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ANALYSE & KRITIK/432: Die Debatte um Gentrifizierung ist verkürzt


ak - analyse & kritik - Ausgabe 558, 18.02.2011

Die Debatte um Gentrifizierung ist verkürzt
Der Wandel der Stadt ist ohne den Wandel der Arbeit nicht zu verstehen

Von Arndt Neumann


Wenn man die Debatte über Gentrifizierung verfolgt, dann scheint sich die These vom Ende der Arbeitsgesellschaft zu bewahrheiten, zumindest in den innenstadtnahen Altbauquartierten. Die zentrale Forderung ist die nach bezahlbarem Wohnraum. Arbeit kommt, wenn überhaupt, nur am Rande vor. Doch ohne eine Betrachtung der Arbeit lassen sich die Umbrüche in den Zentren der Städte nicht verstehen.

In der Debatte über Gentrifizierung spielt Arbeit keine Rolle. Diese Einseitigkeit steht im offenen Kontrast zu dem Alltag in den Vierteln. Ob Freelancer in Ladenwohnungen, KellnerInnen in Cafés und Kneipen oder HandwerkerInnen in Hinterhofwerkstätten: Die von Gentrifizierung betroffenen Viertel sind von einer Vielzahl von Arbeitsorten durchzogen. Aber weil es in der Debatte um Grentrifizierung häufig nur ums Wohnen geht, gerät aus dem Blick, dass jenseits des Industriearbeiters und jenseits der Angestellten eine Vielzahl neuer Arbeitsformen entstanden ist. Ebenso wie der städtische Raum hat sich auch Arbeit in den letzten Jahrzehnten grundlegend verändert. Erst wenn man diese Veränderungen in den Blick nimmt, lässt sich fassen, wie eng Gentrifizierung und prekäre Arbeit zusammenhängen.

Jede Arbeit ist an einen bestimmten Raum gebunden. In dem Maße, in dem sich die Arbeit ändert, ändert sich auch der Raum. In dem Maße, in dem sich der Raum ändert, ändert sich auch die Arbeit. Was dies für die Vorgeschichte der Gegenwart bedeutet, lässt sich mit der modellhaften Gegenüberstellung von fordistischem und postfordistischem Raum genauer fassen.


Vom fordistischen zum postfordistischen Raum

Bis 1970 kann man auch in Hamburg Industrialisierung und Urbanisierung nicht voneinander trennen. Hafen und Werften waren die Motoren der Hamburger Wirtschaft. Zugleich wuchs die Zahl der Beschäftigten in den Verwaltungen der großen Konzerne. IndustriearbeiterInnen und Angestellte prägten die Arbeitswelt. Dabei lassen sich vier wesentliche Überschneidungen zwischen der fordistischen Arbeitsorganisation und der modernen Stadtplanung ausmachen: Funktionstrennung, Statut der Lohnarbeit, Planung und Abkehr von der Stadt.

Sowohl in der Industrie als auch in den Verwaltungen war Lohnarbeit und damit die Trennung von Arbeit und Leben das allgemeine Modell. Es gab feste Arbeitszeiten und Stechuhren. Die Arbeit war an Fabrikhallen und Großraumbüros gebunden. Und sie wurde klar von den unbezahlten Tätigkeiten im Haushalt, die von Frauen verrichtet wurden, unterschieden. Diese Trennung zwischen Arbeit und Leben setzte sich auch in der modernen Stadtplanung fort. In der "Charta von Athen", dem zentralen Dokument der modernen Stadtplanung, wurden mit dem Wohnen, der Arbeit, der Erholung und dem Verkehr vier Funktionen der Stadt ausgemacht. Diese sollten voneinander getrennt und verschiedenen Stadtteilen zugeordnet werden. Ausgehend von dieser Funktionstrennung war Lohnarbeit bis in die 1970er Jahre hinein vor allem in bestimmten Stadtvierteln konzentriert. In der City und der City Nord arbeiteten die Angestellten, im Hafen und in den Werften die IndustriearbeiterInnen. Zugleich wurden Trabantenstädte gebaut, die allein auf das Wohnen und damit auf die Hausarbeit ausgerichtet waren.

Lohnarbeit war in der Nachkriegszeit in der Regel mit einer grundlegenden sozialen Absicherung verbunden. Krankenversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung galten als Norm. Dieses Statut der Lohnarbeit war nicht auf den Arbeitsbereich beschränkt, sondern prägte auch den Wohnungsbau. Die "Wohnung für das Existenzminimum" war eines der zentralen Themen der modernen Stadtplanung und Architektur. Allein in den 1960er und 1970er Jahren entstanden in Hamburg in den Trabantenstädten Zehntausende von Wohnungen in modernen Plattenbauten. Wie die anderen sozialen Absicherungen auch, war der soziale Wohnungsbau vor allem eine Errungenschaft der Arbeiterbewegung.

