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ARBEITERSTIMME/294: Islamischer Fundamentalismus, Islamischer Staat und der Westen


Arbeiterstimme Nr. 186 - Winter 2014
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Islamischer Fundamentalismus, Islamischer Staat und der Westen



Die Welt, die in das dritte Jahrtausend eintritt, ist nicht von stabilen Staaten oder stabilen Gesellschaften gekennzeichnet. Die Welt, oder große Teile von ihr, wird durch Gewalt verändert werden. Doch die Art dieser Veränderungen ist noch völlig unklar.
(Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, 1995, S. 570)


Der "Krieg gegen den Terror", den US-Präsident George W. Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausrief, geht nun offenbar in Form des "Krieges gegen den Islamischen Staat" in seine zweite Runde. Zwischen diesen beiden seltsamen Kriegen - seltsam, weil Kriege gewöhnlich zwischen Staaten geführt werden und nicht von einer Weltmacht gegen religiös inspirierte Gruppierungen - liegen die militärische Unterwerfung des Irak durch die USA mit dessen anschließendem staatlichen Zerfall, der Sturz des Gaddafi-Regimes in Libyen mit nachfolgendem Bürgerkrieg und staatlicher Instabilität, der Wahlsieg der Muslimbruderschaft in Ägypten und im Jahr darauf der Militärputsch gegen deren Präsidenten Mursi, das Versinken Syriens in Bürgerkrieg und Anarchie, die Ausweitung der israelischen Siedlungen im Westjordanland und die weitere Zerstörung der Infrastruktur im Gaza-Streifen und der schrittweise Rückzug aller US-Truppen und deren Verbündeter aus Afghanistan. Die Ordnung der arabischen Welt, die nach dem Ersten Weltkrieg von den imperialen Mächten England und Frankreich durch Grenzziehungen vorgenommen wurde, bricht binnen weniger Jahre zusammen und keine internationale Macht kann dies verhindern. Die Oligarchen der reichen Staaten des Golf-Kooperationsrats (GCC) halten ihre Bevölkerung durch staatliche Subventionen und vor allem durch Geheimdienste, Polizei und militärische Aufrüstung in Schach. Und im Maghreb versuchen die Regierungen durch eine Mischung aus Repressionen und Reformen das Auseinanderbrechen ihrer Staaten entlang ethnischer Bruchlinien zu verhindern.

Die militärische Gewalt der USA und ihrer willigen westlichen Verbündeten war nicht die Hauptursache für den Kollaps der arabischen Regime. Es war der Zusammenstoß der globalisierten kapitalistischen Welt mit rückständigen und stagnierenden Gesellschaften, die aus sich heraus zu weiterer Entwicklung nicht mehr fähig waren. Gesellschaften mit einem hohen Anteil junger Männer und Frauen, deren Familien sich krumm gelegt hatten, um ihnen eine gute Ausbildung an privaten Schulen und Universitäten zu ermöglichen und denen es danach unmöglich war, Arbeit oder angemessene Beschäftigung zu finden; die nicht ausreichend Geld verdienen konnten, um von zu Hause ausziehen zu können oder Familien zu gründen; deren einzige Perspektive darin zu bestehen schien, in die reichen Länder des GCC oder des Westens - möglichst in die USA - auszuwandern und von dort aus ihre Verwandten zu unterstützen. Die Liquidierung des Bath-Regimes im Irak oder Gaddafis in Libyen sprengte die letzten Fesseln, die diese Gesellschaften noch zusammen gehalten hatten. Anstelle einer Befreiung der Völker von ihren Despoten, die in der Propaganda des Westens das vorgebliche Ziel der militärischen Eingriffe gewesen war, war um sich greifende Anarchie das Resultat des Zusammenbruchs der Staatsgewalten. Denn eine wirtschaftliche und politische Perspektive war mit der Kriegführung nicht verbunden, außer einer vagen Vorstellung von einer Übernahme der "westlichen Werte" durch die Besiegten und natürlich der weiteren Verfügbarkeit von deren Bodenschätze für die Ökonomie der Sieger.

