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ARBEITERSTIMME/256: Nordkorea - Die gefrorene Revolution, Teil 2


Arbeiterstimme, Sommer 2012, Nr. 176
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
- Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein! -

Nordkorea

Die gefrorene Revolution, Teil II



Fast alle Städte des Nordens sind zwischen 50 und 100 Prozent zerstört, alle Industrieanlagen, Infrastruktur, Stauseen. (...) Das Land ist deindustrialisiert, die Menschen sind traumatisiert.


Nach dem Krieg

Kim braucht Jahre, um seine Position wieder zu festigen. Nach außen gibt er den Freiheitshelden des koreanischen Volkes, der eine Weltmacht gestoppt hat und der jetzt den planmäßigen Wiederaufbau des Nordens anleitet. Zwischen 1954 und 1958 wird das "genossenschaftliche Organisationssystem" in Landwirtschaft, Handwerk und Kleingewerbe eingeführt und durchgesetzt. Nach innen, d. h. innerhalb der Partei, setzen Schuldzuweisungen ein. Kim Il-sung geht in die Gegenoffensive, er schaltet die höchstrangigen Mitglieder aus dem Süden des Landes aus. Der Vorwurf lautet, dass sie ihre Aufgaben als Organisatoren während der Besetzung nicht leisteten. Also seien sie Spione der USA und müssen hingerichtet werden.

Kim gelingt es immer wieder, Koalitionen gegen Oppositionsgruppen zu schmieden und die Betroffenen als Schuldige auszuschalten. Das politische, militärische, humanitäre und ökonomische Debakel des Krieges wird nie thematisiert. Es habe nur Erfolge, keine Fehler gegeben, und wenn es zu Fehlern gekommen sei, habe der Feind seine Hand im Spiel.

Die Entstalinisierung 1956 öffnet kurze Zeit die Schleusen für Kritik in der Partei der Arbeit Koreas (PdAK), doch Kim setzt sich erneut im Zentralkomitee durch, wieder mit den bekannten Folgen für die allzu offenen Gegner.

Warum war dies möglich, weshalb gelang es ihm mehrmals, die Partei auf sich auszurichten?

Es gibt zweifellos mehrere Gründe, ob sie in der Summe eine überzeugende Erklärung ergeben, mag jeder für sich entscheiden.

Kim lässt einer möglichen Parteiopposition keinerlei Spielraum, seine Person ist anfangs immer wieder der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die Parteiflügel einigen - bevor diese Flügel, die "Cliquen" nach und nach beseitigt werden. Dazu bedient er sich der Strategie, diejenige Institution, die wie er selbst nach dem Desaster in Gefahr gerät, nämlich das Militär, als Machtfaktor neben die Partei zu stellen. Die Juche-Ideologie, die Kim im militärischen Umfeld entwickelt, ist dafür der entscheidende Hebel.

Für die harte Zeit des Aufbaus nach dem Krieg, die tiefe Einschnitte in die gesellschaftliche Organisation Nordkoreas mit sich bringt, steht Kim Il-sung, der alle entsprechenden Maßnahmen durchsetzt und vertritt: die Kollektivstrukturen in Handwerk und Handel, die Kollektivierung der Landwirtschaft auf dörflicher und auf städtischer Ebene in den 1950er Jahren unter lokalen wie regionalen Lenkungskomitees.

Kim beginnt mit seinen Reisen durch das Land, bei denen er den Menschen das Gefühl gibt, den Aufbau anleitend und motivierend in die Hand zu nehmen. Was in späteren Jahren zum Ritual wird und vor Ort eher Schrecken als Hilfe bedeutet, vermittelt in den ersten Jahren das - durchaus beliebte - Bild des volksnahen und aufopferungsvollen Führers. Niemand aus der Parteispitze ist in der Lage, eine ähnliche Rolle zu spielen.

