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ARBEITERSTIMME/239: 20 Jahre gewerkschaftlicher Widerstand im Osten Deutschlands


Arbeiterstimme, Sommer 2011, Nr. 172
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

"Es muss auch mal gestorben werden"

20 Jahre gewerkschaftlicher Widerstand im Osten Deutschlands


Dieses und das zurückliegenden Jahr sind die Jahre der markanten Jahrestage. Zum zwanzigsten Mal jähren sich die Ereignisse, die den Zusammenbruch der DDR einleiteten und damit zur Restauration kapitalistischer Verhältnisse auf deren ehemaligem Staatsgebiet führten. Entsprechend werden sie deshalb von den bürgerlichen Kreisen hierzulande gefeiert - gleichgültig, ob es sich dabei um 20 Jahre "friedliche Revolution" handelt, die "Wiedervereinigung Deutschlands" oder um die "Erstürmung der Stasizentrale in Steinigwolmsdorf". Keine Gelegenheit wird in den Medien ausgelassen, um nicht zum wiederholten Male den Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus zu feiern und die vergangene DDR über das kritikwürdige Maß hinaus zu diskreditieren. Die gewaltigen sozialen und ökonomischen Umwälzungen mit ihren negativen und teilweise katastrophalen Folgen für die Mehrheit der im Anschlussgebiet lebenden Bevölkerung verdient dabei nur selten eine Erwähnung. Und ebenfalls nicht erwähnenswert finden diese Kreise das Wirken der Gewerkschaften, die vor 20 Jahren ihre Arbeit in den neuen Ländern aufnahmen und den Transformationsprozess hin zur kapitalistischen Marktwirtschaft begleiteten. Die Rolle, in die Gewerkschaften dabei gedrängt wurden, war durchaus ambivalent. Durch ihre Intervention wirkten sie der Deindustrialisierung Ostdeutschlands entgegen. Nicht wenige der heute noch bestehenden industriellen Strukturen konnten so erhalten werden. Auch ist es ihrem Wirken zu verdanken, dass heute ein großes Stück auf dem Weg der Angleichung der Lohn- und Lebensverhältnisse zwischen Ost und West geschafft ist. Auf der anderen Seite waren sie aber auch ein wichtiger Ordnungsfaktor, der dazu beitrug, dass der Transformationsprozess im Sinne der Herrschenden friedlich ablief und nicht zu großen politischen Verwerfungen führte.

Am Beispiel von Sachsen und der IG Metall soll an diese Ereignisse vor 20 Jahren erinnert werden.


Die IG Metall im FDGB

Die IG Metall der DDR war innerhalb des FDGB die größte Einzelgewerkschaft. Hierin glich sie der IG Metall in der BRD. Doch damit hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Der FDGB war zentralistisch aufgebaut und bestimmte damit auch die Politik der Einzelgewerkschaften. Im Unterschied dazu ist der DGB ein relativ lockerer Dachverband, der wenig oder gar keinen Einfluss auf die Politik seiner Einzelgewerkschaften hat. Im Gegenteil, die drei großen Gewerkschaften ver.di, IGBCE und IGM befinden darüber, wo es im DGB langgeht. Der Umbruch in der DDR 1998 brachte auch weit reichende Veränderungen in der dortigen Gewerkschaftslandschaft mit sich. Die Einzelgewerkschaften versuchten, sich aus dem Einfluss des FDGB zu lösen und eine (vorübergehend) eigenständige Politik zu machen. Der noch 1998 auf einem Gewerkschaftstag neu gewählte Vorsitzende Hartwig Bugiel orientierte die Gewerkschaft auf die IG Metall West. Es ging dann alles ziemlich schnell. Noch im Dezember des Jahres kam zwischen den beiden Gewerkschaften ein Kooperationsvertrag zustande und im Februar 1990 wurde ein gemeinsamer Arbeitsausschuss zu Satzungs- und Organisationsfragen eingerichtet. Das Ziel der IGM Ost war die Fusion mit der Westgewerkschaft. Bugiel und Kollegen wollten, dass die IG Metall West in die Rechtsnachfolge der IG Metall Ost eintritt. Das wollte man in der Frankfurter Zentrale der IG Metall nicht. Sicherlich spielte bei dieser Entscheidung, sich von der Ost-Gewerkschaft abzugrenzen, die traditionelle antikommunistische Haltung der westdeutschen Funktionäre eine nicht geringe Rolle. Die IG Metall Ost schluckte die Zurückweisung des "großen Bruders" im Westen und akzeptierte dessen Haltung.

Im Oktober 1990 beschloss eine außerordentliche Zentraldelegiertenkonferenz die Auflösung der IG Metall Ost zum 31. Dezember 1990. Die Mitglieder wurden aufgefordert, der IG Metall West beizutreten. Ungefähr 900.000 Mitglieder folgten dem Aufruf. Das entsprach 50 Prozent der Mitgliedschaft. Durch die Entscheidung des IG Metall-Vorstandes ging so die Hälfte der Mitgliedschaft verloren. Das warf natürlich Fragen auf. Erklärt wurde die Haltung des Vorstandes damit, dass bei einer Fusion der gesamte Hauptamtlichenapparat der Ost-IGM übernommen werden müsse. Das aber würde von der Mitgliedschaft im Osten nicht akzeptiert. Ob das Argument stimmig war oder nicht, sei einmal dahingestellt. Von der IGBCE und der NGG, die diesen Weg nicht gingen, sind jedenfalls keine größeren Probleme bekannt. Eine kritische Diskussion dazu fand nicht statt. Ein Grund dafür war sicherlich auch, dass im Osten innerhalb kürzester Zeit Verwaltungsstellen entstanden, die in ihren Dimensionen weit über denen des Westens lagen. Alleine die vier großen Verwaltungsstellen in Sachsen, Zwickau, Chemnitz, Leipzig und Dresden, hatten Mitgliederzahlen von mehr als 60.000. Damit lagen sie mit ihren Mitgliederzahlen jeweils über der damaligen Mitgliederzahl der Verwaltungsstelle Wolfsburg (VW), der zweitgrößten Verwaltungsstelle in Westdeutschland.

Dass diese Größenordnungen zustande kamen, war alleine der Leistung der Hauptamtlichen der IG Metall Ost zu verdanken. Sie hatten die entsprechenden Kontakte in die Betrieben zu den provisorischen Betriebsräten oder den Betriebsgewerkschaftsleitungen. Ohne deren intensives Bemühen, den Übertritt zu organisieren, wäre das Ergebnis noch deutlich geringer ausgefallen. Sie schafften so die Basis, auf der die neuen IG Metall-Strukturen im Osten aufgebaut wurden.


Konstituierung der Verwaltungsstellen

Für Sachsen hatte der IG Metall-Vorstand acht Verwaltungsstellen vorgesehen und noch im Oktober des Vorjahres für jede der zukünftigen Verwaltungsstellen einen vorläufigen Geschäftsführer eingesetzt. Jedem dieser Geschäftsführer wurde eine West-Verwaltungsstelle beigestellt, die ihn personell beim Aufbau der IG Metall unterstützen sollte.

Trotzdem war es für alle, die diese Aufgabe übernahmen, völliges Neuland. Die Bedingungen, die diese KollegInnen bei ihrer Arbeitausnahme vorfanden, waren geradezu chaotisch. Auf jedem Gebiet herrschte ein heilloses Durcheinander. Die wichtigste Aufgabe, die noch im Herbst des Jahres 1990 geleistet werden musste, war natürlich die Überleitung der Mitgliedschaft der IG Metall Ost in die IG Metall West, sowie die Durchführung von Organisationswahlen, um eigenständige Verwaltungsstellen konstituieren zu können. Daneben musste der "normale Geschäftsbetrieb" laufen. Der war allerdings alles andere als "normal".

Seit dem 3. Oktober 1990 waren die BRD-Gesetze auch im Osten Deutschlands wirksam. Das heißt, das Arbeitsgesetzbuch der DDR wurde abgelöst durch das Betriebsverfassungsgesetz und weitere Arbeitsgesetze. Entsprechend groß war der Schulungsbedarf der Betriebsräte. Geleistet werden konnte das nur in Massenveranstaltungen, die völlig von bestehenden gewerkschaftlichen Schulungskonzeptionen abwichen. Das heißt, es erfolgte die reine Faktenvermittlung. Mehr war allerdings auch von den Kolleginnen und Kollegen nicht erwünscht. Diskussionen über den politischen Standort eines gewerkschaftlichen Funktionärs, über den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeiterklasse, waren kaum möglich. Das war sowohl dem Zeitdruck, unter dem die Veranstaltungen standen, als auch ideologischen Gründen geschuldet. Linke Positionen wurden von einer breiten Mehrheit der Teilnehmer abgelehnt.

