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AUFBAU/473: "Moria is a jail!"


aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

"Moria is a jail!"


MIGRATION Flüchtende sorgen in Europa für eine neue Klassenzusammensetzung und damit für eine veränderte Ausgangslage für den Klassenkampf (vgl. Aufbau Nr. 83 und 85). Dass sich schon kurz nach der Gummiboot-Überfahrt nach Griechenland neue Widersprüche und Kampffelder eröffnen, zeigte uns ein Augenschein im August 2016 in Lesbos.


(az/agkk) Lesbos war in der Vergangenheit für gewöhnlich bekannt als Urlaubsziel. Die griechische Insel zählt 86.000 EinwohnerInnen, welche wirtschaftlich vorwiegend vom Tourismus leben. Lesbos liegt an gewissen Stellen nur wenige Kilometer von der türkischen Küste entfernt. Seit einiger Zeit ist Lesbos gerade aufgrund der türkischen Küstennähe für viele Flüchtende aus Pakistan, Syrien, Iran, Afghanistan, Eritrea, dem Maghreb und anderen Ländern vorläufige Zwischenstation auf dem Weg in eine vermeintlich bessere Zukunft geworden. Doch noch stärker als anderswo in Europa, versucht die lokale Regierung, die derzeit ankommenden sowie die festsitzenden Flüchtenden von der lokalen Bevölkerung und dem Tourismusgeschäft zu isolieren. Dies ganz besonders im heissen August, während der Hochsaison der Branche. Nicht selten hört man die Klagen, dass die Flüchtenden die Touristen von der Insel vertrieben hätten. Doch die Flüchtenden werden primär im Camp Moria einquartiert, welches sich in einem kleinen Dorf im Landesinnern befindet, und welches nicht gerade als touristische Hochburg bekannt ist. Flüchtende befinden sich teilweise seit über sechs Monaten im Camp Moria, ohne jemals von einer Behörde irgendetwas gehört oder gelesen zu haben. Die Hoffnungslosigkeit ist allgegenwärtig und erdrückend.


Moria als rassistischer Ausdruck

Wer mit Flüchtenden spricht, erfährt schnell, dass Moria einer Hölle oder eben einem Knast gleichen muss. Ein Augenschein in Moria bestätigt den Eindruck. Das dortige Bild ist geprägt von Natodraht, Absperrgittern und einer gewaltigen Polizei- und Militärpräsenz. "Moria is a jail" ist unter Flüchtenden zum täglich rezitierten Begriff für das von Unterversorgung geprägte Lager geworden. Mangelhafte gesundheitliche Versorgung, rassistische Behandlungen oder nicht ausreichende Verpflegung für die rund 3.000 LagerinsassInnen machen den oftmals verletzlichen und traumatisierten Menschen das Leben schwer und sorgen für existenzielle Konkurrenz zwischen den verschiedenen Nationalitäten. In dieser Atmosphäre haben rassistische Tendenzen zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein leichtes Spiel. Der Rassismus wird von den Behörden bewusst geschürt. Denn neben der Isolierung von der Bevölkerung ist die Spaltung und Selektion innerhalb des Camps Moria die zweite Funktion die Griechenland unter Syriza-Regierung für das europäische Grenzregime ausführt. Es geht dabei um die Frage, wer bald wieder abgeschoben werden soll und wer europäisches Festland betreten darf.

Somit ist Lesbos immer auch Hoffnungsschimmer für viele Menschen. Hoffnung, dass die Reise irgendwann einmal weitergehen könnte, je nachdem ob die europäische Bourgeoisie Willkommenskultur oder rassistische Abschiebung auf ihre politische Tagesordnung setzt. Vermutlich wird jedoch den meisten Flüchtenden, die eines Tages europäisches Festland betreten werden, Moria als rassistischer Vorbote eines abgeschotteten Europas in Erinnerung bleiben. Und dies nicht nur deshalb, weil alle Flüchtenden nach ihrer Ankunft zuerst einmal für 25 Tage interniert werden.


Lesbos heisst auch Solidarität

Moria kann und muss als Vorbote und Symbol für den europäischen Rassismus interpretiert werden. Doch auf der Insel Lesbos gibt es auch viele solidarische Tendenzen, die die Insel für Flüchtende zu einem durchaus widersprüchlichen Erleben machen. Eine Gruppe internationaler AktivistInnen hat dieses Jahr die No-Border-Kitchen sowie das No-Border-Social-Center eröffnet. Erstere kocht seit mehreren Monaten täglich (!) hunderte von Mahlzeiten. Die No-Border-Kitchen wäre ohne lokale Solidarität sehr schwer zu bewerkstelligen. Die täglichen warmen Mahlzeiten, welche ohne lange Wartezeiten angeboten werden, sind auch ein zentraler Faktor gegen rassistische Tendenzen. Erst wenn jede Person unabhängig ihrer Herkunft einen vollen Magen hat, ist die Voraussetzung für Solidarität und gemeinsame Interessensfindung überhaupt geschaffen.

