgeneration viel stärker vernetzt. Heute kann man auch im Iran auf die Erfahrung der ganzen Welt zurückgreifen. Ein Teil der Jugend im Iran kennt sogar die Zapatisten aus Mexiko. Und sie sind in der Lage, aus der Erfahrung anderer Bewegungen zu lernen. Diese Möglichkeit gab es früher so überhaupt nicht. Damals konnte man nur auf die eigenen Erfahrungen zurückgreifen. Die Kooperation in der aktuellen Revolte ist viel tiefer. Auch die politische Kultur ist heute viel weiter entwickelt. Ich denke daher auch, dass die globalen antikapitalistischen Bewegungen viel von den derzeitigen Kämpfen im Iran und den netzwerkartigen und horizontalen Organisationsformen auf den Straßen Teherans lernen können.

ak: as ist interessant, weil die heutige Aktivistengeneration wegen der Repression ja kaum direkt an linke Erfahrungen im Iran anknüpfen kann.

Piran Azad: Ja, nach 1981 gab es eine organisierte Linke nur im Untergrund - oder im Ausland. Aber seit zwei Jahren treten die linken Studenten offen auf und bekennen sich zu ihren sozialistischen Ideen. Dafür werden sie zwar festgenommen, Hundert Studenten wurden mehrere Monate ins Gefängnis gesteckt und gefoltert. Trotzdem trauen sich die Linken heute wieder, offen zu sprechen. 25 Jahre hat es gedauert, bis das möglich war. Das zeigt auch, wie schwer die Repression 1981 war. Jeden Tag wurden Menschen hingerichtet, und viele sind verfolgt worden und im Gefängnis gelandet. Selbst Anhänger Khomeinis wurden ins Gefängnis geworfen, gefoltert und hingerichtet, weil sie Linke waren. Viele Oppositionelle sind damals geflüchtet.

ak: Auch in der aktuellen Protestbewegung ist die Linke nicht die dominante Kraft.

Piran Azad: Heute ist der Protest hauptsächlich gegen die autoritäre Regierung gerichtet, aber der liberale Diskurs darin ist sehr stark, stärker als der linke Diskurs, der Egalität und Gerechtigkeit in den Mittelpunkt stellt. Viele sagen, mit politischer Freiheit und der Einbeziehung anderer bourgeoiser Fraktionen in die Macht, wird alles besser. Dann kommen die Investoren usw. Seit 1960 ist der Iran ja ein staatskapitalistisches Land. Das hat sich auch unter den Mullahs nicht geändert. Das Einkommen kommt in die Staatskassen, und der Staat verteilt. Deshalb kritisieren die Liberalen den Staat und den Einfluss der Mullahs und versprechen, dass in einem normalen kapitalistischen System alles gut würde. Das ist fast überall auf der Welt inzwischen anders. Weltweit hat der Kapitalismus einen riesigen Legitimationsverlust erlitten. Niemand verteidigt ihn so, wie noch vor fünf Jahren. Aber im Iran ist der liberale Diskurs noch sehr stark, weil die Mullahs an der Macht sind. Die Liberalen sagen, das ist kein kapitalistisches System, sondern ein Mullah-System. Sie sagen, Ahmadineschad muss weg, weil er keine Ahnung hat und ineffizient ist. Das sind einflussreiche Interpretationen. Ich frage dann immer: Und was ist in Argentinien? Was ist in Mexiko, wo es keine Mullahs und keinen Ahmadineschad gibt? Ist da alles gut? Die wichtige Aufgabe der Linken besteht heute darin, dafür zu sorgen, dass das Problem nicht auf die Mullahs und auf Ahmadineschad reduziert wird. Unsere Aufgabe ist es, darauf hinzuweisen, dass sich auch unter einem kapitalistischen System nicht viel ändern wird. Den Diskurs müssen wir verbreitern.

ak: Vielen Dank für das Gespräch!


Anmerkung:
1) Die "holländischen Krankheit" ist keine Epidemie im bakteriellen Sinne sondern bezeichnet ein volkswirtschaftliches "Leiden". Große Außenhandelsüberschüsse, die durch den Export von Rohstoffen (häufig von Öl) erzielt werden, führen zur Aufwertung der Landeswährung. Das belastet alle anderen Exportgüter, die unter den Bedingungen einer aufgewerteten Währung nicht mehr konkurrenzfähig sind. Die Folge ist häufig der Niedergang der entsprechenden Industrien, der nicht selten die gesamte Wirtschaft des betroffenen Landes in die Krise stürzt.


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Quelle:
ak - analyse & kritik, Ausgabe 541, 21.08.2009
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. September 2009