Das politische Denken der meisten KollegInnen war bestimmt von der Illusion und Hoffnung, dass mit der Einführung der Marktwirtschaft ihre materiellen Lebensbedingungen in jeder Beziehung besser werden würden. Kapitalisten aus dem Westen waren deshalb eine heiß begehrte Spezies, die man mit offenen Herzen und unbegrenztem idealistischen Kredit willkommen hieß. Die Gewerkschaften passten da eigentlich nicht in das Gedankengebäude. Welche Rolle sie im Denken der Menschen spielten, ist daher nur bedingt erklärbar. Vielleicht hielten sie deshalb an ihnen fest, weil sie in ihnen eine Rückversicherung sahen. Schließlich waren es Zeiten der völligen Auflösung der bisherigen Verhältnisse, Zeiten, in denen sich alles änderte, wo nichts mehr von dem galt, was noch gestern richtig war; wo deshalb eine allgemeine Verunsicherung die Stimmung prägte. Immerhin wusste die Mehrheit der Menschen zumindest theoretisch, was Kapitalismus bedeutet.

Unter diesen Umständen war es natürlich sehr schwer, eine gewerkschaftliche Organisation aufzubauen. Auf der einen Seite mussten die grundlegenden organisatorischen Voraussetzungen zur Konstitution einer Verwaltungsstelle, wie die Wahlen der Delegierten, geschaffen werden und auf der anderen Seite "brannte" es in den Betrieben an allen Ecken und Enden. Überall waren die Betriebsräte mit Massenentlassungen in Größenordnungen konfrontiert, die in jedem einzelnen Fall im Westen eine Verwaltungsstelle rund um die Uhr beschäftigt hätten. Zu einer intensiven Einzelunterstützung waren die eingesetzten Geschäftsführer mit ihrer dünnen Personaldecke nicht in der Lage. Oft wurde den Betriebsräten lediglich eine Musterbetriebsvereinbarung zu einem Interessenausgleich und Sozialplan in die Hand gedrückt, an dem sie sich in ihrer weiteren Arbeit orientieren sollten Und das, wenn es in jedem einzelnen Fall um 300, 700 oder mehr Arbeitsplätze ging! Eigentlich ist es kaum zu beschreiben, was zu dieser Anfangszeit allen Beteiligten zugemutet wurde.


Arbeit unter Krisenbedingungen

Aber trotz aller Schwierigkeiten: Ab Mitte März 1991 hatten sich in Sachsen die acht Verwaltungsstellen konstituiert. Sie begannen nun mit der eigenständigen Arbeit.

Es war von Beginn an eine Arbeit unter extremen Krisenbedingungen. Die ökonomische Situation der Betriebe war katastrophal. Durch den Anschluss der DDR an die BRD brachen mit der Einführung der D-Mark für die Betriebe die Märkte in Osteuropa weg. Das hatte zur Folge, dass es in den meisten Betrieben der Metall- und Elektroindustrie kaum noch Arbeit gab. Deshalb befand sich ein großer Teil der Kolleginnen und Kollegen über Wochen und Monate in Kurzarbeit null, wie das genannt wurde.

Die erste wichtige Aufgabe der neuen IG Metall war die Übertragung der bayrischen Manteltarifstrukturen auf Sachsen. Das hatte noch die IG Metall Ost mit dem sächsischen Metallarbeitgeberverband tariflich vereinbart. Der Kern des Tarifvertrages war die Neu-Eingruppierung der Arbeitsplätze nach bayerischem Vorbild. Diese Arbeit musste von den betrieblichen Funktionären geleistet werden; von Funktionären also, die nur wenig oder gar keine gewerkschaftliche Erfahrung besaßen. Von der korrekten Umsetzung dieser Ersteingruppierung hingen die zukünftigen Löhne und Gehälter der Beschäftigten ab. Trotz der vorhandenen Defizite machten diese KollegInnen eine gute Arbeit. Es gelang ihnen, das Eingruppierungsniveau in Sachsen über den bayrischen Durchschnitt zu heben.

Das Geschrei beim sächsischen Verband war entsprechend groß. Und es hagelte von der Kapitalseite massenhaft Einsprüche, die dann in einer paritätisch besetzten Schiedsstelle, aufgrund einer tariflichen Regelung, nachverhandelt werden mussten.

Diese ersten gewerkschaftlichen Aktivitäten der Betriebsräte und der Mitgliedschaft waren ein klarer Erfolg. Zu verdanken war das auch dem hohen intellektuellen Niveau, das zu dieser Zeit in den Betriebsratsgremien vorzufinden war. Nicht wenige BR-Mitglieder waren Ingenieure, Diplomingenieure und Naturwissenschaftler; davon nicht wenige mit einer Promotion. Die damalige Funktionärsstruktur erleichterte natürlich die Arbeit der Hauptamtlichen. Aufgrund allgemeiner Anleitungen waren die Betriebsräte in der Lage, selbständig zu arbeiten - ein Umstand, der in gleicher Weise damals in Westdeutschland nicht möglich gewesen wäre.

Mit der fortschreitenden Privatisierung der Treuhand-Betriebe allerdings gelang es den Unternehmern schließlich, das Eingruppierungs-Niveau zu drücken. In vielen Fällen war das der fehlenden Widerstandsbereitschaft der Betroffenen geschuldet, aber auch dem zunehmenden Einknicken der Betriebsräte gegenüber den neuen Kapitaleignern.


"Es muss auch mal gestorben werden"

Anfang 1991 herrschte in der erwerbsfähigen Bevölkerung im Osten eine Stimmung aus einer Mischung von Hoffnung und Angst. Geradezu sehnsüchtig hoffte man in den Betrieben auf die Ankunft des Investors aus dem Westen, der einen ins "Wirtschaftswunderland" führen würde. Diese Illusionen gab es wirklich. Sie waren nicht zuletzt erzeugt durch die Politik der Konservativen um den Bundeskanzler Kohl, der im Wahlkampf 1990 den Menschen in wenigen Jahren "blühende Landschaften" versprochen hatte und auch dass es "niemandem schlechter, aber vielen besser gehen" würde. Natürlich konnten diese Versprechen nicht eingehalten werden. Dafür sorgte alleine schon die die aktuelle Politik der Treuhandanstalt. Im Oktober des Jahres 1990 fällte sie die ersten großen Stilllegungsbeschlüsse, nachdem zuvor ergebnislos versucht worden war die betroffenen Unternehmen zu privatisieren. So gingen die DDR-Automobilindustrie, die Interflug und andere namhafte Betriebe, wie z.B. in Dresden der Kamerahersteller Pentacon, in die Liquidation. Bei einem Treffen des TH-Ausschusses in Köln meinte Anfang 1991 Kohls Finanzstaatssekretär Horst Köhler, dass "in der ehemaligen DDR-Industrie auch mal gestorben werden" muss. Dieser Anweisung des späteren Bundespräsidenten wurde dann auch Folge geleistet: Es wurde gestorben!

Bei den Menschen ging nun plötzlich die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes um. Damit war es vorbei mit der einstmals so optimistischen Aufbruchstimmung des Jahres 1990. Angst und Zukunftsunsicherheit ließen die Stimmung kippen. Im Frühjahr 1991 begann sie sich in der gesamten früheren DDR aufzuheizen.

Mehr und mehr rückte die Treuhandanstalt ins Fadenkreuz der Kritik. Natürlich war sie nur der vordergründige Auslöser für die Abwicklung von Betrieben und der Vernichtung von Arbeitsplätzen. Tatsächlich war dieser Apparat letzten Endes nichts anders als das weisungsgebundene Exekutionsorgan der Bundesregierung, das während seiner gesamten fünfjährigen Existenz einen hervorragenden Sündenbock abgab und vortrefflich von der neuen neoliberalen Ausrichtung der Politik unter der Kohl-Regierung ablenkte.


Bewahrung des Volksvermögens

Die Treuhandanstalt war noch unter der DDR-Regierung Modrow im März 1990 gegründet worden mit dem Ziel der "Bewahrung des Volksvermögens". Zu dem Zeitpunkt zeichnete sich schon klar die "deutsche Einheit" ab und es war daher auch vorhersehbar, dass es zur Transformation des Wirtschaftssystems kommen würde. Hauptaufgabe der neuen Behörde sollte deshalb sein, das DDR-Volksvermögen vor dem Ausverkauf an westliche Investoren zu schützen. Die Privatisierung der rund 8.000 Kombinate und Betriebe stand vorerst nicht zur Debatte. Die Treuhandanstalt hatte den Auftrag, schnellstmöglich die Betriebe und Kombinate in die gängigen kapitalistischen Eigentumsformen der Aktiengesellschaft und GmbH umwandeln. Aktien und GmbH-Anteile sollten zu einem späteren Zeitpunkt auf die Bürger übertragen werden.

