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CORREOS/141: El Salvador - Eine andere Mentalität


Correos des las Américas - Nr. 168, 23. November 2011

EL SALVADOR
Eine andere Mentalität

Wer heute El Salvador sagt, denkt meist an Maras, Gewalt, Ohnmacht. Eine Realität, aber nicht die einzige. Delmi Dubón, eine leitende Ärztin im Gesundheitsministerium und ehemalige Guerillera, erzählt von Reformanstrengungen und wie sie einen Mentalitätswechsel auch bei ursprünglichen GegnerInnen der Veränderung bewirken. Eine neue Haltung, die bei den Überschwemmungen geholfen hat, Leben zu retten.

Dieter Drüssel interviewt Delmi Dubón


DIETER DRÜSSEL: Welche Funktion bekleidest du im Ministerium?

DELMI DUBÓN: Zurzeit bin ich die Direktorin für die Basisversorgung. Das betrifft 624 Gesundheitsposten im Land, die Teil sind der umfassenden Reform des Gesundheitssystems. In ihrer ersten Phase ist der Wandel auf der Ebene der Grundversorgung am deutlichsten sichtbar. Hier haben sich die ECOS, die equipos comunitarios de salud familar (kommunitäre Equipen für die Gesundheit der Familien), etabliert. Sie charakterisieren sich durch ihre Präsenz dort, wo die Leute leben. Das Prinzip ist also nicht mehr, dass du den Arzt oder die Krankenschwester suchst, sondern sie dich.

DIETER DRÜSSEL: Es sind interdisziplinäre Equipen?

DELMI DUBÓN: Ja, sie bestehen aus 7 Personen: Allgemeinarzt, Krankenschwestern, GesundheitspromotorInnen - die sind zentral, es sind Leute die in ihrem Einsatzgebiet wohnen und den Kontakt mit der Gemeinschaft haben - und, wichtig auch, Unterstützungspersonal. Wichtig nochmals: Diese Equipen leben in ihrem Arbeitsgebiet. Bis jetzt, ein Jahr nach der Gesundheitsreform, haben wir schon 408 ECOS. Dann gibt es auch auf diesem ersten Niveau spezialisierte Equipen und das ist ein wichtiger Fortschritt. Denn früher gab es dafür nur das Spital. Jetzt haben wir Gynäkologen, Kinderärzte, Internisten, Psychologen etc. Wir haben landesweit 28 solche Gruppen in strategischen Zonen und wir schaffen laufend neue. Damit ist der Zugang der Bevölkerung zur Gesundheitsversorgung stark verbessert worden. Gleichzeitig werden die Kosten reduziert. Ein Campesino aus Nuevo Edén San Juan im Department Cabañas sagte mir kürzlich: «Wenn ich krank wurde, hätte ich neun Flüsse überqueren und vier Stunden gehen müssen. Jetzt hat mich zum ersten Mal ein Arzt untersucht. Er lebt in meiner Comunidad.»

Früher starben zum Beispiel viele Frauen beim Gebären, das war normal. Heute nicht mehr, dank dieser ECOS. Der Plan ist, ihre Zahl jedes Jahr auszuweiten.

DIETER DRÜSSEL: Wer arbeitet da mit?

DELMI DUBÓN: Einerseits Personal, das schon unter früheren Regierungen angestellt war. Aber wir unternehmen auch viele Anstrengungen, neue Ressourcen zu erhalten. Die Leute, die schon lange im Ministerium arbeiten, sagen, dass sie das noch nie gesehen haben. Wir haben im Gesundheitsministerium mehr als 3.500 Leute neu angestellt - Ärzte, KrankenpflegerInnen, spezialisierte PromotorInnen - um den Reformprozess voranzubringen. Aber wie gesagt, wir arbeiten auch mit vielen alten Angestellten für den Reformprozess. Wir haben sehr viel Gewicht auf die Notwendigkeit gelegt, dass sich das Personal tatsächlich für die Gesundheit der bedürftigsten Bevölkerung einsetzt. Und für Wechsel im Modell. Man hat sich früher auf die Behandlung konzentriert - sie setzte ein, wenn du schon sehr krank warst - jetzt haben wir ein anderes Modell: Die Hauptanstrengung liegt im Präventionsbereich, in der Gesundheitsaufklärung, in den Besuchen der Häuser, um die sanitären und hygienischen Bedingungen abzuklären.

DIETER DRÜSSEL: Und wie steht es mit den Spitälern?