Kim vertritt Korea nach dem Krieg gegenüber den Verbündeten. Ob die Gerüchte zutreffen, dass sowohl die Sowjetunion als auch China versucht haben, sich Kims zu entledigen, muss offen bleiben. Er war sicher nicht der Lieblingsverhandlungspartner für die anderen sozialistischen Staaten und des Öfteren mussten sie gute Miene zum bösen Spiel machen. So gewähren die sozialistischen Staaten Wiederaufbauhilfe in verschiedenen Sektoren. DDR-Baubrigaden helfen bei der Wiedererrichtung der schwerst zerstörten Großstadt Hamhung zwischen 1954 und 1962, danach werden sie ohne Dank entlassen, ein weiterer Kontakt ist nicht erwünscht.

Die Drei- bzw. Fünfjahrespläne zur Wiedererlangung des Produktionsniveaus von 1949, um mit Hilfe einer industrialisierten, sozialistischen Wirtschaft die Versorgung der Bevölkerung mit Kleidung, Nahrung und Wohnraum zu sichern, werden großzügig gestützt und sind durchaus erfolgreich. Die Hilfe für Nordkorea ist auch Hilfe für Kim, der die Erfolge innenpolitisch und innerparteilich nutzt. Kim perfektioniert den Schaukelkurs zwischen der Sowjetunion und ihren Verbündeten einerseits und dem Nachbarn China andererseits. Dass Mao den Norden gerettet hat, lässt Kim Il-sung keineswegs in Abhängigkeit geraten - schließlich gibt es die sozialistischen Blockstaaten. Und eine Mitgliedschaft Koreas im ökonomischen oder gar militärischen Bündnis der Oststaaten kommt nicht in Frage - schließlich gibt es die Volksrepublik China.

Beide sozialistischen Lager wiederum können aus eigennützigen Gründen auf ein sozialistisches Nordkorea nicht verzichten. Kim garantiert diesen Kurs ohne Wenn und Aber, wenngleich der sozialistische Inhalt dieses Kurses immer fragwürdiger wird. Selbst die Ordens- und Ehrungsflut für Kim Il-sung, die sich auf ihn ergießt (auch Honecker heftet ihm den Karl-Marx-Orden an), nutzt er, um seine Einzigartigkeit zu behaupten und zu festigen.

Spätestens nach dem 5. Parteikongress der PdAK Ende 1970 hat Kim keine innenpolitischen Gegner mehr, der Partei ist das Rückgrat gebrochen und der Führerkult gewinnt zunehmend an Fahrt. Parallel dazu wird die Militärführung, die ihre umgreifenden Strukturen in jedem nordkoreanischen Verwaltungsbezirk ausprägt, eigenständiger und ist nicht mehr antastbar. Bindeglied zwischen Militär und Partei ist Kim Il-sung, der beide Führungen in Personalunion übernimmt, Mittler zwischen Politik und Volk ist ebenfalls Kim, der die Partei nur mehr zu organisatorischen Zwecken benutzt.

Häufig wird das System Nordkoreas als stalinistisch apostrophiert, treffender ist - nicht zuletzt aus kultureller Sicht - die Bezeichnung maoistisch. Der gottgleiche Führer chinesischer Tradition, in dessen Person das Wohlergehen des Volkes, sein Schicksal und seine Zukunft aufgehoben ist, erlebt eine koreanische Wiedergeburt. Mit Rezepten Maos zur kollektiven Anstrengung, um gesellschaftliche Entwicklungssprünge zu vollziehen, prägt auch Kim Il-sung die Ausrichtung der Wirtschaft.

Ab Beginn der 1960er Jahre verändern sich die Rahmenbedingungen für Koreas Fortschritte. Die Beziehungen zwischen China und der UdSSR verschlechtern sich dramatisch, beider Hilfeleistungen gehen mehrere Jahre lang deutlich zurück. Die Kubakrise 1962 und der beginnende Militäreinsatz in Vietnam zeigen die Gefährlichkeit und die Entschlossenheit der USA im antikommunistischen Kampf. Also steigen in Korea die Ausgaben für das Militär und der erste Siebenjahresplan 1961 verfehlt die Planziele massiv, worauf er um drei Jahre gestreckt werden muss. Die "Chollima-Bewegung" (benannt nach einem mythischen Pferd, das an einem Tag 1000 Meilen zurücklegt) soll die Willensanstrengung der Arbeitenden zum Nutzen des Volkes ins Gigantische steigern und gleichsam im Vorwärtsstürmen den Mangel an Ressourcen, egal ob Maschinen, Material, Kenntnisse oder Geld, ausgleichen. Bilder und Statuen des reitenden Kim, sowohl des Vaters als auch des Sohnes, gibt es in Nordkorea häufig, dies symbolisiert die Beherrschung des allmächtigen Willens durch den legitimen Herrscher.