Mit dem Wahlsieg der bürgerlichen Parteien bei der Volkskammerwahl im März 1990 war aber auch der künftige wirtschaftspolitische Kurs in der DDR entschieden; das um so mehr, als zu diesem Zeitpunkt die bürgerlichen DDR-Parteien keine eigenständige Politik zu entwickeln in der Lage waren. Sie waren nichts anderes als die Niederlassungen der entsprechenden konservativen, sozialdemokratischen oder liberalen BRD-Parteien. Und denen ging es nicht um den Erhalt von irgendwelchen DDR-Strukturen. Es ging jetzt um die zügige Einführung einer kapitalistischen Marktwirtschaft, die sich am Beispiel der BRD orientierte, also ausschließlich auf Privateigentum beruhte. Im Juni verabschiedete die Volkskammermehrheit das "Gesetz zur Privatisierung und Reorganisation des volkseigenen Vermögens". Dieses Treuhandgesetz stellte die Privatisierung des DDR-Volksvermögens ins Zentrum des Handelns der Treuhandanstalt.

Der erste THA-Chef war Reiner Gohlke, der bereits nach vier Wochen vor den Problemen, die vor ihm lagen, kapitulierte. Ihm folgte Detlef Rohwedder, bekannt als "harter Sanierer" des Stahlkonzerns Hoesch. Am Ostermontag 1991 wurde Rohwedder in seinem Haus erschossen. Vieles deutet auf die RAF als die in Frage kommenden Täter hin. Es gibt eine entsprechende Erklärung. Die Durchführung der Tat allerdings entspricht nicht dem Handlungsmuster der RAF. Es bleiben deshalb einige Zweifel an deren tatsächlicher Urheberschaft. Bei den mit Rohwedder bis zu diesem Zeitpunkt gemachten Erfahrungen zeigte sich, dass unter seiner Führung der Treuhandanstalt nicht das "Verscherbeln des DDR-Volksvermögens um jeden Preis" im Vordergrund stand, sondern dass er durchaus Raum ließ für Alternativen dazu. Deshalb gab es durchaus Kräfte, die daran interessiert waren, an der Spitze der Treuhandanstalt eine andere Person zu sehen.

Dem Sozialdemokraten Rohwedder folgte Birgit Breuel, die frühere niedersächsische Wirtschaftsministerin. Sie sollte die Chefin bis zur Auflösung der Behörde am Jahresende 1994 bleiben und einen gigantischen Schuldenberg in Höhe von mehr als 200 Milliarden D-Mark hinterlassen. Der Wechsel war sofort spürbar. Ging man unter Rohwedder noch "behutsam" an Betriebsstilllegungen heran, so ging das ab dem Zeitpunkt des Beginns der Ära Breuel wesentlich forscher.

Begründet wurden Stilllegungen immer ökonomisch. Das fiel der Treuhandanstalt natürlich leicht, denn die Lage der ostdeutschen Industrie war katastrophal. Keinem Betrieb ging es gut. In der Bundesregierung und damit natürlich auch in der Treuhandanstalt wusste man aber schlichtweg nicht, wie es mit der Industrie in den neuen Ländern weitergehen sollte. Es gab kein Konzept außer dem, dass es der "Markt schon richten" werde. Diese Politik führte aber nur tiefer in die Krise. Über vielen Betrieben schwebte das Damoklesschwert. Über die Hälfte der ostdeutschen Metaller waren konkret von der Arbeitslosigkeit bedroht. Dass sie noch nicht arbeitslos waren, lag nur an einem Tarifvertrag der bereits zur Jahresmitte 1990, noch zwischen IG Metall-Ost und den entsprechenden Arbeitgeberverbänden, abgeschlossen worden war. Danach wurden alle ab dem 1. Juli 1990 ausgesprochenen betriebsbedingten Kündigungen frühestens zum 30. Juni 1991 wirksam. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde das Kurzarbeitergeld auf 90 Prozent aufgezahlt.

Dieser Tarifvertrag war das taktische Zugeständnis der Arbeitgeberverbände an die Kohl-Regierung. Offensichtlich wollte man die DDR-Werktätigen nicht, noch unter der Ägide der Regierung de Maizière, mit der harten Realität des Kapitalismus konfrontieren. Schließlich sollten die gemeinsamen Bundestagswahlen im Dezember 1990 von der Kohl-Regierung gewonnen werden.

So gut diese tarifliche Regelung für die Werktätigen zu dem damaligen Zeitpunkt war, ohne eine plausible industriepolitische Konzeption konnte das keine längerfristige Lösung sein. Beim Vorhandensein einer solchen wäre der Tarifvertrag die Beschäftigungsbrücke bis zum Zeitpunkt der Konsolidierung der Betriebe gewesen. Die IG Metall versuchte, unter diesem Gesichtspunkt eine Verlängerung des Tarifvertrages zu erreichen. Sie hatte aber bei den Verbänden keine Chance. Zugeständnisse waren nicht mehr erforderlich. Durch den Wahlerfolg der Konservativen war sichergestellt, dass der neoliberale Wirtschaftskurs beibehalten wurde. Tonangebend bei der Politik der Arbeitgeberverbände war dabei inzwischen der Sächsische, in dessen Vorstand überwiegend sächsisch-bayerische Hardliner saßen.


Aktionen gegen den industriellen Kahlschlag

Aussichten auf eine allgemeine Besserung durch die Politik eröffneten sich deshalb nicht.

Alleine in den Gewerkschaften und da besonders bei der IG Metall war das Thema "Struktur- und Beschäftigungspolitik", neben der Tarifpolitik, das beherrschende Thema. Begleitet wurde der Prozess von der Memorandumgruppe. Der Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung und der Treuhandanstalt sollte ein Konzept zur Industrie-, Struktur- und Beschäftigungspolitik entgegengestellt werden. Wollte die IG Metall in Zukunft als politischer Akteur weiter ernst genommen werden, durfte sie den katastrophal laufenden Transformationsprozess nicht nur passiv begleiten: Dann musste sie offensiv werden.

Im Februar und März 1991 schienen auch die politischen Voraussetzungen für eine Offensive zu stimmen. Überall sah man Bewegung. Es gab die Wiederauflage der Montagsdemos, auf denen die Menschen zeigten, dass sie mit der Abwicklung des Ostens nicht einverstanden waren. So fand in Leipzig beispielsweise eine Demo statt, an der nach Presseberichten 60.000 Menschen teilnahmen. In den anderen industriellen Zentren kam es ebenfalls zu großen Demonstrationen. Die Mobilisierung gegen die Kahlschlagpolitik von Treuhandanstalt und Kohl-Regierung war deshalb möglich geworden und das mit steigender Tendenz.

Ostdeutschland rückte deshalb wieder ins Zentrum des medialen Interesses. Für die IG Metall waren die Protestaktivitäten in den Verwaltungsstellen eine gute Grundlage für weitergehende Aktionen. Mit einem entsprechenden Konzept sollte ein Kurswechsel der Politik erzwungen werden. Dabei waren die folgenden Überlegungen die Konzeptgrundlage:

Die Probleme der Betriebe und der gesamten ostdeutschen Industrie lagen vorrangig darin, dass sie mit der Einführung der DM über Nacht mit der westdeutschen Industrie konkurrieren mussten. Das konnte nicht funktionieren. Bei diesem Spiel war die Wirtschaft der neuen Länder hoffnungslos unterlegen. Der ökonomische Zusammenbruch und die Massenarbeitslosigkeit wurden der gesamtdeutschen Öffentlichkeit damit erklärt, dass die Betriebe in der DDR völlig abgewirtschaftet gewesen seien; diese Schwäche hätte jetzt der Übergang zur Marktwirtschaft aufgedeckt. So wälzte man die Verantwortung an der desaströsen Entwicklung in Ostdeutschland geschickt auf die politisch Verantwortlichen der vergangenen DDR ab. Gleichzeitig konnte die Bundesregierung so die fehlende Struktur- und Beschäftigungspolitik ideologisch begründen. Staatliche Eingriffe, das hatte nach ihrer Auffassung die DDR-Planwirtschaft gezeigt, sind nicht "zielführend". Alleine die Markwirtschaft hat die Regelmechanismen, die zu den versprochenen "blühenden Landschaften" führen. Nicht der Staat, sondern der Markt "wird's richten". In ihrer ideologischen Verblendung sahen dabei die Herrschaften in Bonn nicht, dass der Markt gerade dabei war, die Industrie im Osten zu Grunde zu richten.