DELMI DUBÓN: Hier ist die Situation etwas komplizierter. Aber wir haben den Reformprozess in 6 Spitälern schon angefangen. Nächstes Jahr werden 12 weitere involviert - das Land hat insgesamt 30 Spitäler. Hier betrifft die Reform sowohl die Infrastruktur, die Ausstattung, wie auch eine veränderte Mentalität des Personals. Das ist zentral. Im Land haben wir klar eine historische Schuld: das Verhalten gegenüber den PatientInnen zu verbessern. Insbesondere in den Spitälern. Also wie gesagt, in den Spitälern fängt der Reformprozess an, da ist es etwas harziger als bei den ECOS, wo die Leute offener sind. In den Spitälern kann es Spezialisten geben, die vielleicht etwas blockieren. Aber wir sehen, dass dort, wo wir angefangen haben, es besser wird. Die Leute fangen an, sich zu beteiligen, auch solche, die anfangs Widerstand geleistet haben, machen heute eher mit. Wir konnten das jetzt beim Überschwemmungsnotstand sehen, dass viele, die schon lange im Ministerium arbeiten, sich heute eingegliedert haben, in die Schichten, die Betreuung von Notlagern ... das hat es bei den letzten Notständen noch nicht so gegeben.

DIETER DRÜSSEL: Wir kommen gleich zum Thema Notstand, aber vorher noch eine Frage zur Reform. Geht es da nicht auch um eine Dezentralisierung weg von San Salvador?

DELMI DUBÓN: Klar. Wir haben im Land 30 Spitäler, je eines in den 14 Departementen, 11 in grossen Gemeinden und drei nationale in San Salvador, das Allgemeinspital Rosales, das Kinderspital Bloom und die Maternidad.

Die Departementspitäler haben wir beim Regierungsantritt völlig ausgehöhlt vorgefunden, ohne Basisausrüstung, ohne Kapazitäten ... Das bedeutete, sie konnten kaum eine Behandlung übernehmen. Alle Kranken kamen nach San Salvador. Jetzt machen wir das Gegenteil: Wir stärken die Spitäler ausserhalb der Hauptstadt, damit sie im Stande sind, Probleme wie Blinddarm, Geburten, einfachere Operationen selber zu bewältigen, so dass die Leute im Department bleiben können und nicht in die Hauptstadt kommen müssen. Dieser Prozess hat jetzt angefangen, wird sich aber 2012 verstärken, um das Rosales zu entlasten. Das ist das grösste Spital im Land und stets herrscht dort Betrieb wie an einer Messe. Stets ist es überfüllt, PatientInnen können manchmal kaum mehr aufgenommen werden.

Zu diesem Prozess gehört auch der Neubau der Maternidad. Wir mussten einen neuen Kredit von über $40 Mio. aufnehmen, da der erste von $29 Mio. nach den Erdbeben von 2001 «verschwand».

DIETER DRÜSSEL: Die damalige Regierung stahl ihn...

DELMI DUBÓN: Ja, das Geld war weg, keine Maternidad gebaut ... Im Moment läuft das Ausschreibungsverfahren, an dem sich 30 Unternehmen beteiligen. Wir wollen das so schnell wie möglich bauen, ein modernes, gut eingerichtetes Spital, das auch eine grosse Abteilung für Neugeborene hat. Denn die bestehende ist auch mehr als ausgelastet.

Wir sind auch daran, dass die Departementsspitäler im 24-Stunden-Turnus geöffnet sind. Bisher haben sie für ambulante Behandlung nur vier Stunden offen.

Und noch was: Die Dienstleistungen stellen nur einen der verschiedenen Bereiche der Reform dar. Wichtig ist etwa auch der Kampf für die Reform der Medikamenten- und Impfgesetze. Diese beiden Gesetze werden im Parlament von der Rechten immer noch blockiert. Dann gibt es die Reform der Ressourcen...

DIETER DRÜSSEL: Wie ist das mit dem Medikamentengesetz? Wir haben vor einem Jahr ein Interview mit Tomás Chávez dazu gebracht. Da hat sich nichts bewegt?

DELMI DUBÓN: Leider. Da geht es um handfeste Interessen. Heute obliegt es dem Consejo Superior de Salud Pública, in dem die Vertreter des Pharmasektors das Sagen haben, die Zulassung und die Qualitätskontrolle der Medikamente. Eine Preisregulierung gibt es ohnehin nicht, weswegen wir exorbitante Preise haben. Kernpunkt des Gesetzes ist, dass die Regulierung des Medikamentenmarktes und die Zulassung und Kontrolle der Medikamente dem Gesundheitsministerium übertragen werden soll. Seit neun Monaten hat sich die Diskussion da festgebissen. Die Rechte will keine Zugeständnisse machen.

DIETER DRÜSSEL: Die Hoffnung wäre also eine Stärkung des FMLN in den Parlamentswahlen vom nächsten März?

DELMI DUBÓN: Sonst läuft gar nichts.

DIETER DRÜSSEL: Zum Notstand. Es ist der dritte, nicht wahr, seit dem Regierungsantritt im Juni 2009?

