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ANALYSE & KRITIK/487: Argentinien - Von der Pleite zum Boom


ak - analyse & kritik - Nr. 569 - 17.02.2012
zeitung für linke Debatte und Praxis

Von der Pleite zum Boom
Argentiniens Wirtschaft prosperiert seit dem Staatsbankrott 2001

Von Martin Ling


Ein Blick nach Argentinien könnte in Griechenland für Optimismus sorgen: Ein Staatsbankrott kann ein Ende mit Schrecken sein und nicht ein Schrecken ohne Ende, wie ihn Hellas seit Jahren und noch ganz ohne offiziellen Staatsbankrott erlebt. Vor zehn Jahren, von Dezember 2001 bis Februar 2002 lag Argentinien nach dem größten Staatsbankrott der jüngeren Geschichte komplett am Boden. Die politische Klasse leistete ihren Offenbarungseid. Fünf Präsidenten in zwei Wochen gaben sich die Klinke in die Hand, anstatt der Forderung »Que se vayan todos!« auf den Massendemonstrationen nachzukommen und abzuhauen. Erst mit dem Amtsantritt von Néstor Kirchner im Mai 2003 stabilisierte sich die Lage deutlich. In der seitdem andauernden Ära des »Kirchnerismo« legte Argentinien Wachstumsraten in annähernd chinesischen Dimensionen vor.

Nun werden Überlegungen angestellt, inwieweit der argentinische Weg aus der Krise Athen als Modell dienen könnte. Dabei ist offensichtlich, dass Griechenland als Mitglied der EU und der Eurozone dem argentinischen »Modell« nur mit der Zustimmung von Brüssel, Berlin und Paris folgen könnte - und die wird es sowenig geben, wie einst vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und dem Pariser Club (Zusammenschluss von Gläubigerländern) für Argentinien. Denn diesen Institutionen und Regierungen geht es grundsätzlich darum, die Gläubigeransprüche soweit zu retten, wie es das Land eben zulässt, ohne dass die Interessen der Durchschnittsbevölkerung berücksichtigt werden.

Dass Griechenland der EU und den internationalen Finanzinstitutionen die Stirn bietet und sich wie Argentinien »freiwillig« in die Isolation der Finanzmärkte begibt, ist nicht zu erwarten - zumal das Land realökonomisch mit seiner geringen Produktivität und eingeschränkten Exportpalette nicht die Voraussetzungen hat, ein sich selbst tragendes Wirtschaftswachstum zu erzeugen. Dies gelang Argentinien, nachdem es sich von den IWF-Rezepten losgesagt hatte.


Argentinien und Griechenland im Vergleich

Oberflächlich ist die Situation Griechenlands durchaus mit der Argentiniens vergleichbar. Argentinien taumelte seit 1998 wie jetzt Griechenland mehrere Jahre durch eine schwere Rezession. Das Wachstum stagnierte, der Peso war per Gesetz an den Dollar gekoppelt, was eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt mittels Abwertung ebenso ausschloss wie jetzt bei Griechenland aufgrund der Gemeinschaftswährung. Wie in Athen folgte auch in Buenos Aires Sparpaket auf Sparpaket. Und hier wie dort führten diese immer tiefer in die Krise. Damit aber enden die Parallelen.

Ein Einfrieren der Bankguthaben, um die Kapitalflucht einzudämmen, wie es die Regierung von Fernando de la Rúa im Dezember 2001 verfügte, ist jenseits des Handlungsspielraums eines griechischen Premiers. Gleiches gilt für die einseitige Einstellung der Schuldenzahlungen, wie sie Übergangspräsident Adolfo Rodríguez Sáa nach dem Rücktritt de la Rúas in der letzten Dezember-Woche des Jahres 2001 verkündete. Damals stand das Land mit mehr als 100 Milliarden Dollar bei GläubigerInnen auf der ganzen Welt in der Kreide. Anfang 2002 hob der neue Präsident Eduardo Duhalde dann die seit 1991 gesetzlich festgeschriebene Bindung der Landeswährung Peso an den Dollar auf, die bedeutende Teile der heimischen Exportwirtschaft wegen der sukzessiv angestiegenen Überbewertung in den Ruin getrieben hatte.

