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AUFBAU/412: Wenn die Repression die Stadtarchitektur bestimmt


aufbau Nr. 80, märz / april 2015
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Wenn die Repression die Stadtarchitektur bestimmt


GESCHICHTE Wenn Städte aufgewertet werden, bedeutet dies längst nicht nur steigende Mieten und Verdrängung. Ein historischer Blick auf die Entwicklung von Paris und London zeigt auf, in welchem Umfang die Repression und präventive Sicherheitsüberlegungen gar die gesamte Stadtarchitektur prägen können.


(agkkzh) Paris und London sind zwei kapitalistische Metropolen, die in den vergangenen 150 Jahren immer wieder mit inneren und äusseren Aufständen konfrontiert waren. Während in Paris vor allem die Februarrevolution von 1848 und später die Kommune von 1871 als zeitweiliger revolutionärer Moment die Herrschenden das Fürchten lehrte, formten in London die Angriffe verschiedener irischer Oppositionsgruppen in den 1980er und 90er Jahren die Angst vor möglichen Stichen ins Herz der modernen Grossstadt. Zwei historische und politische Ereignisse, die eigentlich nicht viel miteinander zu tun haben. Und doch gibt es in beiden Fällen eine historische Gemeinsamkeit, die im Folgenden näher betrachtet werden soll. So lässt sich beobachten, wie jeweils eine entscheidende Reaktion des Staates auf die Aufstände darin lag, die entsprechende Stadt städteplanerisch so zu verändern, dass zukünftige Angriffe und Revolten leichter unterbunden werden sollten. Während Paris sich hierbei vor allem vor Unruhen innerhalb seiner Stadtmauern fürchtete und so zahlreiche Veränderungen am Strassenbild vornahm, um dadurch künftige Barrikaden präventiv zu verhindern, fürchtete London Angriffe von aussen und konstruierte daher mit dem "Ring of Steel" einen gross angelegten Sicherheits- und Überwachungsring rund um die reiche Innenstadt. Dabei zeigt sich in beiden Fällen auch, wie gerade jene präventiven Sicherheitsmassnahmen wiederum Raum schufen, um die kapitalistische Verwertungslogik in der Stadt voranzutreiben.


Paris und die Februarrevolution

Als nach den revolutionären Ereignissen vom Februar 1848, als proletarische und bürgerliche Kräfte den französischen König stürzten, im Juni desselben Jahres erneute Aufstände blutig niedergemetzelt wurden und daraufhin mit der Herrschaft von Napoleon III die neue Form der bürgerlichen Macht für etliche Jahre gefestigt sein sollte, war für die neuen Herrschenden schnell klar, dass sich die Kämpfe und Aufstände auf den Strassen und in den Arbeiterquartieren nicht wiederholen durften. Als eine erste Massnahme zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit folgte 1851 die Ernennung von Georges-Eugène Haussmann zum Pariser Städteplaner mit schier unbegrenzten Befugnissen. Nicht nur wurden unter Haussmann ganze Arbeiterquartiere verdrängt, neue Prunkbauten errichtet und Strassen in der Länge von rund 150 Kilometern gebaut, sondern liess dieser die Stadt auch so umbauen, dass darin zukünftige Strassenkämpfe und Aufstände in den Quartieren erschwert würden. Eine Form der repressiven Städteplanung, die zwar auch schon König Louis-Philippe mit seiner Holz- statt Steinpflasterung einschlug, die jedoch erst unter Haussmann zu einem dominanten Faktor bei der Entwicklung von Paris wurde.

Explizit galt es etwa, wie Walter Benjamin in seinen Betrachtungen zu Paris 75 Jahre später bemerkt, die Breite der Strassen so zu verändern, dass Barrikaden künftig schwerer zu errichten seien und die Polizei Aufstände leichter niederschlagen könne: "Die Breite der Strassen soll ihre [die Barrikaden anm. d. Ver.] Errichtung unmöglich machen, und neue Strassen sollen den kürzesten Weg zwischen den Kasernen und Arbeitervierteln herstellen. Die Zeitgenossen taufen das Unternehmen "l'embellissement stratégique"." Denn was das Parlament der Bevölkerung als "Verschönerungen" schmackhaft machen wollte, waren in Realität strategische Überlegungen, wie eine Grossstadt wie Paris besser zu kontrollieren sei. Ganz ähnlich fasste dies auch Friedrich Engels in seiner 1871 entstandenen Schrift zur Wohnungsfrage zusammen. Er entlarvt zudem Haussmann und dessen Stadtentwicklungsprojekte als eben jenes System der Stadtaufwertung, in dem Kapital- und politische Machtinteressen Hand in Hand gehen: "Ich verstehe unter "Haussmann" die allgemein gewordene Praxis des Breschelegens in die Arbeiterbezirke, besonders die zentral gelegenen unserer grossen Städte, ob diese nun durch Rücksichten der öffentlichen Gesundheit und der Verschönerung oder durch Nachfrage nach grossen zentral gelegenen Geschäftslokalen oder durch Verkehrsbedürfnisse, wie Eisenbahnanlagen, Strassen usw. [die manchmal zum Ziel zu haben scheinen, Barrikadenkämpfe zu erschweren], veranlasst werden. Das Resultat ist überall dasselbe [...]: die skandalösesten Gassen und Gässchen verschwinden unter grosser Selbstverherrlichung der Bourgeoisie [...]." Und tatsächlich geht die Veränderung von Paris unter Haussmann mit einer ersten Phase von nach profitablen Investitionsmöglichkeiten suchendem Finanzkapital der sich etablierenden Pariser Börse einher. So hoffte man mit den architektonischen Veränderungen, die bis heute mit der Verdrängung der Arbeiterinnenquartiere aus dem Zentrum und den breiten Boulevards das Bild von Paris prägen, nicht nur eine harmonische, leicht zu befriedende Stadt im Dienste der Herrschenden zu erschaffen, sondern eben auch Profitinteressen zu befriedigen. Haussmann selbst verheimlichte die militärischen Absichten hinter seinen Bauprojekten nur selten und brachte sie gar immer wieder als Argument im Pariser Parlament ein, um die hohen Kosten seiner Projekte zu rechtfertigen. Auch in seinen Memoiren rechtfertigt er sich und seine Aufwertung als politisches Projekt zur "Demontage des alten Paris mit seinen Quartieren der Aufruhr und Barrikaden".