Der eisernen Hand Kim Il-sungs ist es zu "verdanken", dass die notwendigen Misserfolge dieses voluntaristischen Vorgehens nicht zum wirtschaftlichen Zusammenbruch und zur Hungersnot führen. Hilfe der fremd gebliebenen Freunde des sozialistischen Lagers stopft die gröbsten Löcher und der Unterschied der Lebensverhältnisse zwischen Nord- und Südkorea klafft bis Anfang der 1980er Jahre noch nicht unerträglich weit auseinander. Der Ausbau sozialer Leistungen ist unter diesen Rahmenbedingungen sogar bemerkenswert: zwischen 1960 und 1980 zählen dazu die Abschaffung von Schul- und Studiengebühren, die kostenlose Unterbringung in Studentenheimen, die kostenfreie Schulspeisung, die (gerade Touristen beeindruckende) Abschaffung direkter Steuern, eine (außerhalb der Landwirtschaft) regelmäßige Arbeitszeit von 48 Wochenstunden bei zwei Wochen Jahresurlaub, ein niedriges Renteneintrittsalter von 55 (Frauen) und 60 Jahren (Männer) bei 70 % des Lohnes, der allerdings recht niedrig liegt und nur die Grundbedürfnisse abdecken kann. Gemüse wird ohne Lebensmittelkarte verkauft, zum Fleischbezug werden Bezugsscheine benötigt.

Die Geburtenzahlen sind nicht geregelt, zwei Monate vor und drei Monate nach der Geburt werden die jungen Mütter freigestellt.

Diese Garantien, die bis heute gelten (sollen), sind für ein Entwicklungsland außergewöhnlich und verschaffen Korea einige Aufmerksamkeit in der Dritten Welt. Allerdings können diese Sozialmaßnahmen, wie gezeigt, nicht mehr aus der steigenden Produktivität der eigenen Wirtschaft gestemmt werden kann. Die rasche Erhöhung der Auslandsschulden (bei den sozialistischen Staaten) innerhalb weniger Jahre ist dafür ein beredtes Zeichen.


Konsolidierung und Umschwung

Einige wenige Strukturdaten (das Datenmaterial der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre ist heftig schwankend und scheint insgesamt wenig verlässlich) deuten also für Nordkorea bis ca. 1980 eine Entwicklung an, die für das Land selbst einen Fortschritt darstellt und von der Bevölkerung als allmählicher Anstieg des Lebensstandards wahrgenommen wird. Aber eben unter den Bedingungen einer von außen getragenen Entwicklung.

Die ökonomische Abhängigkeit von der UdSSR auf dem Energiesektor, im Maschinen- und Fahrzeugbau verstärkt sich bis zu deren Ende 1991 enorm. 40 % bis 45 % aller Im- und Exportgüter werden noch 1991 nur mit der Sowjetunion ausgetauscht. Zum Vergleich: bei stark sinkendem Volumen geht diese Quote bis 1993 auf 17 % mit Russland zurück. Da Korea seine Schulden nicht bedient, fließen auch keine neuen Kredite und damit keine Güter, die nicht durch Gegenlieferungen bezahlt werden können.

Worin liegen aber die Erfolge der 1970er und Anfangs der 1980er Jahre? Die Bevölkerungszahl steigt zwischen 1960 und 1991 von 11 Millionen auf 22 Millionen Menschen. Kontinuierliche Zuwachsraten werden dadurch gestützt, dass die Säuglingssterblichkeit parallel dazu sinkt und die durchschnittliche Lebenserwartung erkennbar für beide Geschlechter ansteigt (von ca. 65 auf ca. 70 Jahre; gegenwärtig liegt sie darunter). Die Alphabetisierung - im Gefolge der Nachwirkungen des Krieges - zeitigt große Erfolge, die Quote der Lese- und Schreibunkundigen sinkt von 15 % auf 5 %. Der Grad der Verstädterung nimmt allein zwischen 1976 und 1983 von 40 % auf 63 % der Bevölkerung zu, soweit die Zahlen glaubhaft sein sollten. Seither ist die Zahl der Stadtbewohner allerdings nicht mehr gestiegen, sondern stagniert bei 60 %.

