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ANALYSE & KRITIK/410: Die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 und die Ambivalenz direkter Demokratie


ak - analyse & kritik - Ausgabe 554, 15.10.2010

Es geht ums Ganze
Die Protestbewegung gegen Stuttgart 21 und die Ambivalenz direkter Demokratie

Von Alex Demirovic


Die Geschichte der Bundesrepublik kreist um sich selbst. Endlos waren die Proteste in den 1970er und 1980er Jahren gegen den Bau von Atomkraftwerken, gegen Endlagerungsstätten, gegen Großprojekte wie die Erweiterung des Frankfurter Flughafens, gegen Militäranlagen, gegen Straßen- und Autobahnbau. Es scheint so, als ginge nichts voran. Die Herrschenden sind zäh und halten an ihren Gewinnen und ihrer Handlungslogik des Raubbaus fest als ginge es um ihr Leben. 2010 wendet sich in Stuttgart ein ungeahnt breiter Protest gegen einen neuen Bahnhof und wirft grundsätzliche Fragen zu Demokratie und bürgerlicher Herrschaft auf.

Die Atomkraftwerke sind weiter im Betrieb, der Atomkonsens wurde von Seiten der Industrie, wie von dessen KritikerInnen erwartet worden war, bei der erstbesten Gelegenheit unterlaufen. Der Bau neuer Schnellstraßen geht trotz Protest immer weiter. Ein Ende ist vor der endgültigen Asphaltierung des Landes nicht zu erkennen. Seit Jahrzehnten wird auch die Politik der Bundesbahn und Deutschen Bahn kritisiert, vor allem in Schnelltrassen zu investieren und den Regionalverkehr auszudünnen. Wegen marginaler Zeitgewinne werden enorme Kosten, Landschaftszerstörungen und infrastrukturelle Verschlechterungen in Kauf genommen.

Seit Jahrzehnten wird die Logik kapitalistischer Technologiepolitik trotz aller Einwände weiterverfolgt. Charakteristisch ist, dass dieser großindustrielle Entwicklungspfad folgenignorant ist. Nichts ist gelöst: es gibt keine Lösung für die Endlagerung des Atommülls, es ist kein Ende abzusehen beim Ausbau der Zersiedelung der Flächen durch immer weitere Gewerbegebiete, Umgehungsstraßen, Autobahnen oder Schnelltrassen, bei der Abkoppelung vieler Gebiete von den schnellen Bahnverbindungen der großen Städte.


Demonstrationen und die Spielregeln der Demokratie

Seit Jahrzehnten gibt es Protest gegen diese Entwicklung. Eine Vielzahl von Bürgerinitiativen und Verbänden hat sich seit den 1970er Jahren gebildet. Es gibt Phasen, in denen solche Proteste auch von der offiziellen Politik als Bereicherung der Demokratie beschworen werden. In anderen Phasen wiederum wird befürchtet, dass solche Proteste die sog. Modernisierung des Landes aufhalten, die Wettbewerbsfähigkeit behindern und die Autorität des Staates und der demokratischen Instanzen untergraben. Die Herrschenden wissen nicht so recht, wie sie damit umgehen sollen.

Unter der Regierung Schröder gab es beides, einerseits die Einschränkung des Verbandsklagerechts, das Verfahrensbeschleunigungsgesetz, die Verlagerung von Entscheidungen in Kommissionen und andere Formen von Governance - aus Angst, politische Entscheidungen könnten durch zu viel Mitsprache von unten "zerredet" werden. Andererseits wurde die Partizipationsbereitschaft der Zivilgesellschaft nicht nur gefordert, sondern auch gefördert, die Lichterketten, die NGOs, das Engagement und die Courage der BürgerInnen, die Zivilgesellschaft.

In jüngster Zeit hat es große Proteste gegeben gegen Laufzeitverlängerung der AKWs durch die konservativ-liberale Bundesregierung, es ist zu einer permanenten regionalen Protestmobilisierung in Stuttgart gegen den Bau eines neuen Bahnhofs gekommen. Für die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik ist dies offensichtlich überraschend. Autosuggestiv wollen sie glauben, dass die Leute politisch desinteressiert seien, das Wissen um die verheerende Wachstumslogik und die mörderischen Technologien und die Bereitschaft zum Protest unter dem Druck von Konsumismus und Existenzangst verdrängt worden sei.

Aber auch aus einer linken Perspektive ist es überraschend, dass die Widerstände sich nicht gegen die herrschende Politik der Sanierung der Banken, der Staatsverschuldung, der Verlängerung der Lebensarbeitszeit, der Verschlechterung der Gesundheits- und Altersversorgung richten, sondern sich wie seit Jahrzehnten auch jüngst wieder an solchen Technologieprojekten entzünden und zunächst vor allem die Angehörigen der Mittelklassen ergreifen.

