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CORREOS/121: Venezuela - "Radikale Linke", die mit den Rechten marschieren


Correos des las Américas - Nr. 165, 15. März 2011

Das Zerrbild einer Sekte

Es bürgert sich in bestimmten Kreisen der lateinamerikanischen besonders "radikalen Linken" ein, mit den Rechten zu marschieren. Ein Beispiel aus Venezuela mit Aufhänger in der Schweiz.

Von Dieter Drüssel


Die "NZZ Online" konnte mich nicht so richtig erfreuen:

"Hunderte Gegner des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez haben am Samstag in Caracas gegen die Enteignung von Privatunternehmen protestiert. Einige Demonstranten forderten zugleich die Freilassung des Gewerkschaftsführers Ruben Gonzalez. Dieser sitzt nach einem Streik im Jahr 2009 im Gefängnis. In den vergangenen fünf Jahren sind nach einer Mitteilung der Gruppe Provea mehr als 2200 Venezolaner aufgrund ihrer Beteiligung an Protesten angeklagt worden. Chávez verteidigt die Enteignung von Unternehmen mit der Begründung, dies seien notwendige Schritte auf dem Weg zu einem sozialistischen System." (6.2.11).

"Natürlich" konnte mir die Homepage der venezolanischen trotzkistischen Gruppe Unidad Socialista de Izquierda weitere Leckerbissen servieren. Die USI ist einem internationalen Verband angeschlossen, der Unidad Internacional de los Trabajadores (UIT). Mit in dieser Partie der brasilianische PSOL und Kleingruppen aus anderen lateinamerikanischen Ländern. Die UIT kommt aus einer makabren trotzkistischen Tendenz um den in den 80er Jahren verstorbenen Nahual Moreno, dessen (argentinische) Organisation nach dem Militärputsch 1976 zwei Jahre brauchte, um ihn als reaktionär einzustufen .. (was sie aber nicht vor der Repression bewahrte).

Euphorisch berichtete jetzt die USI: "15.000 Arbeiter marschierten in Caracas für allgemeine Lohnerhöhungen, für die Freilassung des Gewerkschaftsführers Rubén González und gegen die Verletzung der Gewerkschaftsrechte in den staatlichen Betrieben". Unterschiedliche, aber authentische Gewerkschaften seien jetzt verbündet und würden Chávez das Fürchten lehren. Die Videos zeigten leider nie die 15.000, sondern eisern bloss die Tribüne mit Kurzstatements der USI-Prominenz (einzige Ausnahme eine Szene doch mit ein paar Leuten mehr).

USI-Chef Orlando Chirino war Repräsentant des trotzkistischen Gewerkschaftsflügels C-CURA, der sich 2008 gespalten hatte. Die ebenfalls trotzkistische Gewerkschaftslinke Marea Socialista hatte mit Chirino gebrochen, als er einen Streik bei General Motors als "terroristisch", die streikende Gewerkschaft eine Ansammlung von "Ex-Häftlingen" und GM ein "in Lateinamerika angesehenes Unternehmen" nannte (aporrea.org, 7.9.08). Die Streikenden kochten vor Wut, Marea-Exponenten eilten in das Werk, um sich klar zu solidarisieren. Eine neue, aus allgemeinen Betriebswahlen mit Abstand führende Gewerkschaft war in GM aktiv. Sie streikte, weil sich das GM-Management weigerte, mit ihr in Verhandlungen zu treten. Stattdessen setzte es auf einen "Runden Tisch", um mit Chirino, Supervisoren und einer minoritären Gewerkschaft handelseinig zu werden.


Das schöne Vokabular

Ob das dem Ansehen des "furchtlosen Kämpfers" bei jenen Gruppen in der Schweiz geschadet hat, die ihn kurz zuvor zu einer "Infotour" geladen haben, weiss ich nicht. Vielleicht haben sie es einfach nicht mitbekommen (wollen). Leider konnte José Bodas, ebenfalls Führungsmitglied der USI, vom Selbstanspruch her Leader einer revolutionären Ölarbeitergewerkschaft und Aktivist der "Grossdemo" in Caracas, eine Woche vorher im Rahmen des "Anderen Davos" in Basel als einziger Vertreter aus dem ALBA-Raum auftreten. An einem Treffen, an dem AktivistInnen aus Arbeitskampforganisationen aus mehreren Ländern gemeinsame Lehren ziehen wollten. Ein notwendiger, wertvoller Versuch - der nicht ausschliesst, dass auch erfahrene GenossInnen der Magie der schönen Worte verfallen können. Was ich meine, verdeutlichte ein junger, eher anarchistischer Gewerkschafter: Bodas' kämpferischer Geist und klare Message von der notwendigen Autonomie der Klassenorganisationen vom Staatskapitalismus fand er Spitze. Ob der Begeisterte die Darbietung Bodas' eine Woche später an der Demo in Caracas mitbekommen hat?

