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AUFBAU/499: Gemeinsam sind wir stärker - revolutionäre Praxis heute


aufbau Nr. 89, Mai/Juni 2017
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Gemeinsam sind wir stärker revolutionäre Praxis heute


G20-GIPFEL Es regt sich Widerstand gegen den G20-Gipfel in Hamburg. Wir nehmen die Diskussionen über mögliche Aktionen gegen diese Veranstaltung zum Anlass, uns über die Entwicklung heutiger revolutionärer Politik Gedanken zu machen.


(gpw) Die Frage, wie revolutionäre Praxis heute aussehen soll oder kann, lässt sich nicht ganz einfach beantworten. Es gibt nicht die revolutionäre Praxis, nicht die revolutionäre Form - im Gegenteil. Der politische Inhalt einer Praxis ist von zahlreichen Faktoren abhängig. Ein Beispiel: Die kämpfende türkisch-kurdische Bewegung in der Türkei bedient sich nebst anderer Mitteln auch des Parlamentarismus. In der Schweiz wird der Parlamentarismus von den meisten AktivistInnen, die sich zu einer revolutionären Politik bekennen, abgelehnt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die einen immer recht und die anderen immer Unrecht haben. Dies kommt auf die Analyse einer bestimmten objektiven und subjektiven Situation an. Die Anwendung der Kampfform Parlamentarismus wäre in der Schweiz in der jetzigen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung sinnlos. Sie hätte kein Potential, eine Bewegung zu stärken, welche auf den Umsturz des herrschenden Systems hinarbeitet. Wäre die Kampfkraft des revolutionären Subjekts, vorab der ArbeiterInnenklasse, stärker und der Parlamentarismus in einen breiteren Kampf eingebettet, in dem er nicht mehrheitlich als einzige Form der Politik verstanden wird, könnte ein Auftritt im Parlament eine revolutionäre Bewegung möglicherweise stützen und die Frage nach Interventionen im Parlament wäre dann vielleicht anders zu beantworten. So wird kaum jemand ernsthaft behaupten, dass in der Türkei/Kurdistan der parlamentarische Kampf die politische Führung hätte, wenn dies auch nicht heisst, dass sich aus einer Gleichzeitigkeit von bewaffnetem und parlamentarischem Kampf nicht widersprüchliche und schwierige Situationen ergeben können.

Strategie und Taktik

Der Marxismus kennt keine abstrakten, moralischen oder religiösen Prinzipien, welche die Auswahl der Kampfmittel beschränken. Ebenso wenig denkt er sich Kampfmethoden aus, die unter allen Umständen wirksam sind. Die Ablehnung bestimmter aus der Massenbewegung entspringender Kampfformen oder die Beschränkung auf bestimmte Aktionsformen gehört entweder zum Reformismus (Ablehnung revolutionärer Gewalt) oder zur Sektiererei (Ablehnung sämtlicher Kampfarten ausser der revolutionären Gewalt). Ob ein Kampf revolutionären oder reformistischen Charakter hat, ob er also den grundlegenden Interessen der Ausgebeuteten entspricht oder nicht, hängt von den Zielen ab, die er verfolgt. Ist ein Ziel vom Standpunkt der derzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung betrachtet beispielsweise reaktionär, dann bleibt es reaktionär, selbst wenn es sich scheinbar einer revolutionären Form bedient. Ein bewaffneter Aufstand mit dem Ziel eines faschistischen Umsturzes wird durch die Wahl des Mittels nicht revolutionär.

Die Entwicklung einer revolutionären Perspektive . und Praxis bedingt eine dialektische Auseinandersetzung über Form und Inhalt dieser Politik. Als Voraussetzung hierzu braucht es Einigkeit über die zu verfolgende strategische Zielsetzung. Erst danach ist es möglich, sich zu überlegen, welche einzelnen Schritte zur Umsetzung des strategischen Ziels nötig sind und wie diese Schritte mit welcher Taktik dem anvisierten Publikum vermittelt werden kann.

Es ist verständlich, dass solche Überlegungen in der täglichen politischen Arbeit angesichts der vielen praktischen Fragen, die es bei der Umsetzung einer Aktion zu lösen gilt, untergehen können. Die Taktik erhält in solchen Situationen oftmals ein zu starkes Gewicht und eine Aktion wird zu wenig in den Kontext des zu erreichenden strategischen Zieles gesetzt. Diese Schwierigkeiten sollten die Militanten jedoch nicht daran hindern, immer wieder die objektive und subjektive Situation der verschiedenen Klassen zu analysieren, strategische Zielsetzungen zu diskutieren, und das dialektische Verhältnis von Inhalt und Form zu berücksichtigen. Denn, wenn die Einschätzung der gesamten Lage und eine daraus abgeleitete Kampfstrategie nicht richtig ist, können auch die einzelnen durchgeführten Aktionen und die einzelnen Kampfmethoden nicht effizient sein.

