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CORREOS/138: Nicaragua - Ein ruhiges Land


Correos des las Américas - Nr. 168, 23. November 2011

NICARAGUA
Ein ruhiges Land

Die Rechten, ihre Medien und ihre EU-Mission echauffieren sich über einem nicht erfolgten Wahlbetrug. Das gemeine Volk hat mehrheitlich seinen Sieg gefeiert und geht jetzt wieder seinen Alltagbelangen nach.

von Gérald Fioretta


(Matagalpa, 10.11.11) Heute früh hat der Oberste Wahlrat CSE auf seiner Homepage die Resultate der Auszählung von 98.7 Prozent der insgesamt 12.960 Wahltische im Land veröffentlicht. Die Resultate werden bis auf das Niveau der rund 4.000 Wahlzentren in den 153 Gemeinden der 17 Departemente herunter gebrochen. Für die Gemeinde Matagalpa etwa haben wir die Resultate der 71 urbanen und ländlichen Wahlzentren. Allerdings sind die Resultate (noch?) nicht für die 12.960 Wahltische (JRV, Juntas Receptoras de Votos) einzeln ausgewiesen.

Als alter Fan von Wahlstatistiken bin ich im Element; ich kann in aller Ruhe detaillierte Resultate mit solchen von früheren Wahlen vergleichen und den sandinistischen Sieg in Departementen, Gemeinden und Wahlzentren auskundschaften. In einem Land wie Nicaragua ist es nicht wenig, knappe vier Tage nach den Wahlen auf fast hundert Prozent der Resultate im Internet Zugriff zu haben. Dies bedeutet eine beachtliche institutionelle Kapazität und vor allem einen unglaublichen Effort der Wahlbehörden und der fiscales (ParteivertreterInnen in JRV und Gemeinde- und Departmentswahlräten), die Tag und Nacht im Einsatz sind, um die Wahlbulletins aus den entlegensten, manchmal nur zu Pferd oder unter Schutz der Armee erreichbaren Zonen zu transportieren, um die Stimmen erst auf Gemeinde-, danach auf Departements- und schliesslich auf nationaler Ebene auszuzählen und zu validieren.

Ich erwähne dies, weil es vermittelt, dass die Situation in Matagalpa und generell in Nicaragua ruhig ist. Das Volk, das zu 62 Prozent für Daniel Ortega und den FSLN, der problemlos eine parlamentarische Mehrheit erlangt, gestimmt hat, hat sich am Montag einen Tag der freudigen Siegesfeier gegönnt. Die Karawanen von Velos, Motos, PKWs und Camions aller Sorten sind während Stunden durch die Quartiere der Städte gefahren, zum Sound der von den besten Gruppen junger Nicas kreierten Lieder für die Wahlkampagne. Natürlich war die Freude immens, wenn auch nicht unverhofft. Dies aus zwei Gründen. Zum einen waren da die Umfragen. Sie haben alle, selbst die von den rechten Parteien und den grossen Zeitungen in Auftrag gegebenen, seit Monaten mehr als 50 Prozent für den FSLN ergeben. Zudem war der Gegner nicht in Form; mein Freund Orlando sagt, wir haben gegen ein schlechtes Team 6:0 gewonnen.

Schon am Dienstag ging alle Welt wieder zur Arbeit; die SchülerInnen und StudentInnen besuchten wieder die Schule oder die Universität, denn Anfang Dezember sind Ferien und vorher stehen die Jahresendprüfungen an. In Matagalpa hat gerade die Kaffeeernte angefangen und die BewohnerInnen aus den Armutsquartieren ohne feste Stelle ziehen auf die Kaffeehaciendas, um ihr Jahreseinkommen sicher zu stellen.

All dies kontrastiert stark mit dem Bild eines Wahlskandals, das die Oppositionsparteien, insbesondere der PLI-MRS, zeichnen wollen, unterstützt von den grossen Tageszeitungen «La Prensa» und «El Nuevo Diario», den bis aufs Blut gegen die Sandinistas eingestellten TV-Kanäle und einigen Wahlbeobachtungsmissionen wie jener der EU, die boshafte oder ambivalente Berichte zu den Wahlen vom 6. November publizieren. Um ihrer These eines wegen eines «grossen Wahlbetrugs» in Unruhe versetzten Landes willen rufen sie zur Strassenmobilisierung auf. Sie anerkennen die Resultate nicht an und fordern Neuwahlen. Aber abgesehen von einigen hundert AktivistInnen des PLI, die in Managua auf die Strasse gegangen sind, kann ihnen das Volk, das in seiner grossen Mehrheit für Präsident Ortega gestimmt hat, ihre absurde These nicht glauben. Es zeugt von grosser Reife und BürgerInnensinn, dass es nicht, was legitim gewesen wäre, energischer auf die vom VerliererInnencamp ausgehenden Gewaltakte in drei oder vier ländlichen Zonen wie Siuna oder Cusmapa reagiert hat. Dabei kamen vier Menschen um, 40 ZivilistInnen wurden verletzt und zehn PolizistInnen sind schwer verletzt. Zu diesen vereinzelten Gewaltakten kam es, als ParteigängerInnen des PLI versucht hatten, Wahlurnen zu verbrennen oder als sie auf Fahrzeuge, die Wahlunterlagen transportierten, Angriffe verübten.