Manchmal sind Halbwahrheiten schlimmer als ganze Lügen. Natürlich war die technische Ausstattung vieler DDR-Betriebe nicht annähernd so gut wie die durchschnittlicher Betriebe im Westen. Sie war aber auf der anderen Seite nicht so "abgewirtschaftet", wie das in den Medien dargestellt wurde. Zum Teil gab es hochmoderne und produktive Betriebe, die jedem Vergleich mit dem entsprechenden Westbetrieb standhielten, wie beispielsweise das Robotron-Leiterplattenwerk in Dresden und andere. Der Hauptnachteil und damit die Probleme der Betriebe im Osten lagen in ihrer Struktur. In den Betrieben gab es weder Vertriebs- noch Einkaufsbereiche. Auch eine Zeitwirtschaft, Kostenrechnung und Controlling-Bereiche mussten erst noch aufgebaut werden. Kurz, alle betriebswirtschaftlichen Bereiche, die einen Betrieb in einer kapitalistischen Konkurrenzwirtschaft bestehen lassen, fehlten, weil diese in der DDR zentral gesteuert wurden. Um dies Strukturen zu schaffen, bedurfte es der Zeit, entsprechender externer Unterstützung sowie der Qualifizierung der Beschäftigten.

An diesem Punkt setzte der Vorschlag der IG Metall an. Sie forderte, dass alle Betriebe in eine Treuhand-Industrieholding überführt werden sollten. Damit wäre Zeit gewonnen für eine umfassende Sanierung der Betriebe. Die Belegschaften sollten während der Sanierungsphase nicht entlassen, sondern qualifiziert und auf neue Aufgaben vorbereitet werden. Konkret hätte das bedeutet, dass betriebsbedingte Entlassungen tarifvertraglich weiter ausgeschlossen sein sollten. Nach der Sanierung wären die Betriebe dann so "fit" gewesen, dass sie sich dem kapitalistischen Wettbewerb hätten stellen können. Dann wäre auch der Zeitpunkt gekommen, wo man über die Privatisierung hätte sprechen können. Der IG Metall schwebte dabei allerdings nicht eine Privatisierung nach der Art der Breuel vor, die ja später dieses Volksvermögen regelrecht verschleuderte. Vielmehr wurde angeknüpft an die Vorstellungen der Modrow-Regierung, wonach dieses Vermögen Eigentum der Bevölkerung der ehemaligen DDR ist. In Form von Anteilscheinen sollte es dann an die Bevölkerung in Ostdeutschland übertragen werden.

Als die IG Metall mit diesem Konzept an die Öffentlichkeit trat, erfolgte sofort der laute Aufschrei der Konservativen und der mit ihnen verbundenen Medien. Das heißt, die gesamte veröffentlichte Meinung machte dagegen Front. Steinkühler wurde dummes Zeug vorgeworfen, wie zum Beispiel, er wolle ein neues Superkombinat schaffen und alte DDR-Strukturen revitalisieren oder, das Konzept sei nicht finanzierbar. Natürlich wussten diese Kreise, dass alle Einwände gegen das Konzept vorgeschoben waren, aber sie machten Stimmung dagegen, weil sie es verhindern wollten.

Das westdeutsche Kapital hatte, trotz anders lautender Bekundungen, kein Interesse an eigenständigen Industriestrukturen in Ostdeutschland. Es wollte keine zusätzliche Konkurrenz innerhalb der nationalen Grenzen. Mit dem westdeutschen Industriepotential konnte auch ohne zusätzliche Produktionskapazitäten das Beitrittsgebiet mit Waren versorgt werden. Insofern passte den Kapitalisten die Konzeptionslosigkeit der Bundesregierung und ihrer Bürokraten zu der Industrieentwicklung im Osten gut ins Konzept. Ihr Interesse beschränkte sich mehrheitlich auf das Herauskaufen der Filetstücke der DDR-Kombinate, auf verwertbare Immobilien, auf Patente und zum Teil auf das Know-how der Betriebe. Und die TH unterstützte sie bei diesem Anliegen. So besetzte die Treuhand die Aufsichtsräte der DDR-Betriebe nach den Volkskammerwahlen im März 1990 mit vielen Managern westdeutscher Konzerne. Sie sollten mit ihrem Wissen die Betriebe auf dem "Weg in die Marktwirtschaft" unterstützen. Die Bereitschaft in den Konzernen, Personal für diese "patriotische" Aufgabe bereitzustellen, war groß. Und es war dann auch kein Zufall, dass sich Vorstandsmitglieder westdeutscher Konzerne besonders häufig genau in den ostdeutschen Betrieben "engagierten", die ähnliche oder gleiche Produktlinien hatten. In der Verwaltungsstelle Dresden gab es beispielsweise in Bischofswerda einen Betrieb des Mähdrescherkombinates "Fortschritt". Dessen AR-Vorsitzender war gleichzeitig der Vorstandsvorsitzende von KHD, einem ebenfalls bedeutenden Mähdrescherhersteller. Oder beim MZ-Werk in Zschopau waren gleich zwei Vorstandsmitglieder von BMW in dessen Aufsichtsrat tätig. Es ist sicherlich kein Zufall, dass in beiden Fällen zu einem späteren Zeitpunkt der Aufsichtsrat die Liquidation der Unternehmen beschloss. Sicherlich ließen sich weitere, ähnlich gelagerte Beispiele finden.

Das konservative Lager, das Kapital und seine Verbände, hatten also gute Gründe, das industriepolitische Konzept der IG Metall abzulehnen.

Innerhalb der IG Metall, auch im Vorstand, war man sich klar, dass die Durchsetzung der Konzeption eine enorme Kraftanstrengung bedeuten würde. Aber man ging davon aus, dass das Konzept mobilisierungsfähig sei. Aufbauend auf den vielen und erfolgreichen Aktionen des Monat März sollte am 18. April in Berlin eine Großdemonstration stattfinden. Die Forderung des IG Metall-Vorstandes an die Bezirke und Verwaltungsstellen war, 200.000 und mehr Teilnehmer zu mobilisieren.

Aber trotz intensiver Mobilisierungsarbeit in den Betrieben kam nur ein Bruchteil der geforderten KollegInnen mit nach Berlin. Der Spiegel schrieb damals dazu: "Demonstration gegen soziale Misere. Donnerstag, 18. April 1991. Nur 35.000 Menschen folgten dem Aufruf der IG Metall".

Doch selbst, wenn es ein paar tausend mehr gewesen sein sollten, das Ziel einer Zeichen setzenden Protestveranstaltung war verfehlt.

Diese Veranstaltung in Berlin war eine nicht zu beschönigende Niederlage, deren Tragweite damals noch nicht in vollem Umfang erkennbar war. Wenn man heute rückblickend die Presse von damals liest, wird sichtbar, welche Furcht vor einer breiten Protestbewegung im Osten bei den politischen Verantwortlichen in Regierung und Verbänden vorhanden war. Vor einer vergleichbaren Entwicklung wie im Oktober 1989 hatten diese Herrschaften eine Höllenangst. Hätte doch eine solche Bewegung mit der nationalen Einheitsduselei aufgeräumt und bestimmte Kapitalinteressen, die mit der Wiedervereinigung an die Oberfläche des politischen Handelns drängten, sichtbarer gemacht. Die mangelhafte Beteilung an der Demonstration in Berlin aber kam einem Beruhigungsmittel für die Regierung Kohl gleich. Was hatte sie jetzt noch von der Bevölkerung und von den Belegschaften in den Betrieben zu befürchten? Wenn die IG Metall mindestens 200.000 Protestierende ankündigt und tatsächlich kommen nur 35.000, dann heißt das, dass diese Gewerkschaft nicht die Kraft hat, der Politik und damit der Treuhandanstalt Schwierigkeiten zu bereiten. Und so war es dann ja auch. Der Vorschlag einer TH-Industrieholding war tot. Die große Regelung, welche die Industriestrukturen im vorhandenen Umfang weitgehend erhalten hätte, kam nicht mehr zustande.

Bleibt die Frage, warum die Belegschaften dem Aufruf der Gewerkschaft nicht gefolgt sind. Der Spiegel als bürgerliches Organ analysiert das Ereignis rückblickend im Jahr 1997 so: "Die aufbrandende Welle des sozialen Protestes in Ostdeutschland sollte erst mit den tödlichen Schüssen auf Detlef Rohwedder am 1. April 1991 für einige Zeit abebben".