Im Verlauf einer Diskussion können Meinungsverschiedenheiten über ein konkretes Thema entstehen, die man zunächst als taktisch begreift. Bei solchen Auseinandersetzung kann es sich herausstellen, dass gewichtige unterschiedliche Positionen in Fragen der Taktik auf grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten in der Strategie beruhen, d.h. in der Einschätzung, welches die grundlegenden Aufgabe unserer derzeitigen historischen Phase des revolutionären Prozesses ist, sei es in Bezug auf die Analyse der gegenwärtigen Situation oder in Bezug auf die strategische Antwort darauf.

Entwicklung einer revolutionären Praxis

Die Frage, wie eine revolutionäre Praxis heute aussehen soll, lässt sich somit nicht abstrakt, sondern nur in Verbindung mit der Frage beantworten, welches unsere heutigen Aufgaben in der jetzigen Etappe des revolutionären Prozess sind: Wodurch drückt sich die heutige Krise aus, was passiert auf der Erscheinungsebene und wo liegen die Veränderungen zur früheren Etappen, welche eine Anpassung der konkreten Zielsetzungen und die Anwendung anderer oder neuer Methoden und Formen erforderlich machen. Eine allgemeingültige Antwort hierzu gibt es nicht. Es braucht eine andauernde Auseinandersetzung zu diesen Fragen und eine permanente Reflektion der eigenen Praxis.

Unsere Situation lässt sich mit den gesellschaftlichen Umwälzungen vor hundert Jahren, als 1917 die russische Oktoberrevolution erfolgte, oder mit der Aufbruchstimmung, die 1968 herrschte, nicht vergleichen. In der Subversion, einer schweizerischen, politisch revolutionären Zeitschrift hiess es 1995, dass sich die revolutionäre Linke in der Schweiz anfangs der 90er Jahre in einem desolaten Zustand befunden habe. Die meisten der in den 70er und 80er Jahren entstandenen Organisationen und Gruppen hätten sich aufgelöst und Resignation und Perspektivlosigkeit habe sich vielerorts breit gemacht. Es war die Zeit des Zusammenbruchs der Sowjetunion und der DDR. Es fand eine Schwächung eines fortschrittlichen Kerns im antiimperialistischen Kampf im Trikont statt und es erfolgte das vorläufige Ende der bewaffneten Strukturen der Stadtguerilla in Europa. Diese Faktoren prägen zusammen mit einer sich stetig verändernde Zusammensetzung der arbeitenden Klasse, welche eine massive Differenzierung in den subjektiven Erfahrungen der einzelnen Klassensegmente mit sich bringt, die politische Realität seit den 90er Jahren. Die revolutionäre Linke in Europa befindet sich in einer Defensive, weshalb sich auch die grundlegenden Aufgaben revolutionärer Kräfte gewandelt haben. Ein revolutionärer Prozesse führt nicht linear hin zum Umsturz, sondern er erfährt Grenzen und Rückschläge, die es einzuschätzen und zu verstehen gilt, damit die revolutionäre Spur weiter verfolgt werden kann.

Und wie könnte ein Vorschlag eines gegenwärtigen revolutionären Prozesses aussehen? Im Zentrum kann bei der derzeitigen Entwicklung nicht die Frage stehen, was im Sozialismus oder Kommunismus konkret anders zu ordnen wäre, sondern insbesondere die Frage der Methode, mit der ein revolutionärer Prozess entwickelt und verstanden werden kann.

Einheiten suchen, ohne Differenzen zu negieren

Als Ausgangspunkt ist daran festzuhalten, dass trotz der vielen Grabreden hierzu, das Ende der Klassenkämpfe nicht erreicht ist. Es zeigt sich lediglich, dass der revolutionäre Prozess eine generationenübergreifende Sache ist und einen langen Atem voraussetzt. Ohne Klassenposition, ohne ein Bruchverhältnis zum Reformismus und Revisionismus und ohne die Ablehnung des Gewalt- und Machtmonopols des bürgerlichen Staates lässt sich keine revolutionäre Politik betreiben.