Zur Eröffnung eines No-Border-Social-Center wurde Ende Juli am Stadtrand Mytilinis ein Haus besetzt. Mytilini ist die grösste Stadt auf Lesbos, wo auch eine anarchistische Szene und die Kommunistische Partei (KKE) beheimatet sind. Dieses Haus wurde aber auf Geheiss der griechischen Alpha Bank als Besitzerin schon nach wenigen Tagen geräumt. Kurz nach der Räumung sorgte eine Kundgebung sowie eine kleine Demonstration in der Innenstadt Mytilinis für die Aufmerksamkeit und auch für Sympathie zahlreicher AnwohnerInnen und TouristInnen: Die Alpha Bank als Krisenprofiteurin und gleichzeitige Flüchtlingsvertreiberin wurde für manche als Inbegriff dafür fassbar, dass gemeinsame Kämpfe und Forderungen trotz total unterschiedlicher Lebensbedingungen von Geflüchteten und Einheimischen mindestens denkbar sind. Und im mittlerweile an den nahen Strand verlegten No-Border-Center bemerkten viele Flüchtende, dass in dieser neu entstandenen Zeltstadt die rassistischen Tendenzen unter den verschiedenen Nationalitäten merklich schwächer sind als im von scharfer Konkurrenz geprägten Moria.

Schon lange vor dem August 2016 wurden auf Lesbos Flüchtlingskämpfe geführt, Demonstrationen und Besetzungen organisiert und diese mit polizeilicher Repression konfrontiert. Im April wurde etwa ein Flüchtlingscamp am Tourismusstrand von Mytilini polizeilich geräumt; pünktlich zur Tourismussaison wollte der Staat ein Exempel statuieren und die Flüchtenden wieder in die Unsichtbarkeit drängen. In der Folge wurde auch der Hungerstreik als Kampfmittel eingesetzt. Anstelle von der erhofften schnellen Überfahrt aufs europäische Festland sammeln die Flüchtenden zusammen mit vorwiegend westeuropäischen AktivistInnen also neue Kampferfahrungen, von welchen trotz aller Widerwärtigkeiten alle Beteiligten lernen können. Wenngleich die westeuropäischen AktivistInnen und die Geflüchteten merklich unterschiedliche Lebens- und Kampfbedingungen vorfinden.


Den Kampf in die Metropolen tragen

Gut dreissig AktivistInnen planen gemeinsam mit rund fünfzehn Geflüchteten die täglichen Aktivitäten (Kochen, Essens- und Kleiderverteilung, Betrieb des sozialen Zentrums). Diese Gruppe wird aber praktisch alle zwei Wochen wieder neu zusammengesetzt, was die Kontinuität erheblich erschwert. Viele WesteuropäerInnen verlassen Lesbos wieder oder kommen neu hinzu. Sie alle finden im August 2016 eine politisch widersprüchliche, komplexe aber auch hochinteressante Ausgangslage vor. So haben Flüchtende wie die lokale und vom Tourismus abhängige Bevölkerung das gemeinsame Interesse, dass die Flüchtenden bald weiterreisen können. Denn Griechenland macht in allererster Linie die Drecksarbeit für das europäische Grenzregime und gilt nicht als ideales Ankunftsland. Die meisten Menschen wollen nach Westeuropa. Für die Europäische Union bedeutet die Selektion in Moria in erster Linie eine Selektion für den westeuropäischen Arbeitsmarkt. Für diesen Zweck werden die Bevölkerungsgruppen schon auf Lesbos gespalten, selektioniert und ungleich behandelt.

Die Beteiligten erleben, dass ein soziales Zentrum als Tagesforderung nur konfrontativ und mit stetigem und breit abgestütztem Druck zu erreichen ist: Einige sprechen über die Parallelen zur westeuropäischen Häuserbewegung der Achziger- und frühen Neunzigerjahre. In einer Jahreszeit, in der die meisten Einheimischen die Insel verlassen, ist die Frage eines breit abgestützten Druckes allerdings eine diffizile Angelegenheit. Und die objektive Situation der Geflüchteten bindet viel Energie an existenzielle Fragen, so dass für die politische Entwicklung nicht immer ausreichend Zeit übrig bleibt. Das Fressen kommt besonders auf Lesbos vor der Moral und das Engagement der AktivistInnen variiert notgedrungen zwischen humanitärer und politischer Arbeit.

Lesbos lehrt aber auch, dass die vielfältigen Widerspruchsfelder innerhalb der werktätigen Klasse (etwa Rassismus oder Sexismus) im Kampf überwunden werden können. So ist es keine Selbstverständlichkeit, dass Menschen aus Eritrea und Äthiopien gemeinsam auf die Strasse gehen, um gegen die miserablen Bedingungen und die rassistische Behandlung in Moria zu kämpfen. Sogleich wurde ihr Protest zum Tagesthema unter allen CampbesucherInnen. Die Voraussetzung für eine grössere und dennoch radikalere Bewegung ist ein gemeinsames Interesse: Hinter der Forderung nach der Schliessung des Camps Moria und der Weiterreise aller Flüchtenden könnten sich unter Umständen viele Bevölkerungsgruppen sammeln, sowohl innerhalb Morias als auch der griechischen Bevölkerung auf der Insel. Ein (un-)freiwilliger Besuch auf Lesbos heute lehrt alle Beteiligten, den Klassenkampf von morgen in Westeuropa gemeinsam zu führen.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 86, September/Oktober 2016, Seite 13
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
Der aufbau erscheint dreimonatlich.
Einzelpreis: 2 Euro/3 SFr
Abo Inland: 30 Franken, Abo Ausland: 30 Euro,
Solidaritätsabo: ab 50 Franken


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2016

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