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AUFBAU/450: "Die Kraft der Schwachen" - Interview mit Filmemacher Tobias Kriele


aufbau Nr. 84, märz/april 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Die Kraft der Schwachen"


INTERVIEW Anlässlich der Vorstellung der erweiterten Version des Films "Die Kraft der Schwachen" über Jorgito, hatten wir die Gelegenheit mit dem Filmemacher Tobias Kriele ein Interview zu führen.

(az) Der Film "Die Kraft der Schwachen" handelt von Jorgito, der mit einer schweren Behinderung zur Welt gekommen ist. Dank dem kubanischen Gesundheitssystem kann Jorgito heute ein Leben führen, welches vielen Menschen mit infantiler Zerebralparese nicht möglich ist. Tobias Kriele, der lange in Kuba gelebt hat und von der kubanischen Revolution überzeugt ist, hat diesen Film mit Jorgito gemacht.



aufbau: Was ist der Gedanke hinter dem Film "Die Kraft der Schwachen"?

Tobias Kriele: Ich hatte mehrere Motivationen die Arbeit zu "Die Kraft der Schwachen" aufzunehmen. Zum einen wollte ich mit dem Film persönliche Erfahrungen, die ich während meines neunjährigen Aufenthaltes in Kuba gemacht habe, für die Freunde in Europa vermittelbarer machen. Darüber hinaus hat mich die Frage beschäftigt, was eine Revolution ist und was sie im alltäglichen Leben der Menschen bedeutet. Jorgito ist sicher ein sehr ausdruckstarkes Beispiel für Dinge, die sich durch die Revolution im Leben von Menschen verändert haben. Ausserdem wollte ich mit Hilfe des Films den Fall der "Cuban 5" Menschen zugänglicher machen, die sich sonst nicht mit kubanischer Politik auseinandersetzen. Die Geschichte von Jorgito bietet hierbei einen besonderen Zugang.


aufbau: Welche Reaktionen hat der Film bei den Zuschauern ausgelöst?

Tobias Kriele: Mir hat einmal ein Kubaner gesagt: "Der Film hält uns einen Spiegel vor." Für mich als Ausländer war es natürlich eine grosse Genugtuung, dass der Film von den Kubanern als "kubanischer Film" angenommen wurde. In der Schweiz, Deutschland und Italien war das Publikum sehr heterogen zusammengesetzt. Viele Zuschauer haben sich das erste Mal mit Kuba beschäftigt.

Eine weitere Gruppe von Zuschauern waren Eltern von Kindern mit Behinderungen. Hier waren die Reaktionen sehr heftig und zum Teil mit radikalen Einsichten verbunden. Der Bezug von Kuba auf die Wirklichkeit von Europa wurde sehr direkt gezogen. Da gab es sehr bewegende Schlussfolgerungen der betroffenen Menschen. Mir als Nichtexperten hinsichtlich der Lebensbedingungen behinderter Menschen hat dies tiefe Einblicke gewährt, wie kompliziert, widersprüchlich und von Verachtung geprägt das Leben der Menschen mit Behinderungen in sogenannten hoch entwickelten Ländern sein kann.


aufbau: Wie geht es mit Jorgito weiter?

Tobias Kriele: Wir wollen den Film auch in den USA zeigen und haben diesbezüglich die Erwartung, dass es der Film schafft, den Diskurs über Kuba, so wie er momentan besteht, aufzubrechen, einen neuen Zugang zu Kuba zu schaffen und damit alte Bilder aufzubrechen.

Als weitere Projekte sind geplant, dass wir weiterhin eine regelmässige Kolumne von Jorgito in verschiedenen Zeitschriften der deutschsprachigen Solidaritätsarbeit veröffentlichen und er somit regelmässig als Journalist präsent ist. Ein anderer Plan ist, dass wir kubanische Blogger unterstützen möchten. Wenn man Jorgito kennt, dann weiss man, dass Jorgito eine sprudelnde Quelle von Ideen und Projekten ist. Das wird damit zu tun haben, dass er fest davon überzeugt ist, dass man die Welt verändern kann.


aufbau: Ist das Beispiel von Jorgito nicht doch eher die Ausnahme auch im kubanischen Gesundheitssystem?

Tobias Kriele: Ein Beispiel, welches Jorgito gerne anführt, ist der Fall einer jungen Studentin, die auf Grund ihrer schweren Behinderung mit Sauerstoff künstlich behandelt werden musste und dadurch nicht mehr die Universität besuchen konnte. Ihre Professoren beschlossen, abends die morgendlichen Vorlesungen bei ihr zu Hause zu wiederholen, damit sie ihre Ausbildung abschliessen konnte.

Es wäre jedoch unangebracht zu sagen, dass jeder Mensch mit Behinderung in Kuba glücklich ist. Die kubanische Revolution bietet etwas an, aber ob dieses Angebot auch immer genutzt wird, variiert von Einzelfall zu Einzelfall.

