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CORREOS/079: El Salvador - Eindrücke einer Reise


Correos des las Américas - Nr. 159, 28. Oktober 2009

Eindrücke einer Reise

Von Anita Escher


Die neue Regierung in El Salvador ist eine Allianz zwischen der FMLN-Partei, der ehemaligen Guerilla, und demokratischen Sektoren aus der Mittelschicht um den Präsidenten Mauricio Funes. Während der FMLN strukturelle Veränderungen anvisiert, will Funes davon kaum etwas wissen. Wie widerspiegelte sich dieses Spannungsfeld während der ersten vier Monate der neuen Regierung? Vor allem im Gesundheits- und im Bildungsbereich sind jetzt schon Verbesserungen für die armen Bevölkerungsschichten spürbar. Aber mit einem grossen Stauseeprojekt und den damit verbundenen Umsiedlungen könnte Mauricio Funes die Unterstützung seitens der ländlichen Bevölkerung aufs Spiel setzen.

Am 1. Juni hat die neue Gesundheitsministerin, die 80-jährige Ärztin Maria Isabel Rodriguez, das Gesundheitswesen in einem völlig desolaten Zustand übernommen. ARENA hinterliess das Gesundheitsministerium mit einer Schuld von 18 Mio. USD, ausserdem wurde fast das gesamte Jahresbudget 2009 innerhalb von fünf Monaten - von Januar bis Mai - ausgegeben und rund 5.000 Menschen warten seit mehr als einem Jahr auf ihren Operationstermin. Das sind nur einige Beispiele der schwierigen Ausgangslage. Die Privatisierungen unter ARENA-Ägide führten auch dazu, dass ursprünglich spitaleigene, medizinische Geräte ausgelagert und von Privatfirmen betrieben wurden. Die Preise für die Untersuchungen stiegen und mussten zudem von den PatientInnen selber bezahlt werden, da die Sozialversicherung diese Kosten nicht mehr übernahm.

Als eine der ersten Massnahmen hat die neue Ministerin die sogenannten 'freiwilligen Beiträge' (cuotas voluntarias) abgeschafft. Für arme Familien in den Städten und auf dem Land bedeutet dies, erstmals Zugang zur Gesundheitsversorgung zu haben. Jetzt werden alle kostenlos in den 590 lokalen Gesundheitseinrichtungen des Landes (Unidades de Salud) betreut und erhalten Medikamente. Eine weitere Massnahme ist die ganztägige Nutzung der Operationssäle, damit die Tausenden von anstehenden Operationen durchgeführt werden können. An den Wochenenden unterstützen freiwillige ÄrztInnen das Personal des öffentlichen Gesundheitswesens. Die Gesundheitsministerin wird vom Ärzteverband, dem Gesundheitspersonal, dem FMLN und einem breiten Zusammenschluss von Gewerkschaften und NGOs, der "Alianza ciudadana contra la privatizacion", unterstützt.

Die neue Maternité wird nun endlich gebaut. Das Spital wurde durch die Erdbeben im Jahr 2001 stark beschädigt und hätte schon seit langem wieder aufgebaut werden sollen. (Es wird davon ausgegangen, dass ARENA wie in vorher gehenden Wahlen die öffentlichen Mittel für ihre Wahlkampagne benutzt hat.)


Economia popular im Erziehungswesen

Das salvadorianische Bildungssystem basiert seit Jahrzehnten auf der Vernachlässigung des öffentlichen Bildungssektors bei gleichzeitiger Förderung der privaten Bildungsinstitute, und zwar vom Vorschulalter bis zur Hochschule. Die reichen Familien leisten sich Schulen für ihre Zöglinge, die monatlich das Vielfache des gesetzlichen Minimallohnes kosten.

Der neue Erziehungsminister, Salvador Sánchez Cerén, der gleichzeitig auch Vize-Präsident ist, hat zahlreiche Massnahmen eingeleitet, um den Zugang zu Bildung für alle zu gewährleisten.

In der Primarstufe wurden wichtige Schritte eingeleitet, damit vor allem Kinder aus armen Bevölkerungsschichten zur Schule gehen können. Zum ersten Mal in der Geschichte El Salvadors wird das Schulmaterial durch das Erziehungsministerium gestellt. Früher war der Schulbeginn eine Sorgenzeit für Eltern aus armen Verhältnissen. Es war kein Geld für die Schuluniform, Schuhe und Schulmaterial vorhanden oder die Kinder gingen hungrig, ohne Frühstück, zur Schule. Das Erziehungsministerium führt zur Zeit ein dezentrales Programm ein, das auch die "economia popular" (Kleingewerbe) ankurbelt. Für die Herstellung der Schulkleidung ist vorgesehen, dass sich Gruppen von Näherinnen beim Erziehungsministerium oder den Gemeindebehörden anmelden, dort das Material (Stoff etc.) beziehen und für ihre Näharbeit bezahlt werden. Für die Schuhe nach Mass wird ähnlich vorgegangen. In den meisten Familien war es bisher unvorstellbar, dass die Kinder Schuhe erhalten. Für die Schulverpflegung haben sich Mütter pro Schule zusammengeschlossen. Sie erhalten Mais, Bohnen, Reis, Milch etc. und bereiten damit die Schulmahlzeiten vor.