Zentralisierung und Planung bestimmten bis in die 1970er hinein die Arbeitsorganisation. Großtechnologien wie das Fließband oder der Großcomputer waren prägend. Die Beschäftigten hatten sich den starren Hierarchien und dem Rhythmus der Maschinerie unterzuordnen. Soziale Kontakte, die über diese hierarchische Organisationsstruktur hinausgingen, galten als potenzielle Störfaktoren. Dieser Versuch des Managements, die Fabriken und Büros bis in die kleinsten Arbeitsabläufe zu planen, fand in der modernen Stadtplanung seine Entsprechung. Der chaotischen Stadt des 19. Jahrhunderts wurde der "Plan der Stadt" entgegengestellt. Ob der Weg von der Wohnung zur Arbeit oder vom Wohnzimmer zur Küche: Alles wurde geplant und geordnet. Alle überflüssigen Begegnungen sollten vermieden werden. Nicht zuletzt deshalb setzte sich die moderne Stadtplanung zum Ziel, die soziale Dichte der Stadt zu verringern.

Vor allem nach 1945 war die Stadtentwicklung durch einen Sog nach außen gekennzeichnet. Fabriken und Bürogebäude wurden an den Rand der Stadt verlagert. Neue Sozialwohnungen entstanden in den Trabantenstädten. Familien aus der Mittelschicht zogen in die Vororte; der Speckgürtel entstand. Während wirtschaftliche Entwicklung und Bautätigkeit auf die Ränder ausgerichtet waren, verfielen die innenstadtnahen Altbauquartiere. Sie standen für alles, was die moderne Stadtplanung verachtete: für die fehlende Trennung zwischen Arbeit und Wohnen, für schlecht ausgestattete Wohnungen, für ein chaotisches Durcheinander. Sie galten als Überreste vergangener Zeiten, die bald abgerissen werden würden.

Dieser durch Funktionstrennung, Statut der Lohnarbeit, Planung und Abkehr von der Innenstadt geprägte fordistische Raum ist seit 1970 in die Krise geraten. Mit dem Werftensterben und der Einführung des Containers hat sich die Zahl der in den Werften und im Hafen Beschäftigten deutlich verringert. Zugleich haben neue Branchen an Bedeutung gewonnen. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der Diskussion über die Kreativwirtschaft. Vor diesem Hintergrund haben sich in den letzten Jahren die Konturen eines postfordistischen Raumes herausgebildet. Dies lässt sich wiederum an vier Charakteristika herausarbeiten: Entgrenzung von Arbeit und Leben, Prekarität, Netzwerke und Rückkehr in die Stadt.


Prekarität und Aufwertung der Stadt gehen Hand in Hand

Arbeit hat heute die Grenzen der Großraumbüros und Fabriken hinter sich gelassen und breitet sich über die gesamte Stadt aus. Besonders deutlich zeigt sich dies bei Freelancern und anderen Selbstständigen, für die es keine festen Arbeitsorte mehr gibt und die vielfach auch von zu Hause aus arbeiten. Und es zeigt sich bei der affektiven Arbeit, die nicht mehr auf die Hausarbeit beschränkt ist, sondern an ökonomischer Bedeutung gewinnt - von der Pflegearbeit bis hin zu Wellness und Yoga. Diese Entgrenzung setzt sich auch in der Stadtplanung fort. Von Funktionstrennung ist keine Rede mehr. Im Gegenteil. Die innerstädtischen Altbauviertel, die seit jeher durch Kleinteiligkeit und die Mischung von Arbeiten und Wohnen gekennzeichnet waren, gelten nicht mehr als Überreste der Vergangenheit, sondern als Modelle für die Zukunft.

Lohnarbeit und soziale Absicherung sind heute längst nicht mehr die Norm. An die Stelle des Statuts der Lohnarbeit ist die Prekarität getreten. Dies setzt sich auch in der Stadtplanung fort. Die Stadt hat sich weitgehend aus dem sozialen Wohnungsbau zurückgezogen. Wohnungen und Häuser werden privatisiert. Während die Stadt sich auf Repräsentationsbauten wie etwa die Hamburger Elbphilharmonie konzentriert, liegt der Wohnungsbau erneut in den Händen privater Wohnungsbaugesellschaften.

Heute sind Zentralisation und Planung, im Unterschied zu der Zeit vor 1970, nicht mehr gleichbedeutend mit Effizienz. An ihre Stelle sind Outsourcing an SubunternehmerInnen und Freelancer sowie kurzfristige Projektarbeit getreten. Grundlage der heutigen Arbeitsorganisation sind der Computer und das Internet. Damit hat sich die ökonomische Bedeutung von sozialen Beziehungen grundlegend verändert. Netzwerk-Unternehmen beruhen auf einer Vielzahl von Kontakten und einer möglichst großen sozialen Dichte. Diese Abkehr von Planung und Zentralisation kennzeichnet auch die heutige Stadtplanung. Auch hier rücken temporäre Architektur und Zwischennutzung ins Blickfeld. Viel wichtiger ist jedoch, dass auch soziale Dichte heute anders bewertet wird. Während das Leben auf der Straße und in Kneipen den VerfechterInnen des sozialen Wohnungsbaus als unmoralisch galt, sind lebendige Straßen heute ein zentrales Verkaufsargument für ImmobilienmaklerInnen.

