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ARBEITERSTIMME/210: Bolivien - Oligarchie ausgebremst, schnellere Umgestaltung möglich


Arbeiterstimme, Frühjahr 2010, Nr. 167
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Bolivien nach der Wahl:

Oligarchie ausgebremst, schnellere Umgestaltung möglich


"Am 6. Dezember steht der Anden-Sozialismus des Evo Morales auf dem Prüfstand, und alle Umfragen sprechen ihm bei der Präsidentenwahl einen großen Sieg zu." So war es in der Süddeutschen Zeitung vom 24.11.2009 zu lesen. Es stand zwar kein wie auch immer Sozialismus zur Wahl, aber mit der Prognose lag der Journalist Sebastian Schoepp durchaus richtig.


Als der amtierende Präsident dann mit 64% sein Ergebnis von vor fünf Jahren - damals waren es 53,7% - noch einmal deutlich verbesserte, sorgte das schon für Überraschung. Evo Morales konnte seinen Stimmenanteil in etwa verdoppeln. 2005 gab es 3,5 Millionen Wahlberechtigte, 2009 waren es bereits 5,1 Millionen.

Politisch noch bedeutender waren jedoch die Ergebnisse der Parlamentswahlen. Ging es doch um die strategisch brisante Frage, ob die Regierung des MAS, der Bewegung für den Sozialismus, die Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments erreichen würde. Und laut Einschätzung von Barbara Conty, Projektkoordinatorin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in La Paz, würde "es kaum eine absolute Mehrheit für die MAS in der plurinationalen Versammlung geben". Ja, sie schloss diese Möglichkeit sogar aus und erläuterte:

"In der neuen Verfassung sind neue Formen von Repräsentativität festgelegt, die den Einfluss von Parteien erheblich schwächen. Daher ist klar (!), dass die Regierungspartei MAS keine eigene Mehrheit erringen wird. (...) Sicher wiederum ist, dass die Rechte über die Senatorenkammer viele Initiativen blockieren wird."

Frau Conty lag daneben. Und es wurde auch hier ein fulminanter Wahlsieg, der in der Abgeordnetenkammer 85 der 130 Sitze einbrachte. Besonders bitter für die Opposition, die vordem im Senat mit ihrer Mehrheit die Reformgesetzgebung der Regierung blockieren konnte, dass in dieser Kammer der MAS mit 25 der 36 Sitze die Rechtskonservativen ins Abseits stellte. Also eine Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern der "Plurinationalen Gesetzgebenden Versammlung" und das bei einer Wahlbeteiligung von 94%.


Das Tempo wird beschleunigt

Die Zwei-Drittel-Mehrheit in beiden Kammern ist von besonderer Bedeutung, da das neu gewählte Parlament Asamblea Legislativa Plurinacional bereits in den nächsten Monaten eine Reihe von Ausführungsgesetzen im Rahmen der neuen Verfassung erlassen muss. Die besten Voraussetzungen um in der Amtsperiode bis 2015 "den Prozess des Wandels jetzt zu beschleunigen" (E. Morales). Anlässlich der Einführung zu seiner zweiten Amtszeit versprach der alte und neue Präsident zwar nicht die Einführung des Sozialismus, aber dafür die "Abschaffung des Neoliberalismus". Der MAS war in sechs Departamentos siegreich: La Paz 80%, Torero 79%, Potosi 78%, Cochabamba 68%, Chuquisaca 56%. Selbst in Tarija, Teil der reaktionären Media-Luna-Provinzen im Osten des Landes, erreichte der MAS eine Mehrheit mit 51%. Für sich entscheiden konnte die rechte Opposition nur die drei Provinzen Santa Cruz, Pando und Beni, wobei der MAS auch hier in den Hochburgen der militanten Rechten auf beachtliche Ergebnisse zwischen 37% und 44% kam. Nach der neuen Verfassung gibt es sieben Spezialwahlkreise für Vertreter indigener Minderheiten. Alle sieben Wahlkreise gingen an Vertreter des MAS. Erwähnenswert ist auch der Anteil der weiblichen Abgeordneten mit 28 Prozent, darunter die erste Senatspräsidentin in der Geschichte Boliviens.