Diese Reife konnte ich in Matagalpa auch am Wahlsonntag konstatieren. Beim Wahllokal Pancasán, in meinem Quartier, wie auch bei anderen Wahlzentren haben kleine, offenbar mit dem PLI verbundene Gruppen versucht, die Stimmenden mit Steinwürfen auf die Wahllokale einzuschüchtern. Aber rasch kamen organisierten QuartiersbewohnerInnen zur Verteidigung der Abstimmungslokale, aber ohne zu versuchen, ihre Überlegenheit für die Verfolgung der Angreifer auszunutzen.

Was die vielen Unregelmässigkeiten betrifft, die angeblich das Wahlresultat befleckt haben, war ich Zeuge, dass im Pancasán alles ruhig verlaufen ist, und zwar von 7h früh bis 6h Abend, bis und mit Auszählung. Der Zentrumsleiter, ein Sandinist, wurde sogar von FSLN-Mitgliedern zu Recht gewiesen, als er vorschlug, das Wahllokal eine halbe Stunde früher als vorgesehen zu schliessen, weil schon seit einiger Zeit niemand mehr zum Wählen kam. Ein familiärer BürgerInnensinn, den übrigens auch eine Mehrheit der oppositionellen WählerInnen teilte: Ich sah etwa einen Pandillero (Bandenmitglied) und einen Sprössling der lokalen Bourgeoisie am Arm ihrer behinderten Grossmütter, die sie sanft begleiteten, damit diese ihr Wahlrecht wahrnehmen konnten.

Ich bin nicht der Einzige, der einen ruhigen und normalen Wahlprozess bezeugen kann. Die 20.000 studentischen WahlbeobachterInnen der nationalen Universitäten, jene der sozialen Organisationen der Via Campesina, jene aus den Milieus der katholischen und evangelischen Kirchen, jene aus den lateinamerikanischen Ländern - sie alle haben die gleiche Atmosphäre konstatiert und ihre Berichte veröffentlicht, durchaus mit Hinweisen auf zu behebende Mängel im Wahlsystem, die aber alle das Volksvotum validiert haben.

Was also wollen die rechten Parteien, einige Organisationen der «Zivilgesellschaft», die von der Wahlbeobachtung leben, die Delegierten der EU?

Das Spiel ist vorbei. Das Land ist ruhig und an der Arbeit. Die Regierung hat am Mittwoch ihre Sozialprogramme wieder aufgenommen. Es gab auch, wie schon in der Wahlkampagne und anders als ich es erwartet habe, kein immenses nationales Siegesfest, nur eine symbolische Feier am 8. November, dem Tag, als FSLN-Gründer Carlos Fonseca im Kampf gefallen ist, an welcher der wiedergewählte Präsident ankündigte, dass er weiter soziale Reformen vorantreiben werde, stets mit dem Versuch, einen nationalen Konsens zu erzielen, und dass er die Beziehungen mit (dem bolivarischen Staatenbund) Alba für eine gerechtere und nachhaltige Entwicklung vertiefen wolle.

In einem Jahr wird es Gemeindewahlen geben. Es ist sehr zu vermuten, dass einer der ersten Schritte des neuen Parlaments darin bestehen wird, den zu komplizierten Wahlprozess zu reformieren, die Verteilung der Personalausweise zu verbessern und eine verstärkte Autonomie der Wahlbehörden zu erzielen. Und dies nicht nur, um der Opposition jeden Wind aus den Segeln zu nehmen, sondern weil das Volk stolz sein wird auf einen tadellosen Wahlprozess, der seinen Sieg nicht verdunkeln wird. Es bleibt abzuwarten, ob wir demnächst im Internet die Resultate der 12.960 Wahltische zu sehen bekommen. Ein gewagtes Unterfangen - Wird nur da und dort eine Zahl falsch eingegeben - etwa 231 statt 213 - werden die Rechten den Teufel an die Wand malen. Es erfordert eine Präzision, die von den anderen AkteurInnen Ehrlichkeit und Transparenz verlangt, von der nichts zu sehen ist.


(dd) Der Bericht der BeobachterInnenmission der EU vom 8. November, der auch Schweizer Delegierte angehörten, insinuiert einen Wahlbetrug. Reizend ist, dass die demokratische Belehrung just in dem Moment erfolgt, wo im alten Kontinent nicht mehr genehme «periphere» Regierungen durch «technische» Kader zwecks Forcierung des Sozialangriffs ersetzt werden. In Nicaragua stützt sich der Vorwurf der EU-Mission primär auf die angebliche Aushebelung des Rechts der rechten Oppositionsparteien, ihre fiscales an die Wahltische und in die kommunalen und departementalen Wahlbehörden zu entsenden. Das Euro-Team übernimmt damit willentlich die These der Rechten. Hier einige Richtigstellungen zum Thema vom Leiter der Radio La Primerísima.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 168, 23. November 2011, S. 5-6
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2011