Für den Mord an Rohwedder machte man schließlich die RAF verantwortlich - und das ohne eindeutige Beweise. Doch hatte dieser keinerlei Einfluss auf die damalige Stimmungslage. Warum sollte er das auch?

Es ist vielmehr anzunehmen, dass die Passivität der Belegschaften daran lag, dass sich eine Mehrheit der Menschen nach wie vor Illusionen über die kommende Entwicklung machte; dass sie sich einfach nicht vorstellen konnten, dass der Osten derart brutal abgewickelt werden würde, wie es dann in den Folgejahren geschah. Schließlich hatten Kohl und Kumpane den Menschen eine prosperierende Zukunft prognostiziert. Eine weitere Erschwernis, die bis heute in allen vergleichbaren Krisensituationen auftritt, ist die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust. Diese lähmt die Aktivität einer Belegschaft, besonders dann, wenn in den Betrieben keine kämpferische Führung durch Vertrauensleute und Betriebsräte vorhanden ist. Im Frühjahr 1991 hatte die IG Metall nicht in einem Betrieb im Osten solche gewerkschaftlichen Strukturen. Die daraus resultierende Folge war die persönliche Anpassung der KollegInnen an die betrieblichen Hierarchiestrukturen. Das blieb auch in den folgenden Jahren ein gravierendes Problem, dem weitere Niederlagen im Kleinen geschuldet waren. Der Macht der Unternehmer kann nur durch den Aufbau einer tatsächlichen solidarischen Gegenmacht etwas entgegengehalten werden. Dazu bedarf es aktiver Vertrauensleute und Betriebsrate, die solche gewerkschaftlichen Strukturen entwickeln. Doch das ist ein mühevoller und langwieriger Prozess, der bis heute nur vereinzelt abgeschlossen ist.

Die ersten Folgen der Niederlage des 18. April zeigten sich schon bald in der Tagespolitik innerhalb der Bezirke und Verwaltungsstellen. Der Ton zwischen den Tarifparteien verschärfte sich deutlich.

1990 bis Anfang 1991 wurde von den Kapitalisten auf die Stimmung der Menschen in der Frage der Angleichung der Lebensverhältnisse an den Westen Rücksicht genommen. Das zeigte sich an dem Tarifvertrag zur Aufzahlung des Kurzarbeitergeldes. In diesem Tarifvertrag wurde auch die Wirksamkeit von Kündigungen bis zum Juni 1991 aufgeschoben. Das heißt, gekündigte KollegInnen wurden erst zum 1. Juni 1991 tatsächlich arbeitslos. Der Tarifvertrag war zwischen Gewerkschaft und Verband konfliktlos abgeschlossen worden. Auch die weiteren Tarifverträge, wie der Manteltarifvertrag mit der Neueingruppierung aller Beschäftigten, waren problemlos abgeschlossen worden. Selbst der Stufen-Tarifvertrag zur stufenweise Angleichung der Löhne und Gehälter an das Niveau der westdeutschen Metall- und Elektroindustrie bedurfte nur weniger, nicht sehr eindrucksvoller, Warnstreiks, um abgeschlossen zu werden.

Der Abschluss erfolgte am 7. März und war von großer Bedeutung, denn er schrieb einen konkreten Zeitpunkt fest, bis zu dem 100 Prozent des bayerischen Entgeltniveaus erreicht sein mussten. Für die Löhne und Gehälter wurde durch den Tarifvertrag geregelt, dass ab April 1991 die Löhne auf 62,5 Prozent und die Gehälter auf 58,5 Prozent des bayrischen Tarifniveaus angehoben werden. In drei weiteren jährlichen Schritten sollte dann zum 1. April 1994 das volle bayrische Tarifniveau erreicht sein.

Seit Anbeginn stand dieser Tarifvertrag von konservativer Seite unter massiver Kritik, wobei das größte Geschrei aus dem Westen kam. Die dortigen Unternehmerverbände weinten dicke Krokodilstränen. Das Hauptargument, das gegen den Tarifvertrag angeführt wurde, war, dass er die Betriebe finanziell überfordern würde; ein Argument, das für die gesamtdeutsche Öffentlichkeit gedacht war und mit dem man versuchte, die Gewerkschaften für den Niedergang der ostdeutschen Industrie verantwortlich zu machen. Denn es war ja tatsächlich so, dass es mit den Betrieben nicht gut stand. Und natürlich war es für viele Betriebe ein außerordentlicher Kraftakt, die Entgelterhöhungen zu finanzieren. Das wurde von Seiten der IG Metall gar nicht bestritten. Doch die deutsche Wiedervereinigung war kein betriebswirtschaftliches Ereignis, sondern ein politischer Akt, der auf allen Ebenen entsprechende politische Maßnahmen erforderte. Dazu gehörte auch, dass in den neuen Bundesländern Lebensverhältnisse geschaffen werden, die mit denen der alten Bundesländern vergleichbar sind. Objektiv gesehen war die Angleichung der Einkommensverhältnisse eine absolute ökonomische Notwendigkeit, da sich die Preise rasch an die westdeutsche Preisstruktur anpassten, das heißt: Sie stiegen. Die Politik der IG Metall war deshalb nicht nur moralisches Gebot, sondern es entsprach dem Verfassungsgebot der vergleichbaren Lebensverhältnisse in der BRD. Deshalb musste es möglich sein, die Angleichungsschritte, wie im Tarifvertrag vorgesehen, auch mit der Unterstützung von Bundesregierung und Treuhandanstalt, zu stemmen. Zwei wesentliche Argumente setzte die IG Metall der konservativen Kritik entgegen: In den Betrieben, in denen die betriebswirtschaftliche Lage eine Entgelterhöhung schwierig machte, sollte die Treuhandanstalt unterstützend einspringen (was sie später ja auch tat). Sie war eine staatliche Behörde und damit natürlich bei der Schaffung gleicher Lebensverhältnisse dem Grundgesetz verpflichtet. Im Jahr 1991 war die Treuhandanstalt faktisch noch die fast 100-prozentige Eigentümerin der Betriebe. Das heißt, die Angleichung der Löhne und Gehälter war ein Posten, der unter den Gesamtkosten der deutschen Wiedervereinigung verbucht werden musste.

Zweitens waren selbst nach dem ersten Angleichungsschritt die Entgeltunterschiede zwischen Ost und West in der Metall und Elektro Industrie noch außerordentlich groß. Die Entgelte lagen in Sachsen beispielsweise um fast 50 Prozent unter denen in Bayern. Deshalb gab es auch für private Investoren, die zu dieser Zeit einen Treuhandanstalt-Betrieb übernahmen, keinerlei Grund zum Jammern. Um von der Treuhandanstalt einen Betrieb für wenig Kapitaleinsatz übertragen zu bekommen, musste der entsprechende Unternehmer schließlich ein fundiertes Unternehmenskonzept vorweisen, das eine eindeutige Zukunftsperspektive ausweisen musste. Durch den Stufentarifvertrag war so auch jedem "Investor" klar, wie sich die Lohnkosten in den kommenden Jahren entwickeln würden. Sie mussten Inhalt seines Konzeptes sein. Allerdings zeigte sich dann oft in der Folge, dass viele dieser Konzepte nicht auf soliden betriebswirtschaftlichen Fundamenten standen, sondern aufgebaut waren auf den Faktoren "Liebe, Glaube, Hoffnung". Doch das ist eine andere Sache, die nicht im Verantwortungsbereich der Tarifvertragsparteien lag und schon gar nicht in dem der IG Metall.

In der Tagespolitik zählten gute Argumente wenig. Der Verband der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie (VSME) schürte, angeführt von seinen westdeutschen "Beratern", verstärkt die Stimmung gegen die IG Metall und deren Politik, was dann schließlich zu der fristlosen Kündigung des Stufentarifvertrages seitens des VSME im März 1993 führte. Das war ein glatter Vertragsbruch. Doch dazu später.

Wir sind noch immer im Frühjahr 1991, mit sich teilweise überschlagenden Ereignissen. In verschärftem Tempo schritt die Treuhandanstalt unter Breuel mit der Privatisierungs- und Stilllegungspolitik fort. Die Reaktion blieb nicht aus: Im April und Mai gab es in Sachsen mehrere Betriebsbesetzungen mit der Forderung, dass "nicht plattgemacht, sondern saniert" wird. Nur in wenigen Fällen konnte die Betriebsschließung verhindert werden. Meistens gab es einen Sozialplan, der eine Beschäftigungsgesellschaft mit Qualifizierungsmaßnahmen für die Belegschaften vorsah und ansonsten nicht seiner Bezeichnung entsprach; denn Beschäftigung fand in diesen Gesellschaften niemals statt. Nach einer Anstandsfrist ging es direkt in die Arbeitslosigkeit.