Erstaunlich ist auch, dass die Leute es nicht als Zumutung empfinden, immer noch einmal gegen die immer gleiche Politik zu kämpfen. Dass die Atomindustrie, die BetreiberInnen anderer Großprojekte das Recht haben sollen, derart über die Lebenszeit der Menschen zu verfügen, dass Individuen über mehrere Generationen hinweg immer wieder gegen sie protestieren müssen, wäre an sich schon Grund genug, demokratisch einmal über solche Industrien und den von ihnen verfolgten Entwicklungspfad zu entscheiden. Denn eine derartige Macht, die solche Zeit- und Menschenopfer mit sich bringt, ist ökonomisch, politisch und kulturell irrational. Die VertreterInnen der kapitalistischen Handlungslogik sind, das ist offensichtlich, unbelehrbar. Die Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte sind eindeutig. Popularer Kampf gegen die Gestalter der Verhältnisse

Wie schon bei früheren Großbauprojekten wird den Protestierenden Modernisierungsfeindlichkeit, Partikularismus, Blockadehaltung und Irrationalität vorgeworfen. Scheinbar geht es also um zweierlei, um ein sachliches Problem und um eine Frage der Demokratie. Sachlich scheint in Stuttgart ein neuer Bahnhof notwendig, um das Nadelöhr des alten Kopfbahnhofs zu überwinden und das Streckennetz nach München europatauglich zu machen. Es gibt viele Argumente dafür, dass der Nutzen gering ist und in keinem Verhältnis zu den Kosten und Schäden steht. Allenfalls noch die städtischen Entwicklungsmöglichkeiten werden dann zugunsten des Projekts vorgebracht.

Aus der Linken wird auf die Irrationalität der Protestierenden hingewiesen. Sie halten öffentliche Gelöbnisse ab, weinen um einzelne Bäume, singen die Nationalhymne, protestieren im Namen des Volkes - "Wir sind das Volk" - und glauben, weil sie zum ersten Mal in Stuttgart mit einem Wasserwerfer konfrontiert sind, dort die bundesdeutsche Demokratie zu verteidigen. Im Einzelnen mögen dies irritierende, vielleicht sogar irrationale Protestpraktiken sein, doch entscheidend ist, dass sich in ihnen etwas verdichtet, das über die einzelnen Momente hinausweist. Es ist ein demokratisch-popularer Kampf gegen diejenigen, die seit Jahrzehnten in der Gestaltung der Verhältnisse immer so weiter machen, die Macht ausüben und gesellschaftlichen Reichtum aneignen, um auch morgen Macht ausüben und Reichtum aneignen zu können. Deswegen sind die sachlichen Widersprüche, der Protest und die Forderung nach Demokratie gar nicht zu trennen.

Von den Herrschenden wird auf die Legitimität durch Verfahren verwiesen: Die Entscheidungen seien rechtsstaatlich und in demokratischen Verfahren zustande gekommen. Alle Einsprüche der BürgerInnen, mehr als zehntausend, wurden gerichtlich bearbeitet und verworfen, nicht zuletzt deswegen hätten die Planungen 17 Jahre gedauert. Der Bahnhofsbau sei ein allgemeinverbindlicher Beschluss. Der Chef der Deutschen Bahn AG, Rüdiger Grube: "Alle Gremien haben (das Projekt Stuttgart 21) mit großen Mehrheiten in Bund, Land, Stadt und Region gutgeheißen. Wenn etwas anderes gewollt gewesen wäre, hätte man damals jederzeit darüber reden können. Jetzt sage ich: Demonstrationen ersetzen keine demokratischen Spielregeln." (Süddeutsche, 2./3.10.10)

Dieses Argument gehört zu den Techniken moderner Herrschaft. Erst werden von den Herrschenden Fakten geschaffen und Verträge geschlossen - und dann wird verlangt, diese Fakten als unumstößlich anzuerkennen. Herr Grube spricht auch sehr deutlich die Konsequenz aus, wenn diesem autoritären Appell an die Unterwerfungsbereitschaft unter die Fakten nicht gefolgt wird. "Ich sage Ihnen: Wenn Stuttgart 21 nicht kommt, wird in Deutschland wahrscheinlich kein Großprojekt mehr durchzusetzen sein." Auf diese Weise weist auch für die Herrschenden das Projekt über sich hinaus und wird zu einem Präzedenzfall für die Erhaltung von Herrschaft und ihrer Logik selbst. Der neue Bahnhof soll demnach nicht nur der Sache wegen verwirklicht werden, sondern mehr noch wegen aller weiteren solchen Projekte, die sich über die Leute hinwegsetzen. Es geht um die Macht, die Entwicklung der Gesellschaft selbst zu bestimmen.