Seit dem Staatsbankrott 2001/2002 ist Argentinien ein »Paria« auf den internationalen Finanzmärkten. Zudem kam der harte Kurs des von 2003 bis 2007 amtierenden Präsidenten Néstor Kirchner gegenüber den privaten GläubigerInnen nicht gut an. Nach dem sonst nur vom IWF bekannten Motto »Friss oder stirb« bot er 2005 den privaten AnlegerInnen an, entweder auf 75 Prozent ihrer sich insgesamt auf 104 Milliarden US-Dollar belaufenden Forderungen zu verzichten oder ganz leer auszugehen.

Die Rechnung ging für Argentinien zu 80 Prozent auf. Nach zwei weiteren Umschuldungsaktionen im Dezember 2010 sind inzwischen rund 93 Prozent der 2001 notleidend gewordenen Anleiheschulden umgeschuldet. Die Regierung der 2007 ihrem 2010 verstorbenen Mann an die Staatsspitze folgenden Cristina Kirchner hofft nun, dass jene AltgläubigerInnen, die weiterhin auf volle Rückzahlung ihrer Forderungen klagen, bei RichterInnen auf taube Ohren stoßen. Noch immer beläuft sich der vor Gerichten in aller Welt verhandelte Streitwert aus Argentinien-Anleihen auf mehr als vier Milliarden Dollar. Nach ihrer triumphalen Wiederwahl Ende Oktober 2011 wird auch erwartet, dass Cristina Kirchner die laufenden Verhandlungen mit dem Pariser Club zu einem baldigen Ende bringt. Den dort versammelten Gläubigerländern schuldet Argentinien seit 2001 rund sieben Milliarden Dollar, die nun beglichen werden sollen. Um die Konditionen wird jedoch noch gefeilscht.

Zwar hat die »Paria-Stellung« Argentinien de facto vom internationalen Kapitalmarkt abgeschnitten, doch das Land konnte das gut verkraften. Das beträchtliche Wirtschaftswachstum von 2003 bis 2007 mit jährlichen Raten von über acht Prozent kam ohne Zufluss von ausländischem Kapital zustande - in Griechenland wäre ein solches Szenario aufgrund der Schwäche der Binnenwirtschaft undenkbar.

Und auch nach dem Einbruch 2009 durch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise kombiniert mit einer Dürre konnte Argentinien bereits 2010 wieder über sieben Prozent Wachstum verzeichnen. Ein generelles Ende dieses Wirtschaftsbooms ist nicht in Sicht, wenngleich Argentinien nicht frei von weltwirtschaftlichen Konjunkturen und Verwerfungen sowie interner Probleme wie relativ hoher Inflation und Kapitalflucht ist.

Eine kurz vor Kirchners Wiederwahl erschienene Studie des Centre for Economic Policy Research (CEPR) in Washington belegt, wie bemerkenswert gut sich die wirtschaftlichen und sozialen Indikatoren in den ersten neun Jahren nach der Zahlungsunfähigkeit entwickelt haben. Argentinien erzielte dieses Wachstum während der letzten neun Jahre trotz der Zahlungsunfähigkeitserklärung, trotz der Schwierigkeiten, auf den internationalen Kapitalmärkten Geld zu bekommen, und trotz relativ geringer ausländischer Direktinvestitionen (FDI), so die AutorInnen Mark Weisbrot, Rebecca Ray, Juan Montecino und Sara Kozameh. Laut der Studie hat die Armut gegenüber ihrem höchsten Punkt um zwei Drittel abgenommen, von fast der Hälfte der Bevölkerung in 2001 auf ungefähr ein Siebtel Anfang 2010. Die extreme Armut sei ebenso stark gesunken, von über einem Viertel der Bevölkerung in 2001 auf rund ein Fünfzehntel. Vier Millionen Arbeitsplätze entstanden unter dem »Kirchnerismo«.