Die Wurzeln der dschihadistischen Gruppierungen Al Qaida und Islamischer Staat (IS) liegen in Afghanistan und Irak, wo 1988 der saudische Staatsbürger Usama bin Ladin mit anderen das Netzwerk Al Qaida begründete und wo im Jahr 2000 der Jordanier Zarqawi als Führer des IS auftrat und das Hauptquartier 2003 in den Irak verlegte. Während sich Al Qaida auf Terroranschläge gegen Ziele in westlichen Staaten und prowestlichen arabischen Staaten konzentriert und Bündnisse mit unterschiedlichen sunnitischen Strömungen und auch mit Schiiten eingeht, verfolgt der IS territoriale Ziele, indem er ein neues Kalifat, d. h. einen großen, religiös definierten (sunnitisch) muslimischen Staat anstrebt, der nur Anhänger einer bestimmten Richtung der Sunna akzeptiert, und für den andere sunnitische Richtungen, Schiiten und alle Andersgläubigen "Ungläubige" und Gegner sind. Für den IS steht vor allem Zarqawis Nachfolger, der Iraker Hamid al Zawi mit dem Kampfnamen Abu Bakr al Bagdadi, der sich als Emir bezeichnet, und dessen Kriegsminister al Masri.


Barbarei

Die Enthauptung des britischen Journalisten und Geisel von IS, James Foley, per Video ins Netz gestellt, rief eine Welle der offiziellen Empörung westlicher Regierungsstellen hervor. Der britische Premier Cameron, US-Präsident Obama, Bundesaußenminister Steinmeier (SPD), sie und andere geißelten eine Wiederkehr der Barbarei. Das war eine Vorwegnahme der vorhersehbaren öffentlichen Reaktionen in den westlichen Industrieländern. Denn tatsächlich reagieren die Menschen hierzulande empfindlich auf archaisch anmutende blutige Tötungen, während sie im Fernsehen Tötungen aus Distanz etwa durch Raketen und Schusswaffen, oder durch Gifte und Gase wie im US-Strafvollzug, eher gelassener hinnehmen. Dabei finden beim engsten arabischen Verbündeten der USA, Saudi-Arabien, öffentliche Enthauptungen regelmäßig statt - im Jahr 2013 insgesamt 79 - als Strafe nach der Scharia für Mord, Rauschgifthandel, Hochverrat oder Terrorismus. Zweifellos ist das nach dem Verständnis der meisten Menschen der westlichen Hemisphäre barbarisch. Aber es ist bei näherer Betrachtung Barbarei in einem insgesamt barbarischen Zeitalter. Nach zwei Weltkriegen, nach dem Genozid an Armeniern und Juden, nach den Kolonialkriegen, nach den Kriegen der USA in Vietnam, Laos und Kambodscha, nach den ethnischen Säuberungen auf dem Balkan nach dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens, nach den Kriegen der Bush-Regierungen und ihrer "Willigen" gegen Irak und nach den Institutionalisierung der Folter durch israelische und US-"Verhörspezialisten", vulgo Folterknechte beiderlei Geschlechts, nach der verbalen Umwidmung von Kriegen zu "Friedensmissionen" und vielem Anderen mehr - welches Entsetzen rechtfertigt da dieses Beispiel archaischer Barbarei des IS? Gleichwohl ist seine Propagandawirkung nicht zu unterschätzen, wenn es auch zu unserem Verständnis der Vorgänge in der arabischen Welt nichts beiträgt. Da nun die Barbarei als (moralisches) Unterscheidungsmerkmal zwischen westlichen Regierungen und islamischem Dschihadismus nicht taugt, werden wir in den Zielen der unterschiedlichen Parteien die wahren Differenzen finden müssen.

Während die Barbarei der industrialisierten westlichen Staaten unter Führung der USA vor allem im Dienst des Machterhalts, der Sicherung des status quo, steht, bezweckt der Dschihadismus die Schwächung der Macht und des Einflusses des Westens. Der IS geht noch einen Schritt weiter und strebt ein eigenes, staatenübergreifendes Reich auf religiösem Fundament an, eine muslimisch-religiöse Hegemonie, die er der westlichen kapitalistischen Hegemonie entgegensetzen will. Demgegenüber ist der islamische Fundamentalismus nicht notwendigerweise dschihadistisch, wie die entgegensetzen Pole Saudi-Arabien (sunnitisch) und Iran (schiitisch) zeigen. Die Muslimbruderschaft in Ägypten und die ihr nahestehende Hamas im Gaza-Streifen sind durchaus staatsbildend bzw. staatserhaltend, ohne grundsätzlich expansionistisch zu sein. Dasselbe lässt sich von der religiös fundierten türkischen AKP-Partei sagen. Aber es gibt tatsächlich auf einer weiteren Ebene eine Gemeinsamkeit zwischen dschihadistischem und nicht-dschihadistischem islamischen Fundamentalismus: Beide Grundströmungen misstrauen aus guten Gründen den westlichen Mächten. In beiden Ausprägungen war und ist er Protest gegen die herrschenden autokratischen Regime, mehr oder weniger verdeckte Militärdiktaturen, Scheindemokratien mit Staatsparteien. Zugleich ist er auch Ausdruck des Verlangens der beherrschten Klassen nach Sicherheit, Wohlstand und durchschaubarer sozialer Ordnung in einer globalisierten Welt, an die Anschluss zu finden zunehmend schwerer fällt.