Ab dem 1. Juni des Jahres verschärfte sich die Lage um ein weiteres. Jetzt wurden die vielen Kündigungen, schon vor Monaten ausgesprochen, wirksam. Schätzungsweise war damit die Hälfte der Metaller und Metallerinnen um die industriellen Schwerpunkte in Sachsen arbeitslos. Das wurde auch nach außen sichtbar. Tagelang standen riesige Mitgliederschlangen in und vor den Verwaltungsstellen der Gewerkschaft, die dort Rat und Rechtsschutz suchten

Die zunehmende Massenarbeitslosigkeit wirkte ungeheuer lähmend auf die Mehrheit der Werktätigen. Breit angelegte Widerstandsaktionen wie noch im März waren jetzt nicht mehr möglich. Wenn es zu Aktionen kam, dann nur noch von direkt Betroffenen, über deren Arbeitsplätze die Treuhandanstalt den Stab bereits gebrochen hatte oder über denen das Damoklesschwert sichtbar schwebte, wie zum Beispiel über den 3.000 Kollegen des Edelstahlwerkes Freital bei Dresden, die wegen des Schließungsbeschluss der Treuhandanstalt im August 1992 den Flughafen in Dresden mehrere Stunden lang besetzten und blockierten.

Vergleichbare Vorkommnisse gab es in dieser Zeit in allen Verwaltungsstellen im Osten in großer Zahl. Je kleiner ein Betrieb war, desto größer war die Gefahr, dass er über kurz oder lang aufhörte, zu bestehen. Ein Schließungsbeschluss kam mitunter rasch zustande, wenn der entsprechende Sachbearbeiter der Treuhandanstalt für den Betrieb keine Zukunft mehr sah. Lieber sah man in der Treuhandanstalt allerdings die Privatisierung. Jede gelungene Privatisierung gab Pluspunkte in deren "Erfolgsbilanz". Bei den kleinen Betrieben wurde da nicht immer so genau hingeschaut. Nur so ist es erklärbar, dass nicht selten ein Betrieb einem Lumpen und Betrüger übertragen wurde, der nicht im Entferntesten die Absicht hatte, den Betrieb wirklich zu betreiben, sondern nur am schnellen Profit interessiert war. Das lief in der Regel dann so, dass, so bald es nach dem Vertrag mit der Treuhandanstalt möglich war, die Belegschaft entlassen, der Betrieb ausgeschlachtet und die Immobilie zum Maximalprofit verwertet wurde. Der andere Fall, für eine Belegschaft aber nicht minder leidvoll, war die Übertragung des Betriebes an einen inkompetenten Kleingewerbetreibenden aus westlichen Gefilden oder an das vorhandene Management in der Form des "Management-buy-out (MBO). Es gab im Westen viele Herrschaften, die einmal so richtig den Kapitalisten spielen wollten. Auch ehemalige Betriebsdirektoren, Parteisekretäre und BGLer aus dem Osten sahen für sich die Chance, billig einen Betrieb zu übernehmen, den sonst niemand wollte, und so zu einem Vermögen zu kommen. Allen war in den meisten Fällen gemein, dass sie dazu nicht fähig und deshalb von dieser Aufgabe völlig überfordert waren. Innerhalb relativ kurzer Zeit nach der Betriebsübertragung gingen so nicht wenige Betriebe, die bei einer kompetenteren Unternehmensführung auf dem Markt durchaus eine Chance gehabt hätten, zugrunde.


Struktur- und Beschäftigungspolitik vs. Deregulierung

Die Jahre nach dem Anschluss des DDR-Staatsgebietes an die BRD waren gekennzeichnet von dem beispiellosen Niedergang der gesamten ostdeutschen Industrie. Das gilt besondere für Metall- und Elektro-Industrie in Sachsen, die in der Industriegeschichte Deutschlands lange eine herausragende Rolle gespielt hatte. Diese Tradition wurde in wenigen Jahren vernichtet. Geschuldet war das in erster Linie der Treuhandanstalt-Politik, für die alleine die Privatisierung im Vordergrund stand. Breuel drückte das so aus: "Privatisierung ist immer noch die beste Sanierung". Sie vertrat den Standpunkt - und war damit der typische Vertreter der neoliberalen Ideologie - dass nur Privatunternehmer die Kreativität und das Engagement besitzen, die Wirtschaft in der ehemaligen DDR voranzubringen. Aber es wurde nichts "vorangebracht"! Im Gegenteil! Der gesamte Osten Deutschlands stand vor der völligen Deindustrialisierung, verbunden mit einer dramatischen Massenarbeitslosigkeit. Für die IG Metall war deshalb die Struktur- und Beschäftigungspolitik das Zentrum ihrer Arbeit.

Es wurden Vorschläge über Vorschläge entwickelt, um Betriebe zu stützen und zu unterstützen, um die Wirtschaft voranzubringen. Es war eine Zeit, die ein wenig vergleichbar mit der Nachkriegszeit war, wo es auch die Gewerkschaften waren, die dafür sorgten, dass die noch vorhandenen Betriebe wieder zum Laufen kamen.

So wurden beispielsweise große Branchen-Beschäftigungsgesellschaften (ABS) gegründet, die durch die IG Metall initiiert wurden. Dann folgten Aktionen zur Unterstützung der Forderung nach Ausweitung der Hermeskredite, damit sächsische Betrieben konkrete Aufträge mit den GUS-Staaten in Höhe von mehr als 900 Millionen D-Mark hätten abarbeiten können.

Oder es wurde eine sächsische Industrieholding gefordert, um wichtige Betriebe zu sanieren und damit zu retten, und vieles Vernünftiges mehr. Eigentlich wären alle diese Überlegungen, Vorschläge und Forderungen zur Struktur- und Beschäftigungspolitik Aufgaben gewesen, die nicht von der IG Metall, sondern von der sächsischen Staatsregierung oder der Bundesregierung hätten angegangen werden müssen. Doch von dort kam nichts. Der sächsische Wirtschaftsminister Schommer hielt sich da mehr an die Devise seines Bonner Amtskollegen Rexroth, der da meinte: "Wirtschaft findet in der Wirtschaft statt".

Das war dann auch die große Linie. Die Staatsregierung hielt sich vornehm bei allem zurück, was nach direkter Intervention, Steuerung und Lenkung ökonomischer Prozesse auch nur roch. Es war das typische neoliberale, kleinkarierte Verhalten, das sich Anfang der 90er Jahre in der BRD durchzusetzen begann. Das gilt auch für Biedenkopf, den sächsischen Ministerpräsidenten. Der hatte zwar von bürgerlicher Seite den Nimbus erhalten, "vernünftig" mit allen gesellschaftlichen Kräften, also auch mit den Gewerkschaften, zusammenzuarbeiten. Doch blockte er ebenfalls alle gewerkschaftsseitigen Vorschläge, die nicht in sein neoliberales Konzept passten, ab. Vielleicht machte er es ein bisschen intelligenter als seine Amtskollegen.


Der Vertragsbruch

Begleitet war der Niedergang der sächsischen M+E-Industrie durch das Störfeuer des Verbandes der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie (VSME), der, wie schon beschrieben, nicht über seinen neoliberalen Tellerrand hinausschauen konnte. Besonders die Angleichung der Entgelthöhe an das bayrische Tarifniveau war den Herren im Verband ein Dorn im Auge. Am 1. April 1993 war laut Tarifvertrag der nächste Angleichungsschritt fällig: bei den Arbeitern von 71 auf 82 Prozent und bei den Angestellten von 69 auf 80 Prozent. Bereits im November 1992 musste die IG Metall feststellen, dass der Verband etwas vorbereitet. Die Klagen wurden lauter. So erklärte der Gesamtmetall-Hauptgeschäftsführer in einer Pressekonferenz bereits im November 1992 klar und deutlich, dass es im kommenden Jahr am 1. April in den ostdeutschen Tarifgebieten keine 26 prozentige Lohnerhöhung geben werde. Damit war die Propagandaoffensive der Unternehmer eröffnet. Besonders mit dem Prozentwert 26 wurde Stimmung gemacht. In unzähligen Presseberichten wurde der Öffentlichkeit eingetrichtert, dass eine "Entgeltsteigerung um 26 Prozent die Leistungsfähigkeit der Betriebe erheblich übersteigt". Aufgrund einer Revisionsklausel im Tarifvertrag forderte der Verband von der IG Metall Nachverhandlungen. Grundlage sollte ein "Angebot" sein, das die endgültige Angleichung der Entgelte auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben hätte. Für die IG Metall war das unannehmbar. Deshalb verliefen für den VSME die Nachverhandlung und eine darauf folgende Schlichtung ergebnislos.

