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AUFBAU/479: Mitreden, um nicht zu protestieren


aufbau Nr. 87, Januar/Februar 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Mitreden, um nicht zu protestieren


ZÜRICH Bei einigen neuen Stadtentwicklungsprojekten in Zürich wird Mitwirkung plötzlich grossgeschrieben. Damit soll Kritik und Protest wie bei der Europaallee im vornherein verhindert werden.


(az) "Wir wollen keine Luxuswohnungen" sagt Corine Mauch, die Zürcher Stadtpräsidentin in die TV-Kameras. Die Projektpräsentation der drei freiwerdenden SBB-Areale entlang des Gleisfelds in Zürich am 23. November ist eine PR-Show. Die Stichwörter sind gut eingeübt: Wohnungen, gemeinnützig, zukunftsträchtig, Einbezug, produzierendes Gewerbe und Digitalisierung. BeobachterInnen der Stadt- und Wohnungspolitik in Zürich reiben sich die Augen: Ist das die gleiche Stadt Zürich, die auch die Baubewilligung für die Europaallee erteilt hat, die Zürich West und den Kreis 4 umgekrempelt hat? Die Stadt Zürich, die sich gerne als machtlos gegenüber Vertreibungsprozessen darstellt, doch in der Planung von Grossprojekten alles tut, um InvestorInnen zufriedenzustellen? Diese Stadt und die SBB rufen die EinwohnerInnen nun dazu auf, sich an der Planung einer Wohnüberbauung an der Neugasse zu beteiligen?

Protestpotenzial einer neuen Europaallee

Eine Fläche fast doppelt so gross wie die Europaallee wird zur Überbauung freigegeben. Das weckt Begehrlichkeiten und hat Potenzial, der Protestbewegung in der Stadt Zürich neuen Aufwind zu geben. Das wusste auch die Stadt Zürich, als die SBB mit den Projektideen auf sie zukam. Ein Ringen sei es mit der SBB gewesen, so Mauch. Die Interessen der SBB sind tatsächlich ziemlich offensichtlich. Die Immobilien der SBB sollen den Unterhalt der Infrastruktur und die Pensionskasse der SBB quersubventionieren, also möglichst viel Gewinn abwerfen. Projekte wie die Europaallee, der Andreas- und Franklinturm in Oerlikon oder Westlink in Altstetten stehen für diese Interessen. Sie sind Symbole für verschwiegene Planung, Luxuswohnungen und ausgestorbenen, kontrollierten und privatisierten Raum. Um weitere solche Projekte verwirklichen zu können, sind deeskalierende Botschaften und Strategien gefragt.

Von Partizipation zur strategischen Einbindung

Partizipation ist schon länger ein Zauberwort der Stadtentwicklung in Zürich und suggeriert soziale Verträglichkeit und Einvernehmlichkeit. Seit einigen Jahren werden vermehrt Grünräume oder Zwischennutzungen unter Einbezug der Bevölkerung gestaltet, um möglichst viel Gebrauchswert zu garantieren. Die Beteiligung findet in der Regel in einem klar definierten Rahmen statt und zu einem Zeitpunkt, an dem zentrale Entscheide bereits getroffen sind. Partizipation setzt also höchstens bei den Symptomen an, zerlegt systemische Probleme erst noch quartierspezifisch und überlässt die Bestimmungsmacht in den seltensten Fällen den EinwohnerInnen. Mitgestalten heisst in Zürich meist, mit gut gebildeten Personen an Workshops über den Standort von Spielplätzen, Parkbänken, Beleuchtung oder die Gestaltung von Zwischennutzungen zu diskutieren, um dann Entscheide und die Umsetzung wiederum der jeweiligen Projektleitung zu überlassen.

Einbezug hat auch einen entschärfenden Zweck, z.B. bei Grossprojekten. Damit können formierte Protestbewegungen eingebunden und entpolitisiert werden oder es wird bereits von Anfang an mit Mitwirkungsformen geplant, um bei (politischer) Kritik darauf verweisen zu können und diese in eine technische Diskussion zu verwickeln. Aufgrund der eindeutigen Unterordnung unter den Zweck der Entschärfung von Protest und Widerstand, wird dabei meist von strategischer Einbindung gesprochen. Ein prominentes Beispiel für strategische Einbindung ist das Grossprojekt "Stuttgart 21", gegen das sich eine breite Bewegung formierte, die von Seiten der Behörden mit einer Schlichtung gebrochen werden konnte. Gesprächsrunden und Workshops sind kein Zeichen von mehr Demokratie oder einer konstruktiven, "zivilisierten" Auseinandersetzung, sondern werden mit dem gesteckten Rahmen im Vornherein verzweckt und so zur Einbindung eingesetzt.

Mitwirkung für die Schlagzeile

Auch beim eingangs erwähnten Projekt der SBB gibt es einen Rahmen, der die Verzweckung belegt: Von der Gesamtfläche wird nur das kleinste Grundstück an der Neugasse partizipativ geplant und zum Teil für dringend benötigte Wohnungen reserviert. Doch auch im zur Mitwirkung beworbenen Projekt Neugasse sind zentrale Eckwerte schon definiert (siehe Artikel unten). Der Gestaltungsspielraum unter grossen Mitwirkungsbegriffen (Wohnen, Arbeiten, Nachbarschaft etc.) beschränkt sich lediglich auf die Gestaltung der Wohnungen, Parkplätze und Grünflächen. In diesen Themenfeldern geht es um die Erhebung von Informationen und Meinungen, die keinen bindenden Charakter haben.

Wenn also das "Ringen" der Stadt mit der SBB lediglich verzweckte Einbindung hervorbringt, auf die medial und bei Kritik verwiesen werden kann, dann zeigt sich wie bedeutungslos und strategisch kalkuliert dieser Einbezug ist. Und wie gross die Angst vor Protest gegen neue Grossprojekte der SBB sein muss.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 87, Januar/Februar 2017, Seite 4
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
aufbau, Postfach 8663, 8036 Zürich
E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Januar 2017

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