Instabilität und Zerfall

Während der Dschihadismus in Deutschland, wenn man den Medien glauben darf, vor allem auf sogenannte bildungsferne junge Männer, also Schulabbrecher, junge Arbeitslose, verurteilte Straftäter u.ä. anziehend zu wirken scheint (weshalb sie in den Rängen des IS nur untergeordnete Stellungen einnehmen), sind es in den arabischen Staaten auch junge Männer mit abgeschlossener (höherer) Schulbildung, Universitätsabsolventen, Soldaten und Offiziere aus den Armeen z. B. Iraks und Syriens, die in den Kampf ziehen. In beiden Fällen ist es nicht eine Sache von Bildung oder Unbildung; es dreht sich in erster Linie darum, dass sie für sich in der gegebenen Gesellschaft keine berufliche und soziale Perspektive sehen. Für sie ist der Dschihad ein Versprechen für eine bessere Zukunft.(1) Allerdings bleibt er ein Versprechen, das er nicht einlösen wird, weil er weder die Wege kennt noch die Mittel hat, Lösungen für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme der Region und ihre Bewohner zu finden. Wo der islamische religiöse Fundamentalismus die Regierungsgewalt erobert hat, wie im Falle der türkischen AKP, hat er sich der Moderne geöffnet und betreibt eine an sozialen Klassen orientierte Politik. Wirtschafts- und Sozialpolitik stehen dort im Mittelpunkt, die religiöse Ideologie wird marginalisiert (Kopftuch-Politik). Gerade dies hat die Muslimbruderschaft in Ägypten für die dort herrschende Militäroligarchie so gefährlich werden lassen: Weil diese nicht ohne Grund davon ausgehen konnte, dass eine erfolgreiche Wirtschafts- und Sozialpolitik einer Regierung unter Präsident Mursi in eine politische und schließlich auch wirtschaftliche Entmachtung des Militärs münden könnte, analog der Entwicklung in der Türkei.

In der Tat leiden fast alle Staaten des Nahen und Mittleren Ostens (NMO) - mit Ausnahme der wenigen Öl- und Gasförderstaaten am Persischen Golf, deren Herrschercliquen sich die Loyalität der meisten ihrer Untertanen durch Sozialtransfers erkaufen können - unter dem Problem, dass sie den Anschluss an die globalisierte Weltwirtschaft (mit Ausnahme weniger Sonderwirtschaftszonen) nicht geschafft haben; dass sie wie Jemen, Libyen, Irak und Syrien zerfallen oder wie Libanon, Tunesien oder Marokko nur mühsam ihre staatliche Einheit erhalten können. Erschwerend kommt hinzu, dass die Ernährungslage für die gesamte arabische Region von Jahr zu Jahr bedrohlicher wird. Die Regierungen können bereits heute die Bevölkerung nur mit massiven Nahrungsmittelimporten ernähren. Eine auch nur annähernde Selbstversorgung ist selbst in den Staaten des GCC völlig ausgeschlossen, obwohl dort große Anstrengungen u.a. mit Bewässerungsprojekten unternommen wurden. Deren Regierungen kaufen oder pachten stattdessen Anbauflächen in Entwicklungsländern Asiens oder des subsaharischen Afrikas - Flächen, die dann für die Ernährung der dort auch wachsenden Bevölkerung fehlen werden. Besonders bedrohlich zeigt sich die Lage für Ägypten: Es ist mit etwa 90 Millionen Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der Region und die Ägypter bestreiten über ein Drittel ihrer Ernährung mit Weizenprodukten (die ärmsten Schichten decken die Hälfte ihres Nahrungsbedarfs mit Brot), weshalb der Weizenpreis ein elementares Politikum ist. Ägyptens Anbauflächen schrumpfen seit Jahren, weil immer mehr Ackerland der Urbanisierung oder dem Tourismus geopfert wird - woran die Generäle gut (mit-)verdienen - und weil die verbleibenden Flächen durch die Nilregulierung zunehmend versalzen. Die Saudis und Kuweit, die den Militärputsch gegen Mursi unterstützen, subventionieren gegenwärtig die notdürftig verschleierte Militärdiktatur unter al Sisi mit Milliardenbeträgen, mit denen der Weizen aus Weißrussland, der Ukraine und Russland bezahlt wird. Aber das wird irgendwann sein Ende finden - sichtlich lange, bevor Ägyptens Bevölkerung auf geschätzt 140 Millionen im Jahr 2050 angewachsen sein wird. Lange davor drohen dann Hungeraufstände. "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit" lauteten die zentralen Forderungen der Tahrir-Platz-Bewegung 2011.