Das Bruttosozialprodukt wird 1975 mit 7 Milliarden, 1981 mit 25 Milliarden US-Dollar angegeben. Unabhängig davon, dass diese Steigerung auf mehr als das Dreifache unwahrscheinlich ist, kann doch gesagt werden, dass es erkennbare Zuwächse in dieser Phase gibt. Bemerkenswert ist andererseits, dass diese 25 Milliarden US-Dollar bis heute nicht mehr erreicht werden.

Es spricht für eine allmählich durchgreifende Industrialisierung, dass die nationale Wertschöpfung 1981 zu 46 % im industriellen Sektor erfolgt, der 33 % der Beschäftigten Arbeit gibt. Gleichzeitig beläuft sich der Anteil der Landwirtschaft auf 22 % am BSP, aber 49 % aller Arbeitsplätze. Die dramatische Unterproduktivität in der Landwirtschaft, die in den 1980er Jahren noch abgefedert und verdeckt wird, tritt nach dem Zusammenbruch der UdSSR offen zutage und hat die allseits bekannten Hungersnöte ab 1995 bis 1998 zur Konsequenz.

Die deutlich schlechteren Lebensbedingungen auf dem Lande werden auch durch archaisch anmutende Bestimmungen und Gepflogenheiten für die bäuerliche Bevölkerung zementiert. Es gibt so gut wie keinen Maschineneinsatz auf den Feldern und den Höfen, Büffelfuhrwerke und der Pflug, der vom Ochsen gezogen wird, prägen die ländliche Szenerie bis heute. In den landwirtschaftlichen Kooperativen sind die Beschäftigten nach Feldbau-, Vieh- und Obstbrigaden eingeteilt, die Arbeitszeit hängt allein am natürlichen Rhythmus der Landwirtschaft. Geld spielt (offiziell) eine untergeordnete Rolle, die Bauernfamilien werden als Einheit gesehen und einmal(!) pro Jahr mit einem Geld- und Naturalanteil entlohnt. Zusätzlich erhalten Familien seit den 1990er Jahren 100 bis 150 m² Land zum privaten Anbau und Überschussverkauf.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass einerseits die Entwicklung nach den Zerstörungen des Krieges bis Anfang der 1980er Jahre in einigen Sektoren (Wohnungsbau, verkehrstechnische Infrastruktur, Elektrifizierung, Bergbau) beeindruckend ist. Die begleitende Schwäche dieser Entwicklung besteht aber darin, dass es Korea nicht gelingt, die Hilfe der (nicht offiziell) Verbündeten in einen qualitativen Sprung der Industrialisierung umzusetzen. Technisierung und Effektivitätsgewinne bleiben aus, die Chollima-Kampagnen, die beständig ausgerufen werden, sind, so gesehen, das Eingeständnis dieses Versagens. Die Mobilisierung der Massen für bestimmte (eilige) Programme kann der Effektivität eines Maschineneinsatzes durch Fachleute nicht das Wasser reichen. Paradebeispiel für diese Art des Vorgehens sind die jährlichen Kampagnen zum zeitgerechten Einbringen der Reisernte. Zugestanden sei, dass diese Arbeit sehr schnell und zum richtigen Zeitpunkt erbracht werden muss, wenn der Ertrag hoch sein soll. Kann jedoch dieses Ziel erreicht werden, wenn man Erntearbeiter durch Zwangsabordnungen aus nicht landwirtschaftlichen Betrieben, Büros, Schulen oder sonst woher verpflichtet? Der "Eifer" dieser solcherart zur Solidarität Verurteilten, die eher lustlos auf den Feldern herumstochern, ist mit Händen zu greifen. Ihre eigentliche Arbeit bleibt liegen, ihre Feldarbeit ist keine wirkliche Hilfe und im nächsten Jahr steht die nächste Kampagne an - nichts verändert sich. Notwendige Übergangslösungen werden zur Dauereinrichtung und finden so auch noch ihre ideologische Überhöhung. Die chronisch unterdurchschnittliche Produktivität in der Landwirtschaft, der unzureichende Motorisierungsgrad und die fehlende Mobilität der Beschäftigten werden in den "guten" Jahren weder thematisiert noch gelöst. Als das sozialistische Lager ab 1990 verschwindet, können die Versäumnisse nicht mehr durch Hilfslieferungen kaschiert werden.