Ein Trugschluss, wie sich spätestens 1871 mit der Pariser Kommune zeigen sollte. Denn die verdrängten Gässchen verschwanden nicht einfach vom Erdboden, sondern entstanden wie auch Engels bemerkt "anderswo sofort wieder". Dadurch schufen sich Napoleon und seine Schergen mit ihrer Politik der Verdrängung letztendlich auch ihre eigenen Totengräber. So lässt sich, wie dies der marxistische Geographe David Harvey in seinem Buch "Rebellische Städte" als These formuliert, die Kommune auch als eines der ersten kämpferischen Projekte gegen die kapitalistische Stadtentwicklung lesen, denn nicht selten wurden die KommunardInnen gerade durch die Ergebnisse der Verdrängung und der Verschiebung ins noch grössere Elend für den Kampf gegen die französische Bourgeoisie mobilisiert. Es war dies eine erste proletarische Organisierung von unten, der bekanntlich nur durch blutigste Repression von oben entgegnet werden konnte. Haussmann selbst störte dies freilich nicht mehr, er musste 1870 seinen Posten räumen, nachdem Vorwürfe laut geworden waren, dass er sich selbst bei Spekulationen im Städtebau bereichert haben soll. Er verbrachte die restlichen Lebensjahre im Exil.


"Ring of Steel" in London

Ganz im Geiste von Haussmann und dessen "strategischen Verschönerungen" arbeiteten auch die Städteplaner Londons, als sie in den 1990er Jahren begannen, die Innenstadt nach aussen abzudichten. Nach dem Vorbild von Belfast, das sich in den unruhigen Zeiten militärisch verbarrikadierte, sollte auch der Zugang zur Innenstadt Londons überwacht und kontrolliert werden. Freilich ging auch dies nicht ohne städtebautechnische Massnahmen über die Bühne, und wiederum spielte der Strassenverlauf eine zentrale Rolle in der neuen, militärisch gesicherten Stadt. Da man im Gegensatz zu Paris für die Londoner Innenstadt weniger die Aufstände innerhalb des Quartiers fürchtete als die Angriffe von aussen, gingen die Städteplaner jedoch genau anders herum vor. Um den Verkehr zu verlangsamen, wurden grosse Strassen verkleinert, kleinere Schikanen und Kurven eingebaut und manche Strassen gar ganz für den Verkehr geschlossen. "Zwei Drittel aller Straßen, die ursprünglich in die City führten, sind heute gesperrt", fasst dies gar ein Bericht über die Entwicklung Londons zusammen. Durch die Verlangsamung des Verkehrs konnte einerseits sichergestellt werden, dass im Notfall die ganze Innenstadt abgedichtet werden konnte. Andererseits ermöglichte dies schon früh, dass London eine vollautomatische Videoüberwachung installieren konnte, die möglichst selbstständig funktionieren sollte. Denn die nun verkleinerten Zufahrtswege ermöglichten, dass jedes Fahrzeug, welches in die Innenstadt gelangen wollte, von einer der bis heute über 600 installierten öffentlichen Kameras erfasst, automatisch registriert und dabei mit einem zentralen Register abgeglichen werden konnte. Ebenso dienten massive Bauelemente, oftmals getarnt als Blumentöpfe, Brunnen oder andere öffentliche Gegenstände, dazu, im Notfall unpassierbare polizeiliche Checkpoints einzurichten - ein Notfallplan, der zuletzt bei den Olympischen Sommerspielen 2012 wieder zum Leben erweckt wurde.

Dadurch dass etliche alte Gebäude im Rahmen dieser Entwicklung neuen, der Sicherheitslage angepassten Bürobauten weichen mussten, gesellen sich auch in London sicherheitspolitische Überlegungen zu den Kapitalinteressen. Zudem konnten unter dem Vorwand der Sicherheit weitere unliebsame Elemente von der Strasse verdrängt werden, was wiederum dazu führte, dass der Landpreis und schliesslich die Mieten stiegen. So hat der "Ring of Steel" nicht nur das Städtebild Londons geprägt, sondern ebenso eine bis heute andauernde massive Gentrifizierung der Innenstadt mitausgelöst. Freilich wurde eine solche Entwicklung in London nie als das benannt, was sie eigentlich darstellt; die Umformung der Stadt im Sinne der Repression und des Kapitals. Die Veränderung des Strassenbaus erschien stets als Verkehrsberuhigungsmassnahme oder der neue Checkpoint liess sich gut als neue Grünanlage verkaufen. Nicht zuletzt dadurch gab es in den vergangenen Jahren auch fast keine kritische Auseinandersetzung - weder in der Praxis, noch in der Theorie - mit einer solchen gross angelegten, präventiven Repressionspraxis. Und das, obwohl es mit Blick auf die Veränderungen der vergangenen 30 Jahre äusserst erschreckend ist, wie grundlegend sich ein Stadtbild durch die Interessen der Repression und des Kapitals in seiner Erscheinung verändern kann.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 80, märz / april 2015, Seite 9
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2015

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