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CORREOS/185: Venezuela - der Konterangriff


Correos des las Américas - Nr. 177, 28. April 2014

Venezuela - der Konterangriff

von Dieter Drüssel



Im Februar gingen viele Bilder um die Welt, die die Unterdrückung friedlicher DemokratInnen in Venezuela illustrieren sollten. Es kam zu einem anhaltenden medialen Aufschrei - allein, die «träfsten» Bilder stammten nicht aus Venezuela, sondern etwa aus Chile oder Spanien. Linke Medien in Lateinamerika hatten das detailliert belegt. Die Medien des Imperiums, auch in der Schweiz, ignorieren das, sie heulen dafür wegen der «paramilitärischen» Gruppen des "Regimes" auf! Sie, die während Jahren das dokumentierte, gezielte Einsickern der kolumbianischen Paramilitärs ins Land nie mitbekommen haben, nicht ihre Morde an LandarbeiterInnen, nicht ihre langsame Kontrolle der Strassenkriminalität, nicht ihre Verhaftung im Rahmen von Mordplänen an Chávez, nicht ihren zunehmenden Einfluss in den an Kolumbien angrenzenden Regionen! Diese gleichen Medien sehen heute Paramilitärs in Venezuela zuhauf. Marco Terrugi berichtet in diesem Heft über diese angeblichen Paramilitärs, die real soziale und politische, teilweise militante Basisorganisationen sind. Dario Azzellini analysiert die Strategie zur realen Paramilitarisierung Venezuelas, als möglichem Auftakt zu dem, was schon lange zu befürchten war: einem Zermürbungskrieg wie gegen das sandinistische Nicaragua der 80er Jahre. Die gleiche Presse, die sich wegen der «chavistischen Paras», so empört, singt das Hohelied auf die Demokratiefortschritte in Kolumbien, wo sich der paramilitärische Terror in diesen Monaten ausbreitet, und im Verbund mit den Sicherheitskräften die Kontrolle über immer mehr Gebiete in Bogotá und anderen Städten übernimmt, samt casas de pique (Hackhäusern), wo die Opfer lebendig zerstückelt werden. Gerade veröffentlichte die Comisión Colombiana de Juristas, dass allein letztes Jahr 78 MenschenrechtsverteidigerInnen ermordet worden sind. Wo? Ah, in Kolumbien, nicht in Venezuela - kein Grund zur Aufregung.

Ein Mechanismus der Gehirnwäsche im Falle von Venezuela sei erwähnt, er ist auch für «unsere» Medien relevant. Anfang März gaben drei lateinamerikanische Organisationen von HerausgeberInnen grosser Printmedien - Andiarios (