Der aussichtsreichste Präsidentschaftskandidat der politisch zersplitterten nationalen Bourgeoisie war der Exgeneral und frühere Präfekt von Cochabamba, Manfred Reyes Villa. Der in der "Escuela de las Americas" ausgebildete Militär hatte dem Diktator Garcia Meza als Sicherheitschef gedient und als Bürgermeister von Cochabamba die Privatisierung des Wassers veranlasst, was im Jahr 2000 zum "Wasserkrieg von Cochabamba" führte: Mit 27% landete er weit abgeschlagen. Reyes Villa war von der illusionären Hoffnung ausgegangen, Morales in die Stichwahl zwingen zu können um ihn dann mit der geballten Unterstützung von Großbourgeoisie und Teilen der Mittelschichten schlagen zu können. Bereits einige Tage nach der Präsidentschaftswahl war er nach Peru geflohen und von dort aus in die Vereinigten Staaten. Er soll sich in einer luxuriösen Wohnung in Miami versteckt halten, die er und seine Frau im Jahr 2004 gekauft haben. Sein Vizepräsidentschaftskandidat Leopoldo Fernandez, Besitzer riesiger Viehherden, ehemaliger Präfekt des Departements Pando, sitzt seit September 2008 wegen eines von ihm zu verantwortenden Massakers an indigenen Bauern in Haft. Noch weniger Chancen hatte der Zementmillionär Samuel Doria Medina, der mit sechs Prozent den dritten Platz einnahm. Das sind die Figuren, die im Falle eines Wahlsiegs mit freundlicher Unterstützung aus deutschen Regierungskreisen hätten rechnen können.


FDP-Stiftung: "keine wirkliche Wahl"

Was macht eine deutsche Stiftung, die von der FDP organisiert wird (Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit), wenn ihr in einem Land wie Bolivien die Wahlergebnisse nicht ins Konzept passen? Der ersten Wahl in Bolivien, an der im Unterschied zu den vorhergegangenen fast alle Wahlberechtigten auch die Möglichkeit hatten, sich zu beteiligen. In Ermangelung eigener Argumente lässt man eine bolivianische Journalistin, die der rechts-militanten Opposition nahe steht, zu Wort kommen. Und das liest sich dann so:

"Zwar haben die Bürgerinnen und Bürger Boliviens am 6. Dezember 2009 ihren Präsidenten, Vizepräsidenten und die Abgeordneten gewählt, aber diese Wahl bot keine wirkliche Wahl und war damit eine der atypischsten der Geschichte Boliviens. Es handelte sich mehr um einen rein formalen demokratischen Prozess, der die Regierung von Evo Morales plebiszitär legitimierte. Die Opposition hat es nicht verstanden, sich als politische Gegenkraft zu formieren."
(Silvia Mercado in Hintergrundpapier 1/2010)

Für die FDP-nahe Journalistin wäre die Wahl typisch und damit demokratisch gewesen, wenn wie so häufig in der bolivianischen Geschichte einer der Repräsentanten der Oligarchie zum Präsidenten gewählt worden wäre. Das ist an Dreistigkeit nicht mehr zu überbieten. Angemessener bewertete die der CSU nahe stehende Hanns-Seidel-Stiftung im Quartalsbericht III/09 die Situation:

"Die Opposition ist so desorientiert und geteilt, dass es nicht eine bedeutende Persönlichkeit gibt, die momentan deren Führung hätte übernehmen wollen, was ihren Werdegang in den nächsten Jahren stark beeinträchtigen könnte."