Ein weiteres Beispiel: Jorgito traf in einer Sekundarschule ein behindertes Mädchen, welches von ihrer Lehrerin gefüttert wurde. Er hat ihr daraufhin einige Fragen gestellt, die aber alle von ihrer Lehrerin beantwortet wurden. Jorgito ging zur Schuldirektorin und stellte Fragen nach der Pathologie des Mädchens und der ihm gewährten Unterstützung. Als die Rektorin auf die Fragen nicht überzeugend antworten konnte, erklärte Jorgito ihr: "Ich komme in vier Wochen wieder und stelle die gleichen Fragen nochmals und dann möchte ich andere Antworten hören."

Diese Anekdote zeigt auch, dass Jorgito ein sehr überzeugter Revolutionär ist, der Kuba verteidigt. Er ist jedoch zugleich sehr kritisch und fast unerbittlich mit Dingen, die in Kuba falsch gemacht werden, oder mit Möglichkeiten, die nicht genutzt werden.


aufbau: Wen hat Jorgito besonders angesprochen mit seiner Geschichte?

Tobias Kriele: Jorgito kann für viele verschiedene Menschen ein Vorbild sein, nicht nur für kubanische Jugendliche mit Behinderungen. Gerardo Hernandez von den Cuban Five hat treffend gesagt, dass Jorgito - so wie die Kubaner an sich - ein Symbol dafür ist, dass man aus einer schwierigen Ausgangssituation, die geprägt ist von Widrigkeiten, das Handeln in die Hand nehmen kann. Dafür, dass man nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch die Verhältnisse, in denen man lebt, gestalten kann. Ohne dabei zum Träumer zu werden oder die Welt nur umzudeuten, erklärt uns Jorgito, dass man tatsächlich die Dinge verändern kann.

Jorgito hat geholfen, Gerardo Hernandez aus dem Gefängnis zu holen und er glaubt daran, dass uns Menschen, vorausgesetzt, dass wir gemeinsam handeln und in Einheit für ein Ziel einstehen, alles möglich ist. Dieser kubanische Kampfgeist hat es verdient in der ganzen Welt wahrgenommen zu werden. Es ist auch eine Inspiration für uns, die wir in den kapitalistischen Zentren leben und oft das Gefühl haben, dass wir nur kommentieren können, nichts verändern.


aufbau: Hatte Jorgito schon immer diese Leidenschaft mit der er die kubanische Revolution verteidigt und für die gerechte Sache einsteht?

Tobias Kriele: Jorgito selber sagt, dass eine seiner ersten Empfindungen das Gefühl der Dankbarkeit für die Zuwendung war, die ihm die kubanische Revolution hat zukommen lassen und die ihm ermöglicht hat, sein eigenes Leben zu leben. Diese Dankbarkeit ist für Jorgito nicht nur moralisch. Er hat vielmehr schon früh das Bedürfnis gespürt, etwas vom Erhaltenen zurück zu geben. Schon in der Vorschule hat Jorgito begonnen, mit anderen Kindern zu diskutieren, seine Sicht der Dinge zu berichten und über das Gute zu sprechen, das ihm widerfahren ist.


aufbau: Kann man auf Grund der Geschichte sagen, dass es in der Frage der Gesundheit ein vor und nach der Revolution gegeben hat?

Tobias Kriele: Es ist bekannt, dass es vor der Revolution in Kuba keine nennenswerten Einrichtungen im Bereich der Sonderpädagogik gegeben hat. Die wenigen Einrichtungen, die es gab, waren alle in Havanna für die Behandlung behinderter Kinder der damaligen wohlhabenden Oberschicht. Für die arme Bevölkerung gab es in diesem Bereich keine speziellen Therapien oder medizinische Versorgung.

Eine Reportage des kubanischen Fernsehens über kubanische Ärzte, die in Nicaragua abgelegene Dörfer besuchen und dort die Menschen behandeln, hat mich sehr berührt. Eine Familie musste dort mangels Alternativen ihren behinderten Sohn am Morgen mit einem Strick an einen Baum anbinden, damit sie auf dem Land arbeiten gehen konnten. Dies ist ein Hinweis darauf, wie die Situation vor der kubanischen Revolution ausgesehen hat.

Eine kubanische Lehrerin hat mir erzählt, dass sie nach der Revolution in ein abgelegenes kubanisches Dorf geschickt wurde. Dort musste sie junge Mütter über grundlegende Dinge der Hygiene aufklären. Zum Beispiel gab es Babys, die von Ratten angefressen wurden, weil ihre Mütter sie aus Unwissenheit auf dem Boden liegen gelassen hatten.

Man kann mit Gewissheit sagen, dass sich durch die Revolution die Situation radikal verändert hat. Man muss dazu nur die Berichte der UNESCO lesen, in denen immer wieder herausgestellt wird, dass die kubanische Form der Sonderpädagogik in Lateinamerika vollkommen konkurrenzlos ist und bei weitem alles übertrifft, was sonst in diesem Erdteil an Unterstützung für Menschen mit Behinderungen existiert.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis ArbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 84, märz/april 2016, Seite 16
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. März 2016

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