Die Neuausrichtung Nordkoreas nach 1991

Es bedarf nur einer - allerdings sehr schweren - Naturkatastrophe, um die Schwächen des Landes zu offenbaren. Das erste große Hungerjahr 1995, das von weiteren gefolgt wird, ist, oberflächlich betrachtet, die unmittelbare Folge schwerer und lang anhaltender Überschwemmungen. Die Ernte des Jahres ist vernichtet und es gibt keine Reserven mehr. Die Überschwemmungen sind deshalb so verheerend und fordern viele Menschenleben, weil für landschaftliche Schutzmaßnahmen, Aufforstungen oder Terrassierungen keine Mittel mehr zur Verfügung stehen. Zur Wirtschaftskrise, die Ergebnis regelrechter Einbrüche der Ökonomie zu Beginn der 1990er Jahre ist, tritt die Hungerkrise, die bis zu einem Viertel der Bevölkerung massiv trifft. Zwischen 1990 und 1993 schrumpft die Wirtschaftsleistung um 18 %, die Einfuhren gehen auf niedrigem Niveau um über 50 %, die Ausfuhren um 35 % zurück.


Die politische Reaktion auf die Krise und der Wechsel von Kim Il-sung zu Kim Jong-il

Die politische und die militärische Führung des Landes dürfte von der Abwicklung der Sowjetunion nicht überrascht worden sein, gleichwohl ist sie aber den Folgen des Zusammenbruchs ungeschützt ausgeliefert.

Seitdem 1976 die chinesische Führung eine Neuausrichtung ihrer Wirtschaftsweise beschloss und die Nachrüstungsfrage wenige Jahre später eine neue Militäroffensive des Westens offenbarte, die nicht mehr beantwortet werden konnte, ist Bewegung in die politischen Lager gekommen. Rüstungsmaßnahmen binden im Osten viele Mittel, die Außenposten des Sozialismus (Kuba, Vietnam, Korea) bekommen dies zu spüren. Mitte der 1980er Jahre leitet Vietnam Wirtschaftsreformen, beginnend mit der Rückübertragung landwirtschaftlichen Bodens an die Familien, ein. Vietnam ist aber das Resultat einer siegreichen nationalen Vereinigung auf sozialistischer Grundlage. Nordkorea dagegen ist Produkt deren Scheiterns, die Führung muss auf die veränderte Weltlage reagieren und sie wählt einen Ausweg eigener Prägung. Damit dokumentiert die Führung, dass sie handlungsfähig ist und die Weichen stellt, weiter handlungsfähig zu bleiben.

1990/91 schwört Kim Jong-il das Zentralkomitee der PdAK darauf ein, den Sozialismus eigener Prägung noch entschlossener zu verteidigen. Er wirft den (untergegangenen) Parteien Osteuropas vor, ihre Völker betrogen und verraten zu haben. Die Wohltaten des Sozialismus seien mutwillig aufgegeben worden, die führenden Parteien hätten ihrer eigenen Aufweichung so lange zugesehen, bis es zu spät gewesen sei. Die Bedeutung der ideologischen Arbeit sei deshalb nicht hoch genug anzusetzen. Deshalb müssen auch in Korea die Reihen noch dichter geschlossen werden, der Primat von Propaganda und ideologischer Geschlossenheit sei der Garant dafür, immer lichtere Höhen des Sozialismus zu erreichen.

Kim lässt sich, genauso wie die militärische Führung, auf keinerlei Diskussion über das Ziel des Sozialismus ein. Es gebe keine Krise, höchstens Verräter. Noch bemerkenswerter in dieser Hinsicht scheint mir die qualitative Abgrenzung der Juche vom Marxismus. Zwar erkennt Kim die "Errungenschaft des dialektischen Materialismus" im Marxismus weiter an, aber gegenwärtig seien seine Beschränkungen evident geworden. Glücklicherweise habe die Juche die Erfordernisse der Gegenwart erkannt und so sei diese originäre (!) philosophische Theorie allein in der Lage, eine Handlungsanweisung für den existierenden Sozialismus darzustellen (Kim Jong-il: Über einige Probleme der ideologischen Festigung des Sozialismus. Rede vor dem Zentralkomitee der PdAK vom 30. Mai 1990).

Während also nach innen das Signal auf ein "Weiter so!" gestellt ist, ohne die Voraussetzungen und Möglichkeiten für den Sozialismus in diesem krisengeschüttelten Land zu erörtern, plant Korea außenpolitisch längst für die Zeit nach dem militärischen Schirm durch die sozialistischen Staaten. 1993 wehrt sich der Norden gegen die weitere Überwachung durch die Internationale Atomenergie-Kommission und tritt schließlich nach deren Hilfsverweigerung aus der Organisation aus.

Präsident Clinton, der offenbar die Schwächung Nordkoreas für weitgehende Zugeständnisse nutzen will, animiert Südkorea, die Stationierung von US-Patriot-Raketen zu beschließen. Zusätzlich werden UN-Sanktionen verhängt und eine "internationale Gemeinschaft" zusammengezimmert, die wirtschaftlichen und diplomatischen Druck ausübt. Jonathan Scheu (in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Mai 2012) spricht davon, dass die amerikanische Administration "ernsthaft breit angelegte militärische Angriffe" auf den Norden erwägt, Enthauptungsschläge, um dessen Atomwaffenfähigkeit zu verhindern. Jimmy Carters Feuerwehrmission entschärft kurzzeitig die Situation, dafür sollen die USA für existierende Graphitreaktoren Leichtwasserreaktoren liefern, die weniger waffenfähiges Material erzeugen. Sie werden nie gebaut werden, die USA halten ihre Zusagen wieder einmal nicht ein. Nordkorea tritt aus dem Atomwaffensperrvertrag aus und vermag es wohl, den Stand der Entwicklung eigener Atomwaffen weitgehend geheim zu halten. Die Unabhängigkeit des Landes ist erneut, wenn auch unter harten Opfern wegen der exorbitanten Kosten dieses Projekts, gegen die größte imperialistische Macht behauptet. Ein Erfolg, der im Land selbst nicht groß genug gefeiert werden kann, der aber auch in andere Länder mit ähnlichen Bedrohungsszenarien ausstrahlt. Solche Erfolge waren selten geworden, namhafte Persönlichkeiten sozialistischer Staaten oder aus Entwicklungsländern vermieden seit Jahren direkte Kontakte.

Es ist ein Markenzeichen nordkoreanischer Außenpolitik bis heute, dass sie die oberste Leitlinie von der Souveränität des Landes sehr ernst nimmt. Die meist sehr plumpen Versuche westlicher Staaten, Nordkorea unter Druck zu setzen, indem Gelder und Handelsberechtigungen nach Wohlverhalten gewährt oder entzogen werden, scheitern bislang regelmäßig. Nahrungsmittellieferungen fallen als taktisches Mittel ebenfalls unter dieses erpresserische Verhalten. Eher werden mühsam entwickelte Kontakte und Beziehungen ersatzlos abgebrochen, als dass man sich der Stärke des Gegners beugt. Die koreanische Diplomatie wird, auch wenn sich häufig ein willkürlicher und chaotischer Eindruck ergibt, aus einer Hand gemacht. Noch sind keine Fraktionen gegeneinander auszuspielen, noch gelten die Entscheidungen der Führung, solange sie nützlich sind.