Der CSU-Stiftung wäre es natürlich sympathischer, wenn sich die bourgeoisen Kräfte auf einen gemeinsamen Kandidaten geeinigt hätten. Dass die Stiftungen der deutschen bürgerlichen Parteien eher mit der bolivianischen Rechten als mit einer Bewegung für den Sozialismus sympathisieren, wird niemand überraschen. Wie weit man sich dabei einlässt, hat unlängst der Militärputsch in Honduras gezeigt. (dazu: Arbeiterstimme Nr. 166, S. 16 ff [www.schattenblick.de -> Infopool -> Medien -> Alternativ-Presse: ARBEITERSTIMME/2070: Darf in Lateinamerika wieder geputscht werden?]) Vor allem das FDP-Umfeld hat damals zugunsten der Putschisten klar Partei ergriffen. Und das macht sie auch in Bolivien, wo die liberale Stiftung "Freiheit und Demokratie (FULIDE)" aus Santa Cruz aktiv in Putschhandlungen gegen die Regierung einbezogen war. An der Spitze dieser Stiftung steht Branko Marinkovic, ein kroatischstämmiger Millionär, der an einem gegen Evo Morales geplanten Attentat beteiligt gewesen sein soll. Und was die CDU-Connection betrifft, gibt Benjamin Beutler einen Hinweis: "Einziger Kooperationspartner der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Bolivien ist die Stiftung für Unterstützung des Parlaments und Bürgerlicher Beteiligung" (FUNDAPACC), dessen Vorstandsmitglieder der erwähnte Pandos Ex-Präfekt Fernández sowie der ehemalige Senatspräsident José Villavicencio sind. Letzterer ist in einem UNASUR-Beweis-Video zum Pando-Massaker in eindeutiger Angriffspose zu sehen, laut schreiend: "Wenn Evo Blut will, dann soll er Blut bekommen". (Lateinamerikanachrichten, 17.6.2009) Ob die von Deutschland aus zugunsten offen terroristischer Kräfte in Bolivien agierenden Stiftungen gut beraten sind, muss bezweifelt werden. Bolivien ist in vielerlei Hinsicht, vor allem was das gesellschaftliche Kräfteverhältnis und die Entwicklung der Klassenkämpfe betrifft, nicht mit Honduras vergleichbar.


Garantieren den Wandel: Evo Morales und Alvaro Garcia Linera

Am 22. Januar begann die zweite Amtszeit des Präsidenten Morales und seines Vize Alvaro García Linera, der schon seit 2006 an der Seite des Präsidenten steht. Er ist im Unterschied zu Morales ein Intellektueller mittelständischer Herkunft. Seine politische Biographie bescherte ihm umfangreiche Erfahrungen. Er beteiligte sich an der Organisierung indigener Dorfgemeinschaften und nahm später führend am Kampf des Ejercito Guerillero Tupak Katari (EGTK) teil. 1992 verhaftet, verbrachte er fünf Jahre ohne Prozess im Gefängnis. Nach seiner Entlassung arbeitete er als Dozent an verschiedenen Universitäten Boliviens. Der marxistisch gebildete Linera spielt in der Bündnispolitik des MAS eine wichtige Rolle. Inzwischen wurden von der Staatsanwaltschaft über die oben erwähnten Attentatspläne gegen Morales und Linera nähere Details bekannt gegeben. Danach hat der US-Geheimdienst CIA über den Agenten Istvan Belovai die geplante terroristische Aktion einer bereits in den Balkankriegen der 90er Jahre aktiven Gruppe gesteuert. Satellitenaufklärung und finanzielle Mittel sollen in Aussicht gestellt worden sein. Im April 2009 war es allerdings einem Spezialkommando der bolivianischen Polizei rechtzeitig gelungen, die Bande auszuschalten. Laut einem aktuellen Bericht von FBI und CIA bleibt die bolivianische Regierung weiterhin unter Beobachtung und wird als "Gefahr für die regionale Stabilität" bezeichnet. In einem Interview mit der italienischen Tageszeitung Il Manifesto schätzt Garcia Linera die Bedrohung realistisch ein und weist im Zusammenhang mit dem Putsch in Honduras auf die Gefahr hin, "dass die USA zu ihrer Strategie der 80er Jahre zurückkehren" würden. Über Obama äußerte er sich "enttäuscht". Er habe "sich in seiner Denkweise dem militärisch-industriellen Komplex angepasst". Alles deutet darauf hin: Die US-Administration wird nach dem Wahlergebnis vom 6. Dezember und angesichts des desaströsen Zustands des bürgerlichen Parteienspektrums weiterhin eine feindliche Haltung zur MAS-Regierung einnehmen und die separatistischen Kräfte des Ostens mit allen Mitteln unterstützen. Schon bisher beteiligten sich die US-Behörden für Internationale Entwicklung (USAID) und National Endowment for Democracy mit jährlich 89 Millionen USD an diesen Bestrebungen. Das so genannte Engagement vor allem der USA für den Osten Boliviens hatte in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts seinen Anfang genommen. Bereits 1971 war der gesellschaftliche Einfluss der hacendados (Großgrundbesitzer) des Ostens in Bolivien so gewachsen, dass mit Hugo Banzer nach einem Militärputsch die Macht auf ganz Bolivien ausgeweitet werden konnte. Bis zur Regierungsübernahme durch den MAS war es zentrales Anliegen aller Regierungen, die finanziellen Ressourcen des Landes zugunsten des agro-industriellen Bürgertums im Osten umzuleiten. Den Versuch der MAS-Regierung, diese Fehlentwicklung zu beenden, beantworteten die Oligarchen des Media-Luna-Gürtels (Ostprovinzen) mit konkreten Schritten der politischen Abspaltung der Departements, in denen sie Mehrheiten mobilisieren können. Die Rädelsführer sitzen in Santa Cruz und repräsentieren die einflussreichsten Verbände der Agrar- und industriellen Bourgeoisie. Eine führende Position bei der Vereinigung der Privatunternehmer nimmt der bereits erwähnte gebürtige Kroate Branko Marinkovic ein. Er ist Teilhaber von Transredes, eines Unternehmens, das 6000 km lange Erdgas- und Erdölpipelines betreibt. Dass im Umfeld der Separatisten vermehrt Personen auftreten, die ihre Wurzeln auf dem Balkan haben und "Verdienste" an der Zerschlagung Jugoslawiens vorweisen können, sollte nicht verwundern. Die Wohlstandsseparatisten, die den verarmten Bevölkerungsschichten nichts abgeben wollen, waren in ihrem Bemühen, den von der MAS regierten Staat unregierbar zu machen, durchaus kreativ. So legten sie in der ersten Amtszeit den Justizbereich lahm. Benjamin Beutler beschreibt die Vorgehensweise:

"Seit dem Machtantritt des MAS 2006 war die Mehrheit der Richter aus dem Dunstkreis konservativer Parteien mittels fadenscheinigen Gründen zurückgetreten und die oberste Gerichtsbarkeit auf diesem Wege lahm gelegt. Seitdem steht der Justizapparat still. Offiziellen Angaben zufolge liegen im Verfassungsgericht 5640 Verfahren auf Halde, im Obersten Gericht stapeln sich über 5000" (jW, 15.2.2010).

Folgerichtig sieht die neue Verfassung die Unabhängigkeit der Justiz durch die Wahl der Richter vor. Für die Übergangszeit ernannte der Präsident per Dekret die Richter, darunter erstmalig eine indigene Frau, für das oberste Verwaltungsgericht, bevor diese im Dezember vom Wahlvolk gewählt werden.


Lob vom IWF

Aber alle Reformen im Überbau würden den fortschrittlichen Kräften, die sich im MAS organisieren, keinen durchschlagenden Erfolg bringen, wenn die ökonomischen Voraussetzungen nicht gegeben wären. Zwei Entwicklungen in der ersten Amtszeit schafften günstige Voraussetzungen. Zum einen stiegen die Energiepreise auf dem Weltmarkt deutlich und neu ausgehandelte Verträge mit den Konzernen führten zu einer Verdreifachung der Staatseinnahmen (2005: 992 Millionen US-Dollar; 2008: 2,7 Milliarden) - das wiederum konnte sich die Regierung auf die Fahnen schreiben. Die wieder verstaatlichte Energiefirma Yacimientos Petroliferos Fiscales Bolivianos (YPFB) verschafft der Staatskasse Gewinne aus dem Gas- und Ölverkauf. Geld, das im Unterschied zu früher nunmehr für Sozialprogramme zur Verfügung steht. Die auf massiven Staatsinterventionismus orientierende Politik des MAS erfuhr kürzlich von unerwarteter Seite Anerkennung. Der Chefanalyst des Internationalen Währungsfonds (IWF), Gilbert Terrier, lobte die Wirtschaftspolitik der Regierung, insbesondere die Sozialpolitik:

"Schaue ich mir das Bolivien von vor zehn Jahren an, dann muss ich gestehen, dass mir die Sozialpolitik dieser Regierung äußerst gut gefällt."

Ebenso positiv erwähnte er die wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die dem Land 2009 trotz Weltwirtschaftskrise ein Wachstum von vier Prozent (das höchste in ganz Lateinamerika) und seit 1970 erstmals wieder einen ausgeglichenen Haushalt bescherten. Es dürfte ihm auch nicht entgangen sein, dass das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in den letzten drei Jahren von 1010 auf 1651 US-Dollar stieg. Dabei hat die MAS-Regierung 2006 alle IWF-Finanzierungsprogramme abgebrochen und auf weitere Expertenanhörungen aus dieser Ecke verzichtet. Unter den erfolglosen Vorgängerregierungen war Bolivien insofern ein Vorzeigeland des IWF, weil alle Ratschläge befolgt und voll umgesetzt worden waren: Die Staatsausgaben waren abgesenkt, Staatsbetriebe privatisiert und der Bankensektor liberalisiert worden. Hat sich der Vertreter des IWF durch die positive Faktenlage bekehren lassen? Natürlich nicht. Nach der Lobeshymne durfte die Mahnung nicht fehlen: Nach der überstandenen Weltwirtschaftskrise müsse der Staat "allmählich" von seiner "impulsgebenden Rolle" Abschied nehmen. Der Wirtschafts- und Finanzminister Luis Arce (MAS) wird der Empfehlung nicht nachkommen:

"Wir glauben nicht, dass der Staat nur bei Problemen oder Krisen eingreifen soll, um konjunkturelle Momente zu überwinden. Wir glauben, dass die Beteiligung des Staates permanent sein muss."

Jeffrey Sachs, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der US-amerikanischen Columbia University, äußerte sich 2004 in einem Gastkommentar der Süddeutschen Zeitung verwundert über die miserable wirtschaftliche Situation in Lateinamerika. Er formuliert es so:

"Eines der größten Rätsel der Weltwirtschaft ist die schlechte Wirtschaftsleistung Lateinamerikas. Seit den frühen achtziger Jahren gab es in Lateinamerika wenig Fortschritte. In weiten Teilen der Region stiegen die Pro-Kopf-Einkommen nur langsam (wenn überhaupt), und eine große Krise jagte die andere. Man probierte es mit vielen Strategien, vor allem mit Handelsliberalisierung, der Privatisierung ineffizienter Staatsbetriebe und mit Haushaltsreformen. Aber irgendetwas hält Lateinamerika zurück."
(SZ, 5.8.2004)

Der US-amerikanische Professor fand in seinem Kommentar letztlich keine für ihn überzeugende Professor fand in seinem Kommentar letztlich keine für ihn überzeugende Antwort auf das "Rätsel". Er hätte sie finden können, aber diese dann vielleicht nicht in der Süddeutschen Zeitung kommentierend erläutern dürfen.

Es sind nicht zuletzt die Knebelverträge der multinationalen Konzerne, die ungeheure Gewinne aus den lateinamerikanischen Ländern herauspressen. Die Länder selber haben in der Regel nicht das Know-how, unterirdische Lagerstätten etwa von Erdöl und Erdgas zu nutzen. Die Konzerne, die dazu in der Lage sind, diktieren auch die Bedingungen. In die Verträge ist eine Klausel integriert, die besagt, dass ein sich aus dem Vertrag ergebender Rechtsstreit vor einem ausländischen Gericht ausgetragen werden muss. Der bolivianischen Regierung gelang es, über 50 Prozent der Verträge neu auszuhandeln und den bisherigen Abgabensatz an den Staat von etwa 18 Prozent auf 50 Prozent anzuheben. In die neue bolivianische Verfassung wurde gleichzeitig ein Artikel eingefügt, der die Austragung von Rechtsstreitigkeiten ins Land zurückholt. Darin heißt es:

"Alle ausländischen Unternehmen, die in der Produktionskette fossiler Brennstoffe aktiv sind, (...) sind der Souveränität des Staates, seiner Gesetze und seiner Behörden unterworfen. In keinem einzigen Fall wird eine ausländische Gerichtsinstanz oder Gerichtsbarkeit anerkannt, und sie dürfen auch keine Ausnahmesituation heraufbeschwören, die ein internationales Schiedsgericht erfordert, genauso wenig wie diplomatische Einmischungen akzeptiert werden."