Der allgemein verbreiteten Auffassung, dass Argentiniens Wachstum allein von hohen Preisen für seine Agrarexporte, insbesondere Soja, getrieben sei, wird in der Studie widersprochen. In der Tat hatte Argentinien schon vor dem ab 2006 einsetzenden Sojaboom hohe Wachstumsraten, die vor allem auf der Revitalisierung der argentinischen Wirtschaft infolge der durch die massive Abwertung des Peso gestiegenen Wettbewerbsfähigkeit beruhten.

Über die ökologischen und sozialen Folgen der Sojaexpansion wird hinweggesehen: Die Felder werden meist mit einem Cocktail aus Agrochemikalien besprüht, gegen die das genveränderte Soja resistent ist. Hauptwirkstoff: Glyphosat. Die Folgen sind unter anderem Fehlgeburten und Missbildungen und eine Zunahme der Krebserkrankungen. Eine gesellschaftliche Debatte über Gensoja findet kaum statt.


Unorthodoxe Methoden

Neben den Sojaexporten und dem hohen privaten Konsum sind es vor allem die Autoindustrie und die Telekommunikations- und Softwarebranche, die Argentiniens Wirtschaft antreiben. Auch ein massiver Ausbau des Bergbaus ist geplant - im Fokus steht die Produktion von Gold, Silber, Kupfer, Lithium und Kaliumchlorid. Hier wird sich erweisen müssen, ob das 2010 verabschiedete Gletscherschutzgesetz wie auf dem Papier festgeschrieben Bergbauprojekten wenigstens dort Grenzen setzt, wo Gletscher oder deren Umfeld gefährdet sind.

Das Potenzial für anhaltendes Wirtschaftswachstum ist gegeben. Für Roberto Lavagna, der als Wirtschaftsminister von 2002 bis 2005 den Grundstein für diese wirtschaftliche Entwicklung legte, sich inzwischen aber zum Kritiker der Wirtschaftspolitik des »Kirchnerismo« gewandelt hat, besteht Grund zur Besorgnis: »Die Inflation ist hoch, die Preise steigen immer weiter, die Haushaltsdisziplin wurde aufgegeben. Während die Steuereinnahmen sinken, steigen die Ausgaben des Staates. 2005 hatten wir noch ein Plus im Haushalt von 16 Milliarden Dollar, in diesem Jahr wird die Regierung ein Defizit aufweisen. Investitionen, die nötig wären, werden nicht getätigt.«

Kirchner steuert mit unorthodoxen Mitteln dagegen: Seit Jahresbeginn 2011 verlangt Argentinien, dass Autohersteller genauso viel exportieren wie importieren, um die Handelsbilanz zu verbessern und den schneller als die Exporte steigenden Importen entgegenzuwirken. Seitdem tritt Porsche als Weinhändler auf, Nissan will seine Quote unter anderem durch die Ausfuhr von Sojaöl und Biodiesel erfüllen. Solche Gängelung von Unternehmen kann sich nur eine Regierung leisten, die weiß, dass die Unternehmen auf den Absatzmarkt ihres Landes angewiesen sind.

Die von Lavagna angesprochenen Defizite bei den Investitionen könnten sich allerdings zur Achillesferse des argentinischen Wirtschaftswunders entwickeln: Ohne Innovation und Erneuerung des Kapitalstocks kann die wirtschaftliche Dynamik nicht aufrechterhalten werden. Ganz zu schweigen davon, dass der die Böden auslaugenden Sojamonokultur ebenso wie dem privaten Konsum natürliche beziehungsweise monetäre Grenzen gesetzt sind.


Martin Ling schrieb zuletzt in ak 568 über die Wahlen in Jamaika.


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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Februar 2012