Es wäre aber falsch, die Instabilität nur in den unterentwickelten Regionen der Welt zu suchen. Der Zerfall der Sowjetunion 1991 und die darauffolgende Neubildung z.B. der baltischen Staaten, Weißrusslands und der Ukraine haben auch auf dem europäischen Kontinent neue Grenzen entstehen lassen. Die Türkei sieht sich durch kurdische Autonomiebestrebungen an ihren Grenzen zu Irak und Syrien gefährdet, weil sie ihre eigenen kurdischen Staatsbürger als unsichere Kantonisten ansieht, die sich dadurch ermutigt fühlen könnten. In der Europäischen Union (EU) flammen immer wieder Spaltungsbestrebungen in Ländern wie Italien (Lega Nord), Spanien (Katalonien und Baskenland), Belgien (Flamen und Wallonen), Vereinigtes Königreich (Schottland) auf, der Zusammenhalt der EU wie auch der Euro-Zone bleiben zerbrechlich gegen die Folgen von Wirtschafts- und Finanzkrisen. Die aktuelle Ukraine-Krise mit Bürgerkrieg und Intervention westlicher Mächte und Russlands führt vor Augen, welche Sprengkraft soziale Konflikte unter bestimmten Umständen auch in Europa auf staatliche Strukturen entfalten können, vor allem wenn nationale Minderheiten ins Spiel kommen, die von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert werden oder jedenfalls das Gefühl haben, nicht als vollwertige Mitglieder der offiziellen Nation anerkannt zu werden.


"Waffen werden wandern"

Die USA beschießen nun Truppen und Stellungen des IS in Irak und Syrien aus der Luft. Obama und seine westlichen Verbündeten wollen keine eigenen Bodentruppen einsetzen, stattdessen sollen etwa fünftausend Kämpfer der Freien Syrischen Armee (FSA) ("moderate Kämpfer der Opposition") durch US-Ausbilder trainiert und mit Waffen und Material versorgt werden. Die Luftschläge gegen den IS kommen spät; vor allem dort, wo seine Truppen sich schon in wichtigen Städten Iraks und Syriens festgesetzt haben, wo sie Deckung unter der zivilen Bevölkerung nehmen können. Die Luftschläge können die Beweglichkeit der IS-Einheiten einschränken, sie können sie aber nicht aus bewohnten Ortschaften vertreiben, wenn Obama nicht Massaker unter den Einwohnern riskieren will. Erobern lassen sich die Ortschaften nur durch den Einsatz von Bodentruppen der US-Allianz, die bei einem entschlossenen und erfahrenen Kriegsgegner mit hohen Verlusten rechnen müssten. Deshalb nun das zögerliche Zugehen auf die FSA. Aber die Freie Syrische Armee ist für den Westen kein sicherer Verbündeter. Erstens ist ihre Priorität nicht der Kampf gegen den IS, sondern der gegen Assad. Deshalb hat sie in der Vergangenheit Kampfbündnisse mit der Nusra-Front, dem syrischen Al-Qaida-Ableger, geschlossen. Einheiten der Nusra-Front wiederum sind dem Vernehmen nach zum IS übergelaufen. Die Grenzen zwischen den Rebellengruppen in Syrien sind also nicht starr und unverrückbar. Auch die von Saudi-Arabien gepäppelte "Islamische Front", die gegen Assad kämpft, hat Kämpfer an den IS verloren. "Die Kämpfer laufen der erfolgreichsten Gruppe zu", wird Douglas Ollivant, einst Berater von George W. Bush und Barack Obama, zitiert. Im Moment profitiere davon der IS. Und: "In Kriegsgebieten sind Waffen wie Bargeld. Sie werden wandern." (Andreas Ross in FAZ 16.09.2014)