Eine landesweite Alphabetisierungskampagne ist in Vorbereitung. Das dafür vorgesehene didaktische Material, "Yo si puedo" (Ja, ich kann) wird zur Zeit von NGOS, die langjährige Erfahrung im Erwachsenenbildungsbereich haben, diskutiert. Das Alphabetisierungskonzept wurde in Cuba entwickelt und wird jeweils vom betreffenden Land den eigenen Gegebenheiten angepasst. Es handelt sich dabei um eine Lese- und Schreiblerntechnik, die auch in Venezuela und weiteren Ländern des Kontinents erfolgreich angewendet wurde. In El Salvador haben ErwachsenenbildnerInnen einen Vorschlag zu Handen des Erziehungsministeriums ausgearbeitet, damit das Material den salvadorianischen Bedingungen angepasst werden kann.

Als ehemaliger Lehrer kennt Salvador Sánchez Cerén das Bildungssystem sehr gut. In den letzten Legislaturperioden war er Parlamentsabgeordneter, zuletzt Fraktionschef der FMLN-Partei. In den Meinungsumfragen schneiden die Ministerien für Gesundheit und für Bildung mit den besten Resultaten ab.


Der Stausee als "Sachzwang"

Trotz den Fortschritten im Gesundheits- und Bildungsbereich setzt Mauricio Funes die Unterstützung der Bevölkerung aufs Spiel. Er und sein Umweltminister halten am Bau des Stausees El Chaparral fest und suchen nach 'Lösungen' für die Bauern, die umgesiedelt werden sollen. Das zuständige Energiewerk, CEL, hat trotz Protesten der betroffenen Bauern und Umweltorganisationen eine erste Zahlung an die Baufirma ASTALDI geleistet. "Die bestehenden Verträge müssen eingehalten werden", so die Aussage des Leiters des Energiewerkes. ARENA klatscht Beifall, das Geschäft ist lukrativ. El Salvador produziert jetzt schon mit den vier bestehenden Stauseen Strom für die umliegenden, zentralamerikanischen Länder. Nun soll noch mehr fruchtbares Land und weitere Dörfer dem Stausee zum Opfer fallen, auch historische Indigo-Färbeanlagen werden überschwemmt. Das neue Megaprojekt wird zum grossen Teil durch einen Kredit der Zentralamerikanischen Bank für Integration (BCIE) finanziert und kostet 220 Mio. US-Dollar. Die Bauzeit, um den Fluss Torola zu stauen und mit dem Stausee "5. November" zu verbinden, beträgt rund 2,5 Jahre. Drei Gemeinden im Norden des Departaments San Miguel sind betroffen. Der Widerstand in der Bevölkerung hat sich noch unter der ARENA-Regierung gebildet und hält schon lange an.

Die Umweltorganisationen sind gegen den Bau des Stausees. Derweil schaut ARENA dem Konflikt genüsslich zu und versucht, den Keil zwischen FMLN und Mauricio Funes tiefer zu treiben. Um sich über die neuen Funktionen als Opposition zu instruieren, lässt ARENA Experten aus dem rechten Lager Venezuelas einfliegen. Die Putschversuche der venezolanischen Regierungsgegner sind bestens bekannt. Gleichzeitig ist der Ausgang des Putsches in Honduras, der von ARENA als "verfassungsschützend" gelobt wurde, für El Salvador von grosser Bedeutung. Die Proteste in El Salvador gegen das Putschistenregime im Nachbarland gehen weiter, ebenso die Solidarität. Seit dem Putsch Ende Juni ist es immer wieder zu Blockaden des Grenzhandels durch linke Basisorganisationen gekommen und Ende September organisierte der FMLN eine Grossdemo in Solidarität mit dem honduranischen Widerstand, die auch als ernste Warnung an die einheimische Rechte diente: "Versucht es nicht in El Salvador!"