Vielleicht würde ihn erstaunen, dass etwa ein Froilán Barrios sich des gleichen "schönen" Vokabulars bedient. Der Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes CTV rief an der Demo in Caracas eine "neue Gewerkschaftsbewegung" aus, "die entsteht, autonom von Parteien, autonom von jeglicher Art von Regierung". Mega anarcho, der Kumpel? Nicht wirklich. Die CTV ist der "gewerkschaftliche" Arm der Unternehmerverbände, putschistisch und von Washington ko-finanziert. Ausser auf der USI-Homepage und von einem militant antichavistischen "Anarcho"-Grüppchen wird die Caracas-Demo von links wie rechts als eine der CTV begriffen, wobei die Beteiligungszahlen meist auf unter 1000 reduziert werden. An der "Klassen"-Demo nahmen denn auch einschlägige PolitikerInnen wie María Corina Machado teil. Die Frau war als Leiterin der vom US-State Department finanzierten NGO von George Bush im Weissen Haus empfangen worden.


ArbeiterInnenkontrolle

In ihren Propagandastatements vermeidet es die USI, das Demothema der Ablehnung von Verstaatlichungen zu erwähnen. Mit gutem Grund: Eine "linksradikale" Kraft für den Privatbesitz von Unternehmen? Das würde irgendwie den Fluss der schönen Argumente stören. Josep Cruelles schreibt in "Venezuela, control obrero y autogestión" (kaosenlared.net, 6.7.10):

"Die Antwort der Regierung auf das Horten von Lebensmitteln durch die Nahrungsmittelindustrie bestand in Enteignung und Nationalisierung. So wurden Zucker-, Milch-, Reis-, Kaffee- oder Mehlbetriebe in Sozialistische Produktionsunternehmen umgewandelt. Zwei der wichtigsten multinationalen Supermarktketten wurden nationalisiert und unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt. Die Antwort auf die von einer historischen Dürre im Flussgebiet des Gurí produzierte Stromkrise bestand in der Umorientierung des staatlichen Werkes CORPOELEC, das unter ArbeiterInnenkontrolle gestellt wurde. Die alte Chefbürokratie wurde entlassen. Vor allem aber kam es mit dem Dekret vom vergangenen 13. Mai zu einem präzedenzlosen Schritt, der das Gros der venezolanischen Minen- und Metallindustrie unter ArbeiterInnenkontrolle brachte. Die Venezolanische Korporation von Guyana (CVG) repräsentiert mit ihren 15 Unternehmen und 18.000 Angestellten das soziale und wirtschaftliche Zentrum einer Region, die sich über fünf Gliedstaaten erstreckt. Die Arbeiter haben in Versammlungen ihre Vertreter gewählt und später in Arbeitsgruppen Verwaltungsmodelle für Bereiche wie Produktion, Kommerzialisierung, Arbeitsbedingungen und Umweltschutz vorgeschlagen."

Flagschiff der CVG ist das Stahlwerk Sidor, dessen Verstaatlichung mit Elementen der ArbeiterInnenkontrolle (control obrero) das Resultat langer Kämpfe war. Die Markt-beherrschende Polar hatte Preiskontrollen umgangen, die Gewinne optimiert und soziale Not verursacht, indem sie das Grundnahrungsmittel Reis nur noch als geschmackangereichertes Luxusgut kommerzialisierte (Correos 164). Und wer demonstrierte in Caracas unter dem CTV-(USI-) Banner eifrig gegen die "Gefährdung der Arbeitsplätze" durch staatliches "Missmanagement" und für die Reprivatisierung "ihrer" Unternehmen? Klar doch, die gelben Gewerkschaften, "proletarische Avantgarden", von Sidor, Polar etc.