Kann Bolivien diese gestärkte Position gegenüber den Konzernen durchhalten? Sie kann es natürlich nur im Kontext einer zunehmenden Integration lateinamerikanischer Staaten auf antiimperialistischer Grundlage. Für inzwischen neun Regierungen von Staaten aus Lateinamerika und der Karibik heißt die Antwort ALBA, ein wirtschaftlich-politisches Bündnis, das 2004 als Kooperation zwischen Venezuela und Kuba unter dem Namen Alternativa Bolivariana para los pueblos de Nuestra América entstanden ist. Es war auch als Antwort bzw. Alternative zu ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas) gedacht, der unter dem Diktat des US-Imperialismus stehenden Freihandelszone, die aber bereits jetzt - auch wegen der Ausstrahlung von ALBA - der Vergangenheit angehört. Im April 2006 schloss sich Bolivien dem Bündnis an. Im Juni 2009 wurde der neue Name Alianza Bolivariana para los pueblos de Nuestra América für das Bündnis angenommen. Weil es dieses Bündnis gibt, die Integration der lateinamerikanischen Staaten voranschreitet und in den verschiedenen Bereichen ein gesellschaftlicher Emanzipationsprozess in Abgrenzung zu den Einmischungsversuchen der USA stattfindet, hat auch Bolivien eine realistische Chance "in dieser progressiven Welle (...) den Übergang zu einer gesellschaftlichen Veränderung entschlossen" anzugehen (Garcia Linera). Fidel Castro attestiert der bolivianischen Staatsführung anerkennend: "Man geht vorsichtig zu Werke, um zu vermeiden, einen Schritt zurückgehen zu müssen." Die von Castro angesprochene Vorsicht deutet auf eine gewisse Reife der Führung des MAS hin. Zwar wird der Begriff Sozialismus bzw. Sozialismus des 21. Jahrhunderts schon mal in den Mund genommen, doch davon kann in absehbarer Zeit noch nicht die Rede sein. Der ägyptische marxistische Ökonom Samir Amin bemerkte, auf die Problematik angesprochen:

"Auch wenn es dort überall Wandel gibt, handelt es sich nicht um Revolutionen. Was sich dort abspielt, bezeichne ich als revolutionäre Fortschritte. Es sind Schritte, die die Machtverhältnisse zum Nutzen der einfachen Bevölkerung verschieben. (...) Sozialismus wird allmählich durch die sozialen Kämpfe der Menschen aufgebaut. Das dauert viele Jahrzehnte und mehr als das. Verstaatlichung ist nur der erste Schritt, der die Bedingungen für die Entwicklung des Sozialismus schafft."


Eine vorschnelle Prognose

Die bolivianische Regierung des MAS hat durch die gezielte Rückverstaatlichungspolitik in zentralen Bereichen günstige Voraussetzungen für eine Umverteilungspolitik von Oben nach Unten geschaffen. Die Arbeiterklasse und das Landproletariat spüren bereits die materiellen Vorteile dieser Politik in Form sozialer Verbesserungen. Ein ehrgeiziges Sozialprogramm wurde in Gang gesetzt: Stichpunkte dazu sind medizinische Versorgung, Senkung der Kindersterblichkeit, finanzielle Zuwendungen für Schwangere und Kinder unter zwei Jahre, für alle Schulkinder und alle über 60-Jährigen. Diese Maßnahmen können ausgeweitet werden, weil Bolivien von Natur aus kein armes Land ist. Vorerst kann man sich auf die Einnahmen aus dem Verkauf von Gas und Öl stützen. Die Mittel sind vorhanden um den im Elend lebenden Schichten den Weg in eine Armut in Würde zu ebnen, um dann die Beseitigung der Armut in Angriff zu nehmen. Dazu ist der Ausbau der Infrastruktur vor allem in den vernachlässigten Gebieten und eine gezielte Industrialisierungspolitik erforderlich. Sollten Erdöl- und Erdgasvorräte zur Neige gehen, verfügt das Land über mehr als die Hälfte aller Lithium-Vorräte der Erde, "der Stoff, der Bolivien in der kommenden Ära des Elektroautos zu dem machen könnte, was heute Saudi-Arabien ist" (Wolfgang Kunath, BZ vom 22.6.09). Die Regierung gedenkt mit diesem Schatz vorsichtig umzugehen. Und das ist multinationalen Konzernen und imperialistischen Staaten ein Dorn im Auge. Sie werden alles in Bewegung setzen, um die Politik der bolivianischen Regierung zu blockieren und das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zugunsten der Bourgeoisie umzukehren. Ob aber der eingangs zitierte Journalist der Süddeutschen Zeitung, Sebastian Schoepp, mit seiner aktuellen Prognose Recht bekommt, darf bezweifelt werden. Seiner Meinung nach "ahnen" die konservativen Regierungschefs Lateinamerikas, "dass der Linksruck auf dem Kontinent bald Geschichte sein dürfte" (SZ, 24.2.10). Da sprächen vielleicht einige Wahlergebnisse (Chile, Panama, Costa Rica, Honduras) dafür, aber eine Trendwende zurück zu alten Zeiten kann daraus nicht abgeleitet werden.

hd., Stand: 1.3.10


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 167, Frühjahr 2010, S. 12-15
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2010