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ARBEITERSTIMME/226: Es wird noch schlimmer in Tschechien


Arbeiterstimme, Herbst 2010, Nr. 169
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Es wird noch schlimmer in Tschechien

Von Stepán Steiger


Sollte man sowohl die politische als auch die wirtschaftliche Lage in Tschechien in diesen Tagen zusammenfassen, könnte man tatsächlich sagen: Es wird noch schlimmer werden. Politisch begann alles mit den Wahlen. Die Wahlen in die Abgeordnetenkammer fanden am 28. und 29. Mai statt (Senatswahlen stehen jetzt im Herbst bevor). Eine Wählerumfrage im Januar stellte zwar fest, dass trotz der Tatsache, dass die Sozialdemokraten als die stärkste Partei aus den Wahlen hervorgehen könnten, die Parteien der Rechten und der Mitte eine Mehrheit bilden würden. Danach - und noch eine Woche vor den Wahlen - schien es, als ob die Linke, d.h. die Sozialdemokratie mit den Kommunisten - eine Mehrheit erringen würden. Nach den Wahlen jedoch blieb nur ein Teil dieser Vorhersagen wahr: die Sozialdemokraten waren tatsächlich die stärkste Partei. Doch Träume über eine Parlamentsmehrheit und deshalb eine Regierungsbildung zerstoben und die Linke fand sich - sieht man es "parteimässig" an - machtlos. Denn die stärkste Partei war plötzlich, um es mit einem Wort der Rechten auszudrücken, "ohne Allianzpotential" - keine andere Partei wollte mit ihr zusammenarbeiten.

Das hing auch damit zusammen, dass - was die grösste Überraschung der Wahl überhaupt war - mögliche Verbündete es gar nicht geschafft hatten, die 5%-Hürde zu überschreiten und ins Parlament zu kommen: die Christdemokraten sind zum allerersten Mal in der Geschichte der Tschechischen Republik ohne Abgeordnete, auch den Grünen gelang es nicht mehr, kleine Splitterparteien (einschliesslich der "Trotz"-Partei des ehemaligen Sozdem-Vorsitzenden Zeman) blieben ohne Erfolg. Dagegen wurden zwei völlig "neue", vor einem Jahr entstandene, Parteien die eigentlichen Sieger. Eine davon, gegründet vom ehemaligen führenden Christdemokraten und ehemaligen (und jetzt wieder) Finanzminister Kalousek, der geschickt den ziemlich beliebten Fürsten(!) Karel Schwarzenberg als Vorsitzenden einzubringen verstand, könnte als der eigentliche Motor der neuen Regierung angesehen werden. Die zweite, von einer anderen populären Persönlichkeit geleitet, dem früheren Fernsehjournalisten Radek John, wurde von dem Inhaber einer Sicherheitsagentur finanziert - beide sind jetzt "natürlich" Minister.

Im ganzen, obwohl den Meinungsforschern zufolge eigentlich keine Überraschung, ist der Aufstieg dieser zwei kleineren Parteien ein Beweis nicht nur der Zersplitterung der tschechischen politischen Landschaft, sondern auch der Unlust, ja der Ablehnung der bisherigen "Governance" seitens der wahlberechtigten Öffentlichkeit: die zwei grössten Parteien, die Sozialdemokraten (also diese Art der Linken) sowie die rechte ODS (offiziell Bürgerliche Demokratische Partei), haben Hunderttausende Stimmen verloren (die ODS 15%, die SozDem 10%) - nur mit Hilfe der "Kleinen" konnte die ODS (zum Teil immer noch die Partei des Präsidenten Klaus) eine Regierung bilden. Ohne ins Detail zu gehen, muss man wohl zugleich feststellen, dass es wahrscheinlich auch dank sowohl der Naivität (Unerfahrenheit?) wie der Ablehnung der bisherigen Politik seitens der Jungwähler den Konservativen gelang, eine Mehrheit von 118 Abgeordneten (von 200) zusammenzubringen. Sie können deshalb die nächsten vier Jahre parlamentarisch schalten und walten, wie sie wollen. Zwar meinte ein bekannter (linker) Kommentator, dass es sich um eine "kurzlebige Kriseninvestition" (der Rechten) handele - er glaubte, in dieser politischen Umschichtung "eine beginnende Revolte" der tschechischen Gesellschaft zu sehen, eine "Übersetzung der Krise in die klassische Mischung von Demobilisation und aktiven Protest der Bürger".