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Der ermordete Filmer, die Mara und ein guter und ein schlechter Bulle

(dd/ae) Am 2.9.2009 wurde Christian Poveda, ein französisch-spanischer Fotoreporter und Dokumentarfilmer im Norden der Hauptstadt San Salvador umgebracht. Einige Tage vorher hatte er in Mexiko seinen neuesten Film "La vida loca" gezeigt, ein Dokumentarfilm über den Alltag einer Clique der 'M 18', einer Jugendgang in El Salvador. Seine Kollegen berichten, dass er vorhatte, Mitglieder im Gefängnis von Quetzaltepeque zu besuchen.

Den Film "La vida loca", das irre Leben, stellte er 2008 fertig und zeigte ihn ab September 2008 an verschiedenen Filmfestivals. In den achtziger Jahren hatte er über den Krieg in El Salvador berichtet. In den neunziger Jahren begann Christian Poveda, über die Maras, die Strassenbanden, zu recherchieren.

Insgesamt sollen in Zentralamerika über 100.000 Jugendliche in den "Maras" organisiert sein, in Mexiko und in den Vereinigten Staaten mindestens noch einmal so viele. 1996 erliess der US-Kongress ein Gesetz, wonach jeder Ausländer, der länger als ein Jahr im Gefängnis sitzt, in sein Ursprungsland deportiert wird. Darauf wurden Tausende von jugendlichen Bandenmitgliedern in die zentralamerikanischen Länder deportiert, wo sie Arbeitslosigkeit, Ausgrenzung und Armut fanden, aber auch neue Drahtzieher, die bis weit in die Oligarchie reichen. Allein in El Salvador gibt es rund 60.000 Jugendliche in den Maras. Sie operieren nicht unabhängig von den 'alten' Todesschwadronen.

Da die Verbindung der Todesschwadrone zur Armee nach dem Krieg und den Friedensabkommen 1992 offensichtlich geworden war, brauchten diese eine neue Struktur. Es wird vermutet, dass Teile der Maras im Auftrag der Todesschwadrone und ARENA arbeiten. Nachgewiesen wurde bisher nichts.

Nach dem Sieg des FMLN und Funes wurden die "Palabreros", die Sprecher der Maras, ausgewechselt. Diese Sprecher sind häufig Männer im Anzug, die mit den Anführern in den Gefängnissen in Verbindung stehen. Christian Poveda wies darauf hin, dass die neuen Anführer weder bereit waren, in einen Dialog untereinander zu treten, noch mit der neuen Regierung.

Die Regierung hat eine umfassende Untersuchung des Mordfalls eingeleitet. Gleichzeitig werden kriminelle Agenten aus der salvadorianischen Polizei entfernt. Dies betrifft nicht nur subalterne Beamte, sondern etwa auch den hohen, von der neuen Polizeiführung "frei gestellten" Offizier Godofredo Miranda. Der frühere Chef der Drogenpolizei war mutmasslich mit lokalen Segmenten der US/mexikanisch/kolumbianischen Drogenmafia verbandelt gewesen. Berüchtigt wurde er auch im Zusammenhang mit der Vergewaltigung und Ermordung der 9-jährigen Katya Miranda 1999, die mit ihrem Vater, Hauptmann Edwin Miranda, dem damaligen Chef der Präsidialgarde, anderen Verwandten und deren Leibwächtern am Strand übernachtet hatte und in der Nacht "verschwand", ohne dass jemand etwas bemerkte. Am Morgen wurde sie in der Nähe ermordet gefunden. Ebenfalls anwesend Godofredo, damals stellvertretender Kripochef des Landes. Er sorgte effizient dafür, dass alle kriminalistischen Spuren am Tatort und an der Leiche des Kindes verwischt wurden. Wäre nicht die Mutter von Katya, Hilda Jiménez, gewesen, wäre der Fall bald ad acta gelegt worden. Doch dank ihrer Hartnäckigkeit und ihrem Mut - sie musste mit ihrer anderen Tochter ins Exil in die USA flüchten - ist die Causa Katya in El Salvador zum Synonym für den Kampf gegen die auch nach Kriegsende ungebrochene Straffreiheit geworden. Einer plausiblen These zufolge ist der Vater oder der Grossvater selber der Täter gewesen.

Für den salvadorianischen Volksmund gilt als gesichert, dass Edwin Miranda mit der Gattin des damaligen Staatspräsidenten Armando Calderón Sol ein Verhältnis hatte und deshalb unantastbar war. Calderón ist heute eine der bestimmenden Grössen in der ARENA. Diese Partei fordert jetzt den Rücktritt der neuen Polizeichefs Carlos Ascencio, der schon als lokaler Polizeikommandant im Osten ein Killer- und Drogenhändlernetz in der Polizei hatte auffliegen lassen, mit dem offenabr auch Godofredo Miranda verbandelt war.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 159, 28. Oktober 2009, S. 26-27
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. November 2009