Offenbar spielt die USI im Land selbst eine weit geringere Rolle als in der "linken Nicht-Solidarität" im Ausland. Wie immer, ein Vertreter dieser Tendenz am engagierten Anlass in Basel - ungut. Dass Leute aus solch dubiosen Sekten nach wie vor landen können, hat wohl mit unserer Schwierigkeit zu tun, mit den meist "unrein" daherkommenden Widersprüchen von gesellschaftlichen Prozessen umzugehen. Natürlich, die fast fassungslos machenden Vorgänge in der bolivianischen Regierung; die Veränderungen in Kuba, die offenbar auf dem Grundkonsens aufbauen, dass die unten das Werk der Leitung "nicht verstehen"; die kürzlich zweimal erfolgten Auslieferungen von realen oder tatsächlichen kolumbianischen Guerillas aus Venezuela nach Kolumbien - all das verbietet Anhimmeleien. Werden in Venezuela Schlüsselindustrien verstaatlicht, tanzt danach in der Regel eine "bolivarische" Managementelite an, die den Status quo ante unter "sozialistischem" Vorzeichen aufrechterhalten will - viele Kämpfe des control obrero richten sich dagegen. Aber auch diese ebenso wie die kommunalen Räte extrem faszinierende Sache muss hinterfragt werden. Droht da etwa nicht, dass Belegschaften so noch das letzte für "ihren" Betrieb verausgaben und am Schluss doch nur gelackmeiert sind? Aber Fragen sind nicht verpackte Vorantworten. Wer mit Blick auf die Kommandostruktur der "Wissensgesellschaft" mit ihrem allgegenwärtigen Gebot der "Eigenverantwortung" einfach "weiss", dass control obrero nichts als eine weitere Managementstrick oder eine logische Konsequenz aus kapitalistischen Verhältnissen ist, um die "Arbeitstiere" bei produktiver Laune zu halten, weiss nichts von den Leuten.


Realer Klassenkampf

Der Klassenkampf tobt, auch im Bolivarismus. Die gesellschaftlichen Kämpfe in Venezuela sind hart. Letztes Jahr sind mehrere GewerkschafterInnen, fast alle Kader des chavistischen Dachverbandes Unete, umgebracht worden. Einige von Schwadronen, andere, wie zwei protestierende Mitsubishi-Arbeiter, von regionalen oder kommunalen Polizeien, die teilweise unter "bolivarischem" Befehl standen. Wie bei den über 200 von Grossgrundbesitzern ermordeten Campesinos kam es auch hier zu fast keinen Verurteilungen. Umgekehrt wurde der Gewerkschaftsführer Rubén González so eben wegen eines Streiks tatsächlich zu siebeneinhalb Jahren Knast verurteilt (am Tag nach dem Urteil allerdings provisorisch freigelassen).

Die Linke ist gewohnt zu protestieren. Es wird immer heikel, wenn es ums Regieren geht. Ich meine nicht das hiesige Mit-den-Mächtigen-Mitgehen, sondern ein Regieren dort, wo gesellschaftliche Kämpfe tradierte Kräfteverhältnisse bis zu einem gewissen, sichtbaren Grad verändert haben. Wer darauf einsteigt, läuft Gefahr, ein Schwein zu werden. Wer das unterlässt, verarscht meistens die Massen, die das mit ihrer daueraktivierten Selbstbestimmung oft anders sehen als ihre "VordenkerInnen". Meist erwarten, brauchen die Leute von den Ihren, dass sie den Staat übernehmen und es richtig machen. Das ist hochgefährlich, aber trotz des damit drohenden Paternalismus unvermeidlich. Wer sich in dieser Situation "sauber" aufs Protestieren wie eh und je zurückzieht - und das noch so poetisch begründet - kippt nach rechts, wird Sekte. Das reale Problem, die beinahe unerträgliche Spannung bleibt: Wie Regierungsapparate leiten und gleichzeitig gesellschaftliche Kämpfe gegen ihre Logik vorantreiben?

Mir gefällt, was Edwin L'Bachi Velásquez kürzlich in Aporrea geschrieben hat, als Antwort auf die Aussage, Venezuela unter Chávez entferne sich schneller vom Sozialismus als je zuvor:

"In unserem Land hat sich der Konsumismus auf unvorstellbare Höhen gesteigert, was wir täglich auf den Strassen sehen. Beispielsweise besitzen fast 100 Prozent unseres Volkes ein Handy, der Verkauf geht weiter, und Venezuela ist die Nummer 1 in Lateinamerika für den Gebrauch von Blackberrys. Aus Not? Wir erleben wegen des Mangels an einer seriösen Politik einen Wohnungsnotstand, aber nie wird es unterlassen, ein Verkaufszentrum zu bauen. Mit dem Wachstum des Kapitalismus wurden erneut seine grossen Laster und Miseren verankert: Korruption, Ineffizienz, Ausbeutung und Verbrechen, begleitet von einem trotz einiger Verbesserungsversuche widerlichen und dysfunktionalen Justizsystem. Wir leben nach wie vor hauptsächlich von Importen. ... Ich weiss nicht, wer gesagt hat, in Venezuela gäbe es Sozialismus. Wir haben das nie gedacht, unser Volk hat das klar, wir haben unsere Kämpfe stets als Teil des 'Aufbaus des Sozialismus' begriffen, wir sind in dieser Richtung unterwegs und wir wissen, dass noch sehr viel fehlt, aber sicher auch weniger als anderswo".


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 165, 15. März 2011, S. 22-23
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2011