Von der City Nord über das Hafengebiet bis hin zu den Trabantenstädten und Vororten waren alle Stadtteile auf eine bestimmte Form von Arbeit ausgerichtet. Sie waren durch die Trennung von Arbeit und Leben, durch Statut der Lohnarbeit und durch Zentralisation geprägt. In dem Maße, in dem sich die Arbeitswelt verändert hat, haben diese Viertel an Bedeutung verloren. Zugleich lässt sich in den innenstadtnahen Altbauvierteln eine entgegengesetzte Entwicklung verfolgen. Gerade weil diese Viertel Entgrenzung und Dichte ermöglichen, rücken sie immer mehr in den Fokus der ökonomischen Entwicklung, angefangen von KünstlerInnen, StudentInnen und ArbeitsmigrantInnen, die sich den Raum aneignen, über Alternativprojekte, neue Selbstständige und New Economy bis hin zur gegenwärtigen Immobilienspekulation.


Studenten und Künstler sind nicht das Problem

Erst wenn man den Wandel der Arbeitswelt in den Blick nimmt, lässt sich begreifen, wieso die innerstädtischen Altbauquartiere in das Zentrum der ökonomischen Entwicklung gerückt sind. Zugleich ermöglicht diese Perspektive ein anderes Verständnis der gegenwärtigen Auseinandersetzungen. Dies lässt sich an zwei zentralen Begriffen verdeutlichen, die bisher die Debatte um Gentrifizierung prägen: Aufwertung und Verdrängung. Der Begriff der Aufwertung beschreibt den Prozess, der der Verdrängung der ärmeren BewohnerInnen eines Stadtteils vorangeht. KünstlerInnen und StudentInnen ziehen in einen billigen Stadtteil; durch die neuen Lebensstile verändert sich das Image des Stadtteils, Immobilienfonds werden aufmerksam und beginnen, alte Häuser zu sanieren und Eigentumswohnungen neu zu bauen. Wer von Aufwertung spricht, spricht immer auch von einer Komplizenschaft zwischen KünstlerInnen, StudentInnen und ImmobilienspekulantInnen. Daher auch der bohemistische Schuldkomplex.

Aber es ist auch eine andere Perspektive möglich. Vorausgesetzt, man nimmt Arbeit und Ausbeutung in den Blick. Der Wert von Immobilien beruht nicht nur auf der Größe des Grundstücks und der Ausstattung des Gebäudes. Er beruht immer auch auf dessen Lage und damit auch auf dem Image des Stadtteils, in dem das Gebäude steht. Und dieses Image ist durch die Arbeit der BewohnerInnen gemeinsam produziert worden: durch die Cafés, Kneipen, Clubs und Galerien, die sie betreiben, durch die verschiedenen kulturellen, sozialen und politischen Projekte, die sie organisieren. Immobilien in gentrifizierten Stadtteilen sind gerade deshalb so lukrativ, weil die Immobilienfonds keinen einzigen Cent für das Image und damit für die Arbeit der dort Lebenden bezahlen. Wenn man Immobilienspekulation in diesem Sinne als Enteignung des Gemeinsamen fasst, dann gibt es keine Komplizenschaft zwischen KünstlerInnen und ImmobilienspekulantInnen. Die einen verdienen Millionen, die anderen bekommen nichts.

Der Begriff der Verdrängung beschreibt, dass ärmere BewohnerInnen aufgrund steigender Wohnungsmieten gezwungen sind, einen Stadtteil zu verlassen. Aber Verdrängung ist nicht nur eine Frage von zu teuren Wohnungen, sondern auch eine von zu teuren Gewerbe-, Büro- und Atelierräumen. Zwischennutzung ist für KünstlerInnen häufig die einzige Möglichkeit, um an bezahlbare Atelierräume zu kommen. Viele Selbstständige arbeiten von ihrer Wohnung aus, weil Büroräume zu teuer sind. Kleine Läden werden durch Flagshipstores verdrängt. Hinterhofwerkstätten werden abgerissen und durch neugebaute Eigentumswohnungen ersetzt.

Nur mit einem weiten Begriff von Verdrängung lässt sich das Ausmaß der Umbrüche in den innenstadtnahen Altbauquartieren begreifen. Gentrifizierung und prekäre Arbeit sind eng miteinander verknüpft. Dies in den Blick zu nehmen, ermöglicht ein genaueres Verständnis der gegenwärtigen Umbrüche in den Zentren der Städte. Aber vor allem ermöglicht es, die Konfliktfelder zu vervielfältigen. Und genau das ist nötig, um die wachsende Stadt mit Projekten zu umstellen.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. März 2011