Wichtiger noch als eher technisch-militärische Aspekte ist jedoch die Frage nach den politischen treibenden Kräften für die Fortsetzung der Kriege in der arabischen Welt, die nicht nur Bürgerkriege und "normale" Kriege, sondern zugleich auch Stellvertreterkriege sind. Ein Einflusszentrum ist Iran, das mit Malikis Sturz als Regierungschef einen wichtigen Verbündeten in Irak verloren zu haben scheint, und das traditionell enge Verbindung zu Baschar al Assad und der schiitischen Hizbullah im Libanon unterhält. Dieses Lager gilt als Gegner der israelischen und US-amerikanischen Hegemonie in der Region. Diesem Einflusszentrum steht ein anderes unter Führung Saudi-Arabiens gegenüber, mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Ägypten, für die der Kampf gegen den Einfluss des Iran und gegen die Muslimbruderschaft bestimmend ist. Als drittes Lager kann man die Türkei im Bündnis mit Qatar sehen, die ebenso wie Saudi-Arabien den sunnitischen Islam repräsentieren, jedoch in einer dem Westen zugewandten, modernen Variante und so im Gegensatz zur religiös-fundamentalistischen Version der saudischen Monarchie. Jedes dieser Lager greift mehr oder weniger aktiv in die Kämpfe auf irakischem, syrischem, libyschem und jemenitischem Boden ein - durch Geld, Waffen und - teilweise ungewollt - durch Kämpfer. Die Lage wird noch verzwickter dadurch, dass die türkische Regierung eine ambivalente Haltung zum IS hat, weil sie das Entstehen eines kurdischen Staats an ihrer Grenze zu Syrien am liebsten unterbinden möchte. Deshalb sieht sie die Schwächung der kurdischen Kämpfer der PYD durch den IS nicht ungern, auch wenn sie den IS durchaus als Feind begreift. Aber es gibt diese Ambivalenz des türkischen Staates, weil er bis heute nicht in der Lage oder fähig ist, zu einem Ausgleich mit der kurdischen Minderheiten auf seinem eigenen Staatsgebiet zu kommen.

Dieses Aufeinanderprallen von Interessen großer regionaler Akteure, Saudi-Arabien, Iran und Türkei und der Weltmacht USA ist weit davon entfernt, den Krieg bzw. die Kriege zu verkürzen. Im Irak und in Syrien finden stattdessen Stellvertreterkriege statt, die lange andauern können, weil die Geldgeber die Kämpfe nicht auf ihrem eigenen Territorium und mit ihren eigenen Armeen austragen müssen. Es ist allerdings schwer vorstellbar, dass diese barbarische (um das Wort noch einmal zu gebrauchen) Militarisierung der Region, ihre Überversorgung mit Waffen und Kämpfern, nicht auch Rückwirkungen auf die anderen arabischen Länder - egal ob aktuell kriegsbeteiligt oder nicht - haben sollte. Aber welcher Art diese Rückwirkungen konkret sein werden, lässt sich gegenwärtig noch nicht sagen, weder im Hinblick auf Ägypten noch mit Sicht auf Saudi-Arabien und die übrigen GCC-Staaten.

Die Ströme von Flüchtlingen aus den Kampfgebieten, die zu Hunderttausenden und sogar Millionen in die umliegenden Länder fließen, stellen die aufnehmenden Regierungen vor große finanzielle und soziale Probleme; sie führen sicherlich zu wachsenden sozialen Spannungen in Ländern, deren Staaten und Bürger wesentlich ärmer sind als die des westlichen Europa, wo bereits vergleichsweise kleine Flüchtlingswellen aus dem Ausland schwere innenpolitische Auseinandersetzungen auslösen. Viele Staaten des afrikanischen Kontinents nördlich wie südlich der Sahara versinken in Krieg, Bürgerkrieg und Anarchie. Der Zusammenprall mit dem globalisierten Kapitalismus und seinen Hauptprotagonisten, den großen westlichen Industrieländern, ist ihnen nicht gut bekommen. Ihre Bewohner müssen Wege finden, die Arbeitsproduktivität in ihren Ländern massiv zu steigern und ihre Infrastruktur auszubauen, um Anschluss an die entwickelte Welt zu finden, wenn sie nicht in Armut und Rückständigkeit verbleiben wollen. Aber die wirtschaftlichen und politischen Interessen ihrer herrschenden Klassen stehen in vielen dieser Länder im Gegensatz zu einem entsprechenden Entwicklungsweg.

16.11.2014

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 186 - Winter 2014, Seite 17 bis 20
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Januar 2015


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