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AUFBAU/522: Die Polizei im post-kolonialen Frankreich


aufbau Nr. 91, Januar/Februar 2018
klassenkampf - frauenkampf - kommunismus

Die Polizei im post-kolonialen Frankreich


REPRESSION. Der vor wenigen Wochen zurückgezogene Ausnahmezustand brachte verschärfte Repressionswellen gegen die sozialen Proteste mit sich. Wir wagen einen Ausflug in Frankreichs postkoloniale Geschichte, die die Gestaltung der zeitgenössischen Herrschaftsform in vielen Facetten prägt.


(agafz) Der am 14. November 2015 vom damaligen französischen Präsidenten François Hollande ausgerufene Ausnahmezustand ist ein Erbe des franko-algerischen Kolonialkrieges, der von 1954 bis 1962 das ganze Land, von seiner nordafrikanischen Peripherie bis ins Herz der imperialen Metropolen, erschütterte. Der Ausnahmezustand wurde in diesem Fall nach den Pariser Attentaten vom 13. November 2015 aufgrund der Terrorismusgefahr ausgerufen. Der eröffnete Handlungsspielraum wurde auch im Rahmen der Bekämpfung sozialpolitischer Bewegungen eingesetzt. Zu diesen zählen die Proteste gegen den Pariser Klimagipfel Ende 2015 und die breite Bewegung gegen eine neoliberale Revision des Arbeitsgesetzes, das so genannte "Loi Travail" oder "Loi El Khomri".

Auch zehn Jahre zuvor, im Herbst 2005, wurde unter Jacques Chirac der Ausnahmezustand verhängt. Es ging darum, anhand von Sperrstunden die Arbeiterquartiere unter Kontrolle zu bringen. Von diesen gingen heftige Protestwellen aus, welche sich im ganzen Land ausbreiteten.

Die Gewaltausbrüche seitens der Polizei, welche letztes Jahr für Aufruhr sorgten, sind keine Unfälle oder Fehlverhalten vereinzelter, besonders böswilliger Polizisten. Vielmehr stellen sie konkrete, in einer Situation zugespitzte Ausdrücke des normalen Funktionierens des Staates dar. Sie sind Produkte einer Gewalt, die man auf der historischen Ebene der Aufstandsbekämpfung verstehen muss. Das was als Ausnahme in Erscheinung tritt, ist lediglich eine radikalisierte Form der Normalität.


Der Algerienkrieg und die Entstehung des modernen Staates

Der Ausnahmezustand bezeichnet eine Situation, in der die Behörden über ein spezielles Arsenal an Massnahmen verfügen, um grundlegende Pfeiler des Rechtsstaates wie das Demonstrationsrecht oder die Bewegungsfreiheit einzudämmen. Der Ausnahmezustand wurde zum ersten Mal 1955 im damals noch algerischen Frankreich ausgerufen. Er wurde auch in den Metropolen, und mehrmals während des Krieges angewandt. Diese hochmilitarisierte Grundstimmung ist die Ausgangslage, aus der die heutige französische Staatsform definiert wurde. Historische Erschütterungen haben schon in der Vergangenheit Anpassungen der Modalitäten der Herrschaft begleitet: Die Niederschlagung der Pariser Kommune führte zur III. Republik, die revolutionäre Nachkriegswelle zur Etablierung der IV. und so entstand die V. Republik Frankreichs 1958 mitten im Algerienkrieg.

Die Analysen der Historiker konvergieren um zu sagen, dass die Etablierung der V. Republik eine Art Staatsstreich war, in dessen Mittelpunkt die Armee stand. Letztere übernahm de facto die Macht gegenüber der zivilen Administration in Algerien. Unter dem Druck ihrer Generäle kam de Gaulle zurück an die Macht. Er wertete die Stellung der Armee im Staat auf und machte das Ziel der Militärmacht zu einem bedeutenden Pfeiler in der Entwicklung Frankreichs. Die Polizei wurde mit ausserordentlichen Mitteln versehen, die ihr einen militärischen Charakter gaben. Dies führte zu Szenen, wie die des Staatsmassakers vom 17. Oktober 1961, als die Pariser Polizei hunderte von Demonstranten anlässlich einer Demo der Front de Libération Nationale (FLN) ermordete. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass obwohl ihr Handlungsspielraum ab diesem Moment erhöht wurde, es schon früher ähnliche, wenn auch kleinere Episoden gab. Gemäss ihren eigenen Worten schoss die Polizei ungehemmt, denn sie wusste, dass ihre Schüsse vom Innenministerium in Kauf genommen, ja sogar unterstützt wurden.