Wie dem auch sei, und sollte sich seine Vision als wahr erweisen, vier - zumindest - schwere und bittere Jahre sind schon jetzt im Anmarsch.


Vereinigt gegen die Linke

In Anbetracht der Tatsache, dass seine Partei zwar aus den Wahlen als die stärkste hervorging, doch ausserstande war, eine Regierung zu bilden, und mit Rücksicht auf den Stimmenverlust, verzichtete der Vorsitzende der Sozialdemokraten, Jirí Paroubek, auf sein Amt und behielt nur seinen Abgeordnetensitz. Er veröffentlichte später eine Analyse der Wahlergebnisse, die die entstandene Lage recht realistisch beschrieb. Wir werden kurz darauf eingehen.

Eine grosse Rolle spielte im Wahlkampf "die griechische Karte". Ohne Unterbrechung schilderten die Rechtsparteien den Wählern die düstere Zukunft, die sie unweigerlich erwarten müsste, sollte die Staatsverschuldung noch weiter wachsen. (Tatsache ist, dass die CR zu den europäischen Ländern mit einem sehr niedrigen Anteil der Staatsschulden am BIP gehört). Sozialdemokratische Versprechen über die Beibehaltung sozialer Errungenschaften (wie z.B. eine einmalige Auszahlung einer monatlichen Pension) wurden als Verschwendung bezeichnet. Das "Beispiel" Griechenland wurde zu Hilfe genommen, rechtslastige Wahlredner warnten eindringlich vor der Möglichkeit, den "griechischen Weg" zu gehen. Die Medien, einschließlich der öffentlich-rechtlichen (zwei Fernsehkanäle und zwei Rundfunkstationen), wurden praktisch zum Teil dieser Attacke. (Nachdem kurz nach 1989 sowohl die Gewerkschaften als auch die SD aufgehört haben, ihre eigenen Zeitungen herauszugeben, gibt es in der CR - mit Ausnahme eines kommunistischen Tagblatts und einer "unabhängigen" Tageszeitung - kein Medium, das die Ideen und Ansichten der Linken präsentiert und verteidigt.) Auch die oft wiederholte (obwohl im Grunde lächerliche) Drohung, der Wahlsieg der SD und der KP könnte eine Rückkehr zum "normalisierten", d. h. kryptokommunistischen Regime bedeuten, ist wohl nicht ohne Einfluss geblieben. Obwohl es nur die sozialdemokratischen Kandidaten waren, die man auf Wahlversammlungen auch physisch angriff, wurde diese Partei einer aggressiven und vulgären Wahltaktik beschuldigt. Paroubek nahm an, infolge dieser lügenhaften Kampagne gingen zwischen 5 und 7% der bisherigen sozialdemokratischen Wähler zu den kleineren Parteien über. Dazu könnten 6 bis 8% der Parteigänger der Wahl ferngeblieben sein.

Neben den sichtbaren Gegnern hatte die Linke natürlich auch wichtige unsichtbare, oft jedoch um so gewichtigere Feinde. Dazu zählen nach Paroubeks Analyse z.B. Finanzgruppen, die an den angekündigten Pensionsfonds der versprochenen Pensionsreform sehr interessiert sind oder Pharmafirmen, die an der in Vorbereitung befindlichen "erhöhten Beteiligung" der Patienten an der Bezahlung der Medikamente ihr Interesse haben.

Über die KP ist eigentlich nicht viel zu sagen. Sie hielt ihre Position, im Grunde ohne Verluste, jedoch auch ohne Gewinne. Sie bleibt eine linke, doch im gegebenen System fest verankerte, d.h. systemkonforme Partei, mit einem begrenzten Einfluss, eher marginalisiert, nicht im Stande, Massen zu moblisieren.


Ergebnisse der Wahlen zum Abgeordnetenhaus des Parlaments 
 der Tschechischen Republik am 28. und 29. Mai 2010:

CSSO
ODS
TOP og
KSCM
VV
KDU-CSL
SPOZ
Grüne
Sonstige

22,0%
20,1%
16,7%
11,3%
10,9%
4,4%
4,3%
2,4%
12,0%

56 Sitze
53 Sitze
41 Sitze
26 Sitze
24 Sitze
0 Sitze
0 Sitze
0 Sitze
0 Sitze

2006: 32 32%; 74 Sitze
2006: 35,38%; 81 Sitze
gegründet 2009         2006: 12,81%; 26 Sitze
gegründet 2009         2006:  7,20%; 13 Sitze
gegründet 2009         2006:  6,30%;  6 Sitze



Eine düstere Zukunft

Vor diesem politischen Hintergrund ist es eigentlich einfach, die nächsten vier Jahre der neuen Regierung vorauszusagen. Sie ist offensichtlich sehr ernsthaft bemüht, eine - wie sie immer wieder betont - "Regierung der Haushaltsverantwortung" zu sein. Kürzungen, überall nur Kürzungen, könnte man fast - frei nach Wagner - ausrufen. 10 Prozent ist die Parole: alle Ministerien sind im neuen Staatshaushalt gezwungen, ihre Ausgaben um diesen Anteil zu kürzen. Ob Polizei, Erziehung, Gesundheitswesen - Ausgaben, natürlich einschliesslich der Löhne und Gehälter, werden "gekürzt". Und entsprechend werden Menschen entlassen. Kein Wunder, dass am 21. September Staatsbeamte, Lehrer, Ärzte, Polizisten und sogar Armeeangehörige in Prag demonstrieren wollen. (Typisch tschechisch jedoch: kein Generalstreik! Wir sind ja nicht in Frankreich!) Hunderte von Ärzten sind schon bereit, ihre Krankenhäuser zu verlassen und ins Ausland zu gehen - denn soll ein Primärarzt bis zu 42% seines Gehalts verlieren, kann man es ihm nicht übel nehmen, dass er quittiert. Eigentlich selbstverständlich - denn es ist nicht nur die Mittelklasse, die im Visier der Rechten steht, sondern ebenso die Arbeiterklasse, die angegriffen wird - ist es in diesem Zusammenhang, dass das Arbeitsgesetzbuch "modernisiert" werden soll. Obwohl der Arbeits- und Sozialminister, der diese Änderungen vorschlägt, vor den Wahlen als Vorsitzender der Wirtschaftskammer ein prominenter Vertreter der Unternehmerschaft war, hält der Ministerpräsident (der Vorsitzender der ODS ist), die Änderungsvorschläge seines Ministers in Bezug auf die Arbeitsgesetze für "nicht radikal genug": Kündigung ohne Grund soll gesetzmässig verankert, "flexible Arbeitsverhältnisse" sollen noch flexibler gemacht werden u.s.f. Direkte Steuern sollen nicht erhöht werden - denn Reiche müssen geschützt bleiben. Doch indirekte Steuern wird man anheben, wie z. B. die Mehrwertsteuer von 10 auf 12%, womöglich vom 1. Januar nächsten Jahres an. Und Václav Klaus, der Staatspräsident, hat eben - am 7. September - in einer Rede im neuen Parlament erklärt, die Regierung, die er lobte, dürfe nicht bei Kürzungen stehen bleiben - sie müsse schnell zu wirklichen Reformen übergehen, sonst würden es ihre Wähler nicht verstehen, wozu die Kürzungen gemacht werden. Mit anderen Worten, bevor sich die Bürger bewusst werden, wie schmerzhaft die Pläne der Regierung sind, müssen diese schon anlaufen.

Es wird Widerstand geben. Es bilden sich schon, wenn auch bisher kleine, Gruppen, die versuchen, die Öffentlichkeit wachzurütteln und die neoliberalen Tricks und Lügen der Regierung zu enthüllen. Ohne Unterstützung der Massen der Arbeiter und Angestellten jedoch, ob im Staatsdienst (die zuerst betroffen sein werden) oder in Privatunternehmen, gibt es keine wirklichen Änderungen der Regierungspolitik. Die beiden linken Parteien sind zu sehr einer rein parlamentarischen Politik verhaftet, um von ihnen spürbare Unterstützung im Kampf um eine grundlegende Änderung der Lage der arbeitenden Bevölkerung erwarten zu können. Deshalb stehen den meisten Bürgern der CR schwere Jahre bevor.


*


Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 169, Herbst 2010, S. 1+3-4
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010