Die grundlegende Aufgabe der derzeitigen Etappe eines revolutionären Prozesses könnte so begriffen werden, dass es darum geht, auf unsere eigenen Kräfte vertrauend, in politischer, organisatorischer und ideologischer Hinsicht im Kleinen aufzubauen, was im Grossen zum Ausdruck kommen soll. Im Zentrum steht nicht die Spaltung, sondern die Sammlung der revolutionären Kräfte und die Erarbeitung von Methoden, welche es erlauben, eine gemeinsame Praxis zu entwickeln, umzusetzen und zu reflektieren, ohne sich bei jedem auftauchenden Problem spalten zu müssen. In einer Etappe der Defensive erscheint es wesentlich, die Einheiten und nicht die Differenzen im gemeinsamen revolutionären Kampf ins Zentrum zu rücken sowie national und international Erfahrungen zu sammeln und zu bündeln, ohne die politischen Differenzen zu negieren.

Eine derartige Stossrichtung wird nicht nur in der Schweiz debattiert. Inge Viett erklärte 2011 an der Rosa-Luxemburg-Konferenz, dass in Deutschland zusammenfassende Strukturen fehlten, die das Sammelsurium an Kämpfen zu einer sozialistischen Systemalternative verbinden könnten. Anarchistische GenossInnen in Griechenland wie etwas Nikos Maziotis vom revolutionären Kampf analysierten, dass das Fehlen einer gemeinsamen Strategie in der revolutionären Bewegung die Hauptursache dafür gewesen sei, dass sich aus der revolutionären Situation in Griechenland keine revolutionäre Krise entwickelte und reformistische Projekte gestärkt worden seien, die ihre Versprechen nicht eingehalten haben.

Differenzierte Realitäten als Herausforderung

Es gehört dabei zu den heutigen Herausforderungen, dass die ArbeiterInnenklasse sehr differenziert geworden ist. Wenn auch die Ursachen des Klassenkampfes dieselben sind wie früher, sehen die Klassenkämpfe als Folge der Prozesse der Deindustrialisierung, Tertialisierung und der anstehenden Digitalisierung und Automatisierung anders aus. Die Aufhebung der ideologischen Spaltung innerhalb der Klasse, in der gemeinsame Interessen durch verschiedene Lebensrealitäten und vermeintliche Unterschiede kaschiert werden, fällt schwerer, als in Zeiten der Oktoberrevolution 1917. Die Politisierung von derjenigen, die sich revolutionär organisieren, geschieht heute selten über den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Es sind Themen wie Rassismus oder Sexismus, die globalen Ungerechtigkeiten des Kapitalismus oder die Fragen der staatlichen Repression, welche bewegen. Es ist richtig und wichtig, dass man sich gegen die Barbarei des Kapitalismus wehrt, welche Form dieser Widerstand auch immer annimmt. Aber ein politischer Kampf, der sich nur gegen etwas richtet und nicht für etwas kämpft, wird keine nachhaltige politische Perspektive entwickeln können.

Ein anderer Faktor, den es zu bewältigen gibt, ist der Umstand, dass KommunistInnen heute in einer Etappe für eine revolutionäre Perspektive kämpfen, in der ein Umsturz des Kapitalismus aufgrund seiner Krise zwar notwendiger denn je ist, die Möglichkeit desselben für eine Mehrheit des potentiellen revolutionären Subjekts aber sehr abstrakt wirkt und schwer vermittelbar scheint.

Daher gehört es heute zu den zentralen Elementen eines revolutionären Prozesses, Kämpfe gegen ein Projekt oder gegen ein Thema aktiv in den Kampf für ein Element des revolutionären Prozesses einzubetten, so klein der Schritt auch sein mag.

Auf nach Hamburg

Eine Theorie steht und fällt mit ihrer Umsetzung in die Praxis, wo sie erprobt, verifiziert und weiterentwickelt werden kann, sei es etwa am 1. Mai oder am 8. März, sei es in einem Arbeitskampf, an einer Aktion gegen die Rechte oder die herrschende Klasse. Auch die kommenden Proteste gegen den G20-Gipfel in Hamburg lassen sich in eine Gesamtstrategie einbinden, wo die verschiedensten revolutionären Kräfte auf der Strasse ihre Politik zum Ausdruck bringen und ihren Beitrag gegen die Perspektivlosigkeit des Kapitalismus und die ihr entspringende Reaktion leisten können. Das Missverhältnis zwischen der Notwendigkeit einer Revolution und der Schwäche der realen subjektiven revolutionären Kräfte und der Aufschwung nationalistischer, religiöser oder faschistischer Strömungen mit den Entwicklungen in Erdogans Türkei, Trumps USA oder Le Pens Frankreich, machen den revolutionären Kampf nicht einfacher, aber umso wichtiger. Diese gesellschaftlichen Entwicklungen können nicht ignoriert werden, und für die revolutionären Kräfte ist es wesentlich, gemeinsam Erfahrungen zu sammeln, wie eine politische Offensive gestaltet und in die eigenen revolutionäre Perspektive eingebettet werden kann.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 89, Mai/Juni 2017, Seite 1 + 6
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2017

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