Es wird geschätzt, dass Mitte der 1960er Jahre immer noch über hunderttausend aus dem nordafrikanischen Raum stammende Menschen in elenden Barackensiedlungen wohnten. Diese Quartiere waren zur Zeit des Kriegs für die Rekrutierungsarbeit der FLN wichtig. Um dagegen zu kämpfen, wurden in den 1950er Jahren spezielle Polizeibrigaden gegründet. Sie hatten den Auftrag die Bevölkerung dieser Agglomerationen zu brechen. Im Slum von Nanterre gab es zum Beispiel die "Schlägerbrigade", die Baracken mit Keulen zerstörte. Diese Einheiten gibt es in der exakt gleichen Form heute nicht mehr, doch ihr Erbe und Einfluss bleibt bestehen.


Die BAC oder das Erfolgsmodell des postkolonialen Frankreichs

Wie schon angedeutet, gehört nicht nur der Ausnahmezustand zum Erbe der Kolonialzeit. Eine ganze Reihe der noch heute existierenden Methoden der für die Kontrolle, Besatzung und Befriedung der Banlieues zuständigen Polizeieinheiten, haben ihre Wurzeln in der früheren Militärtaktik. Diese speziellen Einheiten waren für viele reaktionäre Nostalgiker eine optimale Möglichkeit, um den Algerienkrieg nach der Unabhängigkeit in einem legalen Rahmen in Kontinentalfrankreich weiterzuführen. Damit soll nicht gesagt werden, dass das koloniale Schema gänzlich übernommen wurde. Es geht mehr um die Beschreibung, auf welche Art diese Mechanismen in die Metropolen übertragen wurden.

Es handelte sich um eine Mischform aus kolonialer und politischer Polizei sowie aus Elementen der Polizei, die im XIX. Jahrhundert für die "Säuberung" des öffentlichen Raums von unerwünschten Individuen wie Prostituierten, Obdachlosen, Bettlern, Homosexuellen oder Romas zuständig war. Die Brigaden, die diesen dreifachen Charakter erbten, operieren heute noch in der Peripherie der industriellen Zentren und werden zur Verwaltung der Unterschicht und ihrer Quartiere eingesetzt. Für die Einwohner dieser Regionen äussert sich das dreifache Wesen der Unterdrückung durch eine ausserordentliche Gewalt, eine geografische Abschottung und eine konstante Verfolgung im öffentlichen Raum. All dies folgt einem noch heute tief verankerten rassistischen Schema. Zum Alltag dieser Lebenssituationen gehören Demütigungen und willkürliche Aggressionen von einer kaum vorstellbaren Brutalität. Folgendes Beispiel soll zur Darstellung helfen: Im Herbst 1971 wurde in Ivry Behar Rehala, ein emigrierter Arbeiter arabischer Abstammung, für den Diebstahl eines Joghurts von der Polizei verfolgt und mit Schaufeln totgeschlagen.