Demonstrationen, die Großprojekte in Frage stellen, wenden sich aus der Sicht der Herrschenden gegen die Demokratie. Doch Demonstrationen gehören zu den Spielregeln der Demokratie und vertiefen sie. Es gehört zu den definierenden Merkmalen der Demokratie, dass der demokratische Souverän das Recht zur Revision seiner früheren Entscheidungen hat. Da ist niemand, der ihn binden kann, auch seine Abgeordneten nicht. Diejenigen, die es versuchen, verfolgen selbst nur partikulare Interessen und verstecken sich hinter Verfahren, die sie zu ihren Gunsten organisiert haben. Die Protestbewegung erwartet zu Recht wenig vom Parlament und Neuwahlen. Denn CDU und FDP halten an den Entscheidungen fest, auch die SPD, die allenfalls noch weitere Konsensgespräche anmahnt, am Projekt aber nicht zweifelt. Die Wahlen werden also substanziell wenig Neues bringen. Es bietet sich an, das Verfahren eines Volksbegehrens nach einem Volksentscheid in Gang zu bringen.


Fakten schaffen als Herrschaftstechnik

Von Volksentscheiden erwarten sich VertreterInnen radikaler Demokratie viel. Dabei wird außer Betracht gelassen, dass Volksbegehren und Volksentscheide selbst langandauernde Verfahren sind, die sehr viel Zeit in Anspruch nehmen und den politischen Prozess in hohem Maße formalisieren - demnach den Willen der Leute keineswegs direkt zum Ausdruck bringen. Die Erfahrungen der sozialen Protestbewegung mit Volksentscheiden sind ambivalent. Manche waren erfolgreich, andere wurden massiv bekämpft und haben den sozialen Protesten ihre Grundlage entzogen. Denn es muss ein Alternativgesetz formuliert werden, auf das das Volk im Entscheid allein mit Ja oder Nein reagieren kann - das entpolitisiert.

Zwar kann auch der Volksentscheid politisieren, doch er bindet über eine lange Verfahrensdauer enorme politische Kräfte von politisch Engagierten, die Mühe haben werden, so viel Zeit aufzubringen wie die Vielzahl von professionellen Politikern, Werbefirmen, Medien oder Unternehmen, die diese Zeit gegen die Bevölkerung zu nutzen wissen. Zu rechnen ist damit, dass der Gesetzesentwurf juristisch geprüft und als verfassungswidrig zurückgewiesen wird. In der Zwischenzeit können weitere Bauarbeiten weitere Fakten schaffen, die einen Rückbau derart teuer erscheinen lassen, dass ihn kaum noch jemand will. Selbst wenn das Volksbegehren durchkommt, kann der Volksentscheid negativ ausfallen, weil das Quorum (ein Drittel aller Stimmberechtigten des Landes Baden-Württemberg) nicht erreicht wird oder viele nicht unmittelbar Betroffene das Alternativgesetz ablehnen. Auf diese Weise sind die GegnerInnen des Bauprojekts an das Verfahren gebunden, das sie selbst in Gang gesetzt haben, und können ihren Protest kaum noch aufrechterhalten.

Die Probleme des parlamentarischen Verfahrens wiederholen sich im Kontext des Volksentscheids. Obwohl nur wenige abstimmen, sind der Sache nach aber alle BürgerInnen der Bundesrepublik betroffen, denn die Verantwortlichen der Bahn und der Bundesregierung haben Stuttgart 21 schon längst zu einer Frage der repräsentativen Demokratie und aller Großprojekte erhoben. Die Diskussion über ein Volksbegehren kann die Frage politisieren, wie eigentlich angemessene Verfahren auszusehen hätten, die zu demokratischen Entscheidungen über solche weitreichenden Projekte führen. Gleichzeitig zeigt aber gerade die Erfahrung der Schweiz, dass Volksentscheide weitgehend konservativ und Status Quo orientiert ausfallen. Die Politik des Volksbegehrens und des Volksentscheids über Stuttgart 21 reduziert die Komplexität des Problems, das in einer grundlegenden Demokratisierung der Demokratie besteht.

Eine solche Demokratie muss bis an die Entscheidungen über die gesellschaftlichen Entwicklungspfade, die Investitionen und die Technologiewahl reichen. Dies würde den Zustand beenden, dass die Leute immer hinterher protestieren müssen und sich in ihrer Machtlosigkeit auch noch vorhalten lassen müssen, dass sie gleich ihre Einwände hätten vorbringen können. Die Perspektive ist das Gemeinsame: gemeinsam das Gemeinsame erzeugen und gestalten. Deswegen wäre aus demokratiepolitischen Gründen zu wünschen: freie, sprich kostenlose Fahrt für freie BürgerInnen auf allen Bahnstrecken, die allen gehören und nach dem Bedarf aller von allen mitbestimmt werden.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2010