Darauf erhielt am 18. Februar die Bezirksleitung der IG Metall Sachsen die fristlose Kündigung des Stufen-Tarifvertrages. Das war ein einmaliger Vorgang in der deutschen Tarifvertragsgeschichte. In dem Tarifvertragswerk gab es keine Möglichkeit einer außerordentlichen Kündigung. Es war deshalb eindeutig ein Vertragsbruch und damit ein Rechtsbruch. Die IG Metall konnte es sich in dieser Situation nicht leisten, die Gerichte anzurufen. Ein solcher Angriff durch die Unternehmer kann nicht juristisch, sondern muss politisch geklärt werden. Für die IG Metall war das eine komplizierte Situation. Aufgrund der beschriebenen Umstände war die IG Metall eigentlich in keinem Bezirk des Ostens streikfähig. Es fehlten viele wichtige Voraussetzungen dafür. Doch die Gewerkschaft hatte keine Wahl. In wenigen Wochen würde sie zu einem Streik gezwungen sein und den galt es vorzubereiten. Der Streik war unausweichlich. Eine Friedenspflicht gab es nicht .


Der Streik in Sachsen

Am 1. April rief die IG Metall in Sachsen sowie in den anderen ostdeutschen Tarifgebieten die Betriebe der M+E-Industrie zum Warnstreik auf. Die Streiks waren überall ein voller Erfolg. Mit einer solchen Resonanz hatte man im Apparat der IG Metall nicht gerechnet - im Verband der Metallarbeitgeber wahrscheinlich noch viel weniger. Aus den Betrieben heraus zogen die KollegInnen zu Kundgebungen. Dabei wurden sie massiv von der Bevölkerung solidarisch unterstützt. Zwei Wochen später erfolgte eine zweite Warnstreikwelle; wieder mit derselben Resonanz, trotz der Hetze der Medien, allen voran der Bildzeitung.

Die Unternehmer hatten mit ihrer Vorgehensweise den Bogen zweifellos überspannt. Die Bevölkerung in Ostdeutschland fühlte sich zutiefst ungerecht behandelt. Überall schien alles den "Bach 'runter zu gehen". Und jetzt kamen auch noch die Unternehmer und "klauten" den Arbeitern das Geld. Die Gewerkschaftsforderungen "Recht muss Recht bleiben!" und "Aktion statt Resignation!" trafen deshalb punktgenau den Nerv der Menschen. Verstärkt wurde diese Stimmung durch die Haltung der Bundesregierung und die Politik der Treuhandanstalt. Die Menschen brachten zurecht die Politik der Treuhandanstalt in Verbindung mit der Zerstörung ihrer Lebensgrundlage. Und die Bundesregierung schaute dabei zu und tat nichts dagegen. Die Ostdeutschen hatten deshalb den starken Eindruck, dass man im Westen wohl der Auffassung ist, dass man "mit den Ossis alles machen" könne. Die Bereitschaft zur Gegenwehr entstand aus dieser Stimmungslage. Und es ging deshalb bei der anstehenden Auseinandersetzung auch um die Würde der Menschen in Ostdeutschland.

Ende April fand die Urabstimmung statt mit einem zufriedenstellenden Ergebnis von 85 Prozent für den Streik. Am 3. Mai schließlich begann in Sachsen der Streik in der Metall - und Elektroindustrie zur Einhaltung des Tarifvertrages. An dem Arbeitskampf waren knapp 30.000 KollegInnen in 75 Betrieben beteiligt.

Am 14. Mai kam es schließlich zu einer Einigung zwischen den Tarifvertragsparteien, an der Biedenkopf als Vermittler nicht unbeteiligt war. Leider erreichte der VSME letztlich sein Ziel, den alten Stufenplan durch eine neue und schlechtere Vereinbarung zu ersetzen. Doch diese blieb hinter dem eigentlichen Ziel des VSME zurück. Der wollte die Angleichung auf einen undefinierten Zeitpunkt hinauszuschieben. Der Termin der endgültigen Entgeltangleichung war durch die Einigung der Tarifvertragsparteien jedoch klar fixiert. Das war ein Erfolg, auch wenn jetzt die Angleichung zwei Jahre nach hinten geschoben wurde. Ebenfalls durchsetzen konnte sich die IG Metall beim Angleichungsschritt des Jahres 1993. Die 80 Prozent des bayrischen Niveaus sollten kommen, wenn auch auf drei Schritte innerhalb des Jahres verteilt. Darüber hinaus wurde eine Härteklausel vereinbart. Sie sah vor, dass die Tarifvertragsparteien auf Antrag von Arbeitgeber oder Betriebsrat eine Regelung treffen konnten, die ein befristetes Abweichen von den Tarifnormen erlaubte. Und schließlich erklärte Gesamtmetall auch im Namen seiner Mitgliedsverbände, dass die außerordentliche Kündigung von Tarifverträgen kein geeignetes Mittel zur Lösung von Tarifkonflikten sei.

In der zweiten Urabstimmung wurde das Verhandlungsergebnis von der Mitgliedschaft mit 77,66 Prozent der Ja-Stimmen akzeptiert. Der erste Streik im Osten Deutschlands war damit beendet.

Trotz des Ergebnisses war der Streik vor allem politisch ein Erfolg für die IG Metall. Bereits bei Streikbeginn zeigte sich, dass anfängliche Sorgen über das Gelingen des Vorhabens unbegründet waren. Der Streikaufruf wurde überall praktisch zu 100 Prozent befolgt. Streikbruch in größerem Umfang gab es nicht. Alles lief mit uhrwerksartiger Präzision und Disziplin und einer tollen Stimmung ab. Die Anordnungen der betrieblichen Streikleitungen wurden ohne Diskussion von den Streikenden befolgt. So wurde über den Zeitraum von 24 Stunden ein exakter Zeitplan für die Einteilung der Streikposten erstellt. Und die Streikposten erschienen, auch übers Wochenende, pünktlich und diszipliniert. Nirgendwo gab es Probleme. Trotz unterentwickelter gewerkschaftlicher Struktur in den Betrieben präsentierte sich der Öffentlichkeit ein vorbildlicher Arbeitskampf.

Auch über die Unterstützung aus den West-Verwaltungsstellen konnte nicht geklagt werden. Besonders der Bezirk Stuttgart engagierte sich mit viel Unterstützung durch Hauptamtliche. Solidarität zeigten auch viele KollegInnen aus dem Westen. So kamen Delegationen zu den Streikenden vor die Werkstore, um sich über die Streiklage zu erkundigen.

In den Verwaltungsstellen war man damals der Auffassung, dass nach dieser großen Auseinandersetzung die Welt in den Betrieben eine andere sein würde; dass es jetzt tatsächlich gelingen würde, eine tatsächliche, kämpferische, gewerkschaftliche Gegenmacht aufzubauen. Doch das war eine Illusion. Nachdem in den Belegschaften die Anspannung des Streiks abgefallen war, ging man in den Betrieben wieder schnell zur vorherigen Tagesordnung über. Trotz der positiven Streikerfahrung kam es nicht zu selbstbewussten Belegschaften und es gelang der Gewerkschaft nicht, aktive Vertrauensleutestrukturen in den Betrieben aufzubauen. Das zeigte sich bald in den nachfolgenden betrieblichen Auseinandersetzungen. Die Arbeitgeber ließen in ihrem Streben, auf Kosten der Belegschaften ihre Profitsituation zu verbessern, natürlich nicht nach. Dabei wurden sie massiv vom VSME unterstützt. Zuerst wurde versucht, exzessiv von der tariflichen Härteregelung Gebrauch zu machen. Das geschah teilweise mit unglaublichen, vorgeschobenen Argumenten. Viele dieser Anträge wurden deshalb von der IG Metall abgewiesen.