Ein besonders "erfolgreiches" Modell einer solchen Polizei stellt die Brigade Anticriminalité (BAC) dar. Die erste Version davon, die BAC 93, wurde 1971 in Seine-Saint-Denis bei Paris gegründet. Sie entstand aus der Neugestaltung und Neuzuordnung von ehemaligen Strukturen und Akteuren des Algerienkriegs und aus der Bekämpfung der 1968er Bewegung. Sie funktionierte damals als nacht-aktive Einheit, die auch über juristische Kompetenzen und dadurch über mehr Spielraum verfügten. Die BAC operiert als meistens ziviles aber hoch bewaffnetes Korps. Ein entscheidender Aspekt ist, dass diese Brigaden proaktiv sind. Das heisst, sie sind selber verantwortlich für die Zustände, die ihre Existenz legitimieren. Die BAC provoziert, bis sie die Reaktion erreicht, die eine Intervention rechtfertigt. Dies führte dazu, dass die BAC mit relativ wenigen Mitteln überdurchschnittliche Verhaftungszahlen lieferte, die sie zu einem rentablen Erfolgsmodell machten und ihr sogar internationale Hochachtung verschaffte. Seither vermehrten sich die BAC Einheiten über das ganze Land und in diversen Formen. Die Methoden der BAC sind heute immer noch grausam. Zum Beispiel wurde 2008 Hakim Ajimi, 22 Jahre alt, für sein auffallendes Verhalten von der BAC festgenommen und so lange gewürgt, bis er starb. Im Juni 2012 wurde der 26 jährige Nabil Mabtoul erschossen als er flüchtete, um einer Kontrolle der BAC zu entkommen.


Von den Slums von Nanterre zur Place de la République

Im Laufe der 2000er Jahre wurden neue Versionen der BAC gebildet, deren nachrichtendienstliche Kompetenzen und diverse Aufgaben im Bereich der Terrorismusbekämpfung liegen. Zugleich wurden BAC-Einheiten vermehrt gegen politische Proteste eingesetzt. Dies zum Beispiel während der Demonstrationen, die 2009 in Strassburg gegen das Jubiläum der NATO stattfanden. In diesem Rahmen konnten sie die ganze Palette ihrer Möglichkeiten anwenden. Natürlich wurde die BAC für die Repression gegen die Proteste um das "Loi Travail" eingesetzt. Im Rahmen dieser Bewegung besetzten SchülerInnen des Pariser Gymnasiums "Henri Bergson" ihr Schulhaus. Die Videos, die letztes Jahr im Internet zirkulierten und für Aufsehen sorgten, zeigten zivil Vermummte, die auf diese SchülerInnen einprügelten. Ein exemplarisches Verhalten der BAC, denn Einschüchterungen und Provokationen gehören zum Programm.

Wie schon gesagt, sind diese Ereignisse nicht Fehlverhalten oder Unfälle, sie haben eine politische Geschichte. Massenverhaftungen, präventive Freiheitsentzüge und willkürliche Gewalt sind nichts neues. Sie gehören zu den Massnahmen, die vor allem der migrantischen Bevölkerung der Banlieues und ärmeren Arbeiterquartieren vorbehalten waren und immer noch Teil von deren Alltag sind.

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Redaktion

Revolutionärer Aufbau Basel (rabs), Revolutionärer Aufbau Bern (rab), Revolutionärer Aufbau Winterthur (raw), Gruppe politischer Widerstand Zürich (gpw), Gruppe Arbeitskampf Zürich (az), Arbeitsgruppe Antifa Basel (agafbs), Arbeitsgruppe Antifa Zürich (agafz), Arbeitsgruppe Klassenkampf Basel (agkkbs), Arbeitsgruppe Klassenkampf Zürich (agkkz), Arbeitskreis AbeiterInnenkämpfe (akak), Arbeitskreis Frauenkampf (akfk), Frauen-Arbeitsgruppe (agf), Frauenkollektiv (fk), Rote Hilfe International (rhi), Arbeitsgruppe Jugend Zürich (agj)

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Quelle:
aufbau Nr. 91, Januar/Februar 2018, Seite 8
HerausgeberInnen:
Revolutionärer Aufbau Zürich, Postfach 8663, 8036 Zürich
Revolutionärer Aufbau Basel, basel@aufbau.org
Revolutionärer Aufbau Winterthur, winterthur@aufbau.org
Redaktion und Vertrieb Schweiz
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E-Mail: info@aufbau.org
Internet: www.aufbau.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Februar 2018

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