DELMI DUBÓN: Der vierte. Zuvor hatten wir die Wirbelstürme Ida, Agatha und auch den etwas kleineren Alex. Zusätzlich hatten wir unter der jetzigen Regierung eine Dengueepidemie. Wir haben dieses Mal wirklich eine wichtige Änderung im Verhalten der Ministeriumsangestellten gesehen, zugunsten der Bevölkerung. Es geht ja nicht darum, der Ministerin was zuliebe zu tun. Sobald der nationale Notstand ausgerufen wird, tritt automatisch eine Notplanung mit Extraeinsätzen in Kraft. Dieses Mal gab es eine grosse Bereitschaft dazu, auch Personal aus den nicht betroffenen Departementen half in den betroffenen Gegenden aktiv mit. Wir können sagen, es gab eine sehr gute Bereitschaft, Mitarbeit und Solidarität, die nötig war, weil wir im ersten Moment von der Situation fast überwältigt waren. Das gleiche gilt auch für die Zusammenarbeit mit anderen Regierungsinstanzen.

DIETER DRÜSSEL: Kann man also sagen, dass sich das Notstandsystem seit 2009 verbessert hat...?

DELMI DUBÓN: Oh ja. Nur als Beispiel: Beim Wirbelsturm 2009 hatten wir nicht ein Informationssystem, sondern deren 42 und die Ämter koordinierten ihre Daten kaum. Heute ist das anders. Automatisch werden die Angaben und auch die Ressourcen geteilt. Zum Beispiel hat die Sozialversicherung ihre Spitäler sofort für jedes Publikum geöffnet. [A.d.R.: In der Sozialversicherung ist nur die Minderheit der Haushalte versichert, die über ein regelmässiges Einkommen aus dem formellen Sektor verfügt.] Ähnliches gibt es in anderen Bereichen. Kurz, die Antwort des Ministeriums war viel besser als früher, und zwar wegen der gesammelten Erfahrungen der letzten Male, der Bereitschaft der Angestellten und wegen der anderen Instanzen, die mitgearbeitet haben. Andere Male mussten wir sie um alles bitten, dieses Mal lief vieles freiwillig.

DIETER DRÜSSEL: Also, die Leute in den Apparaten haben sich daran gewöhnt, etwas beizutragen?

DELMI DUBÓN: Etwas beizutragen und vor allem, den Leuten zu helfen, die etwas brauchen. Das ist sehr positiv.

DIETER DRÜSSEL: Das ist tatsächlich bemerkenswert!

DELMI DUBÓN: Allerdings! Ein wichtiger Wechsel, und ich denke, der Reformprozess hat dazu beigetragen. Die ECOS haben sich sofort mobilisiert, im Terrain selbst, und die Mentalität ist eine andere geworden.

DIETER DRÜSSEL: Grossartig! Wie sieht es über das Ministerium hinaus aus?

DELMI DUBÓN: Wir haben jetzt in den Gemeinden die Zivilschutzkomitees, bei denen der Direktor oder die Direktorin des Gesundheitspostens des Ministeriums Mitglied ist. Und wo es ein solches Komitee nicht gibt, etwa weil der Bürgermeister nicht will - es gibt alles! - muss das Gesundheitsministerium eine interdisziplinäre Notfallkommission selber organisieren Nun, jetzt bei den Überschwemmungen, haben sich alle Gemeinden aktiviert. Das ist natürlich von unschätzbarem Vorteil, dass wir im Akutfall schon organisierte Strukturen haben. In den organisierten Comunidades hat man die Veränderung gesehen: Da gab es keine Toten. Es gab Tote, wegen Erdrutschen, weil sich die Leute nicht evakuieren lassen wollten, aber es waren sehr viel weniger als sonst. Wenn man sich die Landkarte anschaut, ist klar: Wo es organisierte Comunidades gibt, wo Notlager schon fest vorbereitet waren, wo Komitees, Kommissionen existierten, wo es, wie im Gebiet des unteren Lempaflusses, Radiowarndienste organisiert und Pläne für kollektive Evakuierungen der Gemeinschaften gab, da starb niemand.

DIETER DRÜSSEL: Und das in extrem gefährdeten Zonen!

DELMI DUBÓN: Oh ja. Im Bajo Lempa hätte es hunderte von Toten geben können. Doch zum Glück gibt es hier organisierte Comunidades, wie auch sonst in El Salvador mit seiner Organisationstradition. Und ein anderes Element war sehr positiv bei diesem Notstand: die Solidarität der Leute, die etwa Nahrung spendeten. Zum Beispiel unsere Comunidades von Ex-Guerillas, allesamt arm, aber alle haben sie Lastwagen mit Nahrung und was immer sie teilen konnten, mitgebracht; die aus dem Department Morazán nach Usulután, die aus Chalate nach La Libertad.

DIETER DRÜSSEL: Der stille Heroismus der Leute...

DELMI DUBÓN: Ja. Der ja oft nicht anerkannt wird.


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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 168, 23. November 2011, S. 12-13
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. Dezember 2011