Wenn sich die Einschätzung wandelt, wird der bisherige Kurs auf der Stelle verändert. Die koreanische Politik geht dabei zweifellos Risiken ein, sie vermag andererseits aber auch die Interessen der anderen Seite und deren Grad an Entschlossenheit bei der Durchsetzung bislang hervorragend einzuschätzen.

So werden die koreanischen Atomwaffentests zähneknirschend hingenommen - weniger deshalb, weil die atomare Schlagkraft nicht zu kalkulieren sei, sondern weil die konventionelle Feuerkraft, die gegen den Großraum Seoul gerichtet ist, umso besser einzuschätzen ist.


Der "anstrengende Marsch": die Hunger- und Wirtschaftskrise Mitte bis Ende der 1990er Jahre

Erstaunlich ist diese Fähigkeit zur Selbstbehauptung aber auch deshalb, weil der Machtübergang auf Kim Jong-il nach dem Herztod des Vaters am 8.Juli 1994 alles andere als reibungslos verläuft.

Die nordkoreanische Erläuterung zum Tod des 82-Jährigen lautet, dass er in rastloser Sorge um sein Volk und aufgerieben von dem unablässigen Dienst für die Einheit Koreas gestorben sei und sein Land in unfassbarer Trauer hinterlassen habe. In "Spontaninterviews" und allen öffentlichen Äußerungen wird der Trauerbekundung die umso festere Entschlossenheit angefügt, die Ziele des verstorbenen Führers zu verwirklichen. Dieser Ritus wird im Dezember 2012 vollständig wiederholt werden.

Kim Jong-il, der seit Mitte der 1970er Jahre fest an der Seite seines Vaters stand und seither der koreanischen Öffentlichkeit bekannt ist, war nach und nach mit einflussreichen Ämtern, zuletzt mit dem Vorsitz der Nationalen Verteidigungskommission (NVK), versehen worden. Ob die Nachfolgeregelung aber wie vom Vater initiiert greift, bleibt zunächst ungewiss. Nordkorea wird eine dreijährige Trauerzeit auferlegt, während der kerne politischen Entscheidungen veröffentlicht werden. Wie bereits gesagt, bleibt die außenpolitische Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit in diesen Jahren bestehen. Selbst die Hungerkrise, die das Land bis ins Mark erschüttert, beeinträchtigt die Führungsrolle des inoffiziellen Nachfolgers nicht erkennbar.

Ohne Zweifel erlebt die Bevölkerung den Machtwechsel als Abschied von zwar sparsamen, aber verlässlichen Zeiten. Es liegt kein Glück auf der neuen Herrschaft, weder die Partei noch die Volkskomitees vor Ort vermögen die Grundbedürfnisse in den dezentralen, verkehrstechnisch schwerer zugänglichen Regionen zu gewährleisten. Die praktische Pflicht zum Verbleib am Wohn- und Arbeitsort ist unter den Bedingungen der Nahrungsmittelnot und dem Wegbrechen von Arbeitsplätzen in Handwerk und Industrie nicht mehr aufrecht zu erhalten. Weil der Zuzug in die großen Städte aber nach wie vor kontrolliert und limitiert ist, ziehen Zehntausende, wenn nicht wesentlich mehr, durchs Land auf der Suche nach Arbeit und Nahrung.

Seit dieser Zeit setzt die illegale, weil es keine zwischenstaatlichen Vereinbarungen gibt, Wanderungsbewegungen nach Norden, nach China ein und die Behörden können nur mehr zusehen. Größenordnungen müssen äußerst vage bleiben, man dürfte sich aber der Wahrheit nähern, wenn man davon ausgeht, dass etwa eine halbe Million Nordkoreaner während der letzten 15 Jahre kürzer oder länger in einer der mandschurischen Provinzen Chinas Unterschlupf und Beschäftigung gefunden hat. Der koreanischen Führung kommt dabei entgegen, dass China kein Interesse hat, diese Arbeitsimmigration und den diese begleitenden Schmuggel offen zu thematisieren. China schließt die Grenze aus mehreren Gründen nicht: die koreanische Minderheit in der Mandschurei soll nicht verärgert werden, zu der mehrere Millionen Menschen zählen - Genaueres ist schwer zu sagen, weil Koreaner nicht zu den 56 offiziellen nationalen Minderheiten zählen, sie "besitzen" ja einen eigenen Staat - und die vielfach verwandtschaftlich verbunden ist mit den Nordkoreanern. Und es gibt einen zweiten Grund, der offensichtlich wird, wenn vor dem Reisenden, der mit der Bahn aus Korea kommt, hinter dem Grenzfluss Yalu die Skyline Dandongs auftaucht. Der Bauboom in den Großstädten Dandong und vor allem Shenyang nährt sich auch von der billigen und willigen Arbeitskraft koreanischer "Wirtschaftsflüchtlinge".

Um ein Fazit zu ziehen, die soziale Kontrolle über die Menschen Nordkoreas und damit die Autorität des legitimen Führers haben nachgelassen. Dies führt im Land selbst zu hybriden Wirtschafts- und Existenzformen, die nicht aus besserer Einsicht, sondern aus Schwäche heraus geduldet werden, die auch nicht thematisierbar oder diskutierbar sind. Jenseits der vorgesehenen Verteilungs- und Versorgungsstrukturen haben sich längst "Bauernmärkte", illegale Handelswege und persönliche Tauschbeziehungen herausgebildet, die helfen, die gröbsten Mängel zu lindern. Eine Schicht von Profiteuren entsteht, die über kurz oder lang eigene Interessen entwickelt und vertritt, die sich in Opposition zur Regierungspolitik befindet.

Exemplarisch für die engen Grenzen, diese Entwicklungen unter den herrschenden Bedingungen zu stoppen oder gar umzukehren, sei auf das Desaster der Währungsreform im Spätherbst 2009 verwiesen.

Der inflationäre alte Won sollte im Verhältnis von 100:1 getauscht werden, pro Person in einer Gesamthöhe, die maximal drei durchschnittlichen Monatsgehältern entspricht. Eine weitere limitierte Summe darf zum Kurs von 1000:1 gewechselt werden. Spargelder, die darüber hinausgehen, werden ersatzlos entwertet. Das gerade in der inoffiziellen Wirtschaft erworbene Geldvermögen sollte damit abgeschmolzen werden. Die Geldmenge würde durch diese drakonische Maßnahme ein wenig näher an die spärliche Güterproduktion im Land herangeführt werden.

Im Gefolge des Beschlusses ist umgehend von Protesten, Schwarzgeldtausch in chinesische Yuan und Dollar, von geschlossenen Geschäften und geräumten Banken die Rede. Es sei, was bisher unbekannt war, zu spontanen Demonstrationszügen gekommen. Die Führung wiegelt ab, schließt regional, später national Kompromisse und zieht im März 2010 die ihr eigenen Konsequenzen: der Leiter des Finanzkomitees, Park Nam-ki, ein 77-jähriger Grande der Partei, wird zusammen mit einem Planungs(vize-)verantwortlichen wegen Sabotage an der Volkswirtschaft hingerichtet. Die Reform führt zu neuen Geldscheinen, aber zu keinem größeren Güterangebot. Die Einheit von Volksmassen und Partei (bzw. Militär, das längst an deren Stelle getreten ist) ist offensichtlich nicht mehr vorhanden. Dies verstärkt die Haltung in der Bevölkerung, die gesellschaftlichen Pflichten zwar abzuleisten, innerlich aber mehr und mehr damit zu brechen. Versammlungen, Feierstunden (natürlich für die Kims), gemeinsame Arbeitsleistungen bis hin zum Militärdienst werden mit Hilfe von Gefälligkeiten, Geld oder Waren abgekürzt oder vermieden.

Wie lange wird die Führung so noch weitermachen können, wie lange wird die Bevölkerung noch wollen? Diesen Fragen werde ich im letzten Teil, der sich mit dem Nordkorea der Gegenwart beschäftigt, nachgehen.


Anmerkung der Schattenblick-Redaktion:
Der erste Teil ist im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → Infopool → Medien → Alternativ-Presse:
ARBEITERSTIMME/246: Nordkorea - Die gefrorene Revolution, Teil 1 zu finden.

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Quelle:
Arbeiterstimme, Nr. 176, Sommer 2012, S. 25-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2012