Organisierte Tarifvertragsflucht

Der VSME änderte daher seine Taktik, indem er den OT-Verband (OT = ohne Tarif) "Ostmetall" ins Leben rief. Der Verband war personell fast identisch mit dem VSME und wird noch heute von diesem als der "neue Weg in der Tarifpolitik" gepriesen. Mit dem Verband "Ostmetall" versuchte der VSME, den eigenen, mit der IG Metall abgeschlossenen Tarifvertrag auszuhebeln, indem er mit der gelben Gewerkschaft CGM einen "Tarifvertrag" abschloss - oder besser gesagt, indem er dieser Scheingewerkschaft die eigenen Wüsche in den "Tarifvertrag" diktierte.

In den Jahren nach 1993, und das gilt im Grunde bis heute, fand und findet permanent die Flucht aus den Tarifverträgen durch die Kapitalisten statt. Widerstand durch die Belegschaft gab es selten. Seine Ursache hatte und hat dieses passive Verhalten der Belegschaften im Terror, den die Geschäftsführungen in diesen Betrieben gegen die Beschäftigten entfalteten. Besonders in den zwischenzeitlich privatisierten Treuhand-Betrieben war das fast an der Tagesordnung. War ein Betrieb noch unter der Verwaltung der Treuhandanstalt, verhielten sich die Geschäftsleitungen den Betriebsräten und Belegschaften gegenüber noch relativ gemäßigt. Man wollte "oben" nicht negativ auffallen. Das war man noch offensichtlich aus SED-Zeiten gewohnt. Nach der Privatisierung allerdings brauchten sie keine Rücksicht mehr zu nehmen. Oft Hand in Hand mit dem neuen Kapitaleigner aus dem Westen gingen sie gegen die Belegschaften vor, das heißt, gegen den Tarifvertrag und damit gegen die Einkommensgrundlage der Beschäftigten. Die Kapitalisten wussten genau, dass bei der vorhandenen Massenarbeitslosigkeit das Widerstandspotential gering ist. Leider hatten sie damit Recht. Nur in den Betrieben, die zu einem Großkonzern gehörten, ging man weniger grobschlächtig vor. In den Konzernzentralen wollte man mit einer wenig aggressiven Politik sicher Konflikte und Ärger mit dem Gesamtbetriebsrat vermeiden.

Die Folge der Entwicklung war dramatisch. Dem Kapital gelang es mit dieser Strategie, große Bereiche der Industrie zu deregulieren. Der Osten Deutschlands war dabei das große Experimentierfeld. Was hier durchgesetzt wurde, war auch Programm für den Westen. Und wie man heute sieht, mit nicht wenig Erfolg.


Ein Rückblick

Mit Schaum vor dem Mund fordern auch heute noch Teile der bürgerlichen Klasse die Aufarbeitung der Geschichte des "Unrechtsstaates DDR". Das ist ein ihrer Klasse entsprechendes, normales Verhalten, schließlich hatten sie 40 Jahre lang keinen Zugriff auf diesen Teil Deutschlands. Dabei steht im Fokus ihrer "Aufarbeitung" das "Menschenrecht Privateigentum" und die fehlenden bürgerlichen Freiheitsrechte. Gerne stellen sie dabei auch die DDR auf die gleiche Stufe wie den Faschismus in Deutschland. Widerstand gegen diese Geschichtsklitterung gibt es wenig. Die Geschichte wird, wie wir wissen, von den Siegern geschrieben. Das Ziel dieses Handelns ist klar: In Zeiten wachsender gesellschaftlicher Widersprüche wollen diese Kreise damit die wirkliche gesellschaftliche Alternative, den Sozialismus, auf Dauer diskreditieren. Ob ihnen das gelingt, bleibt abzuwarten.

Dabei wäre die wirkliche Aufarbeitung der Ereignisse der Jahre 1989 bis 1995 von Nöten. Die "deutsche Wiedervereinigung" und die damit verbundene Zerschlagung aller politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen der DDR war vor allem für die deutsche Bourgeoisie ein Riesengeschäft. Volkseigene Produktionsanlagen, Immobilien und Patente im Werte von Milliarden Euro wechselten den Besitzer. Die volkseigenen Betriebe sackten die privaten Kapitalisten aus dem Westen ein. für fast keine Gegenleistung. Die Treuhandanstalt überließ ihnen diese Werte für die Zusage, die Werktätigen in den überlassenen Betrieben auch in Zukunft auszubeuten. Und weil die Kapitalisten schon einmal beim Nehmen waren, ließen sie sich ihre Versprechen noch mit gesamtdeutschen Steuermitteln in Milliardenhöhe vergolden. Der dafür erhobene "Solidaritätszuschlag Ost" muss noch heute Monat für Monat bezahlt werden.

Niemals in der deutschen Geschichte gab es vermutlich eine größere Umverteilungsaktion von Unten nach Oben, wie in den Jahren nach der "Wende".

Gleichzeitig sahen die Unternehmer im Zusammenhang mit der Restaurierung des Kapitalismus im Osten Deutschlands die Chance, die Arbeitsbeziehungen in der gesamten Republik neu zu ordnen. Sahen sie sich in den Zeiten der Systemalternative "Sozialismus" gezwungen, auf die abhängig Beschäftigten Rücksicht zu nehmen, so war das jetzt nicht mehr der Fall. Der sächsische Unternehmerverband führte das exemplarisch den Gewerkschaften vor. Dabei war das kein Alleingang der "verrückten Sachsen", wie das manchmal gewerkschaftsseitig eingeschätzt wurde. Es war vielmehr die gezielte und geplante Umsetzung der Politik von Gesamtmetall, von BDI und BDA. Ostdeutschland war das Experimentierfeld zur Durchsetzung neoliberaler Unternehmenskonzeptionen nicht nur im Osten. In den Gewerkschaften hat man das lange Zeit nicht erkannt und als dann doch, nicht geglaubt, dass eine Übertragung ostdeutscher Verhältnisse auf den Westen möglich sei. Doch sieht man heute den schwindenden gewerkschaftlichen Einfluss in den Unternehmen allerorten. Das hat nicht nur etwas mit der ökonomischen Entwicklung der vergangenen Jahre zu tun. Die 35-Stunden-Woche, der einstige große tarifpolitische Erfolg der Gewerkschaften, konnte nicht weiterentwickelt werden. Im Gegenteil: In nicht wenigen Betrieben liegt man inzwischen wieder bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 40 Stunden und mehr. Inzwischen gibt es auch im Westen tarifvertragsfreie Zonen und ein zunehmendes aggressives Verhalten der Kapitalisten gegenüber Betriebsräten und Belegschaften.

Die Gewerkschaften waren während des gesamten Restaurationsprozesses in der Defensive. Sie mussten eine Gewerkschaftsorganisation mit einer Mitgliedschaft aufbauen, die sich Illusionen über die tatsächliche Politik der bürgerlichen Klasse machte und deshalb nicht für wirksame Widerstandsaktionen gegen die Abwicklung des Ostens zu gewinnen war. Einzelaktionen, wie Betriebsbesetzungen oder der Metallerstreik von 1993, waren dabei eher die Ausnahme, die die Regel bestätigte. Trotzdem war der, leider zu geringe, Widerstand, den die Gewerkschaften dem Durchmarsch des Kapitals entgegensetzen konnten, nicht umsonst. Viele Betriebe gibt es heute nur noch deshalb, weil sich die Gewerkschaften mit ihren bescheidenen Kräften eingemischt, und sich den belegschaftsfeindlichen Absichten der Treuhandanstalt und der privaten Eigentümer entgegengestellt haben.

Heute sind die inneren Strukturen der IG Metall und anderer Gewerkschaften in Sachsen vergleichbar mit denen anderer Gewerkschaftsbezirke im Westen. Zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR setzen sich auch die Funktionärskörper in den Betrieben aus anderen Leuten zusammen als Anfang der 90er Jahre. Die Mehrzahl der heutigen MetallerInnen wurde unter kapitalistischen Bedingungen sozialisiert. Trotzdem ist die IG Metall im Osten schwach und nur bedingt handlungsfähig. Das liegt aber nicht an der Funktionärs- und Mitgliederstruktur, sondern daran, dass es den Kapitalisten gelungen ist, gewerkschafts- und tarifvertragsfreie Räume zu schaffen. So gilt heute für eine große Mehrheit der Beschäftigten im Betrieb kein Tarifvertrag. Auch ist von der einstigen großen Industrielandschaft in Sachsen dank der Politik von Bund, Freistaat und Treuhandanstalt wenig übrig geblieben. Ganze Landstriche sind völlig deindustrialisiert. Die Zukunft ist deshalb insgesamt ungewiss und es ist nicht sehr wahrscheinlich, dass unter den Bedingungen einer kapitalistischen Gesellschaft eine Besserung eintreten wird.


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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 172, Sommer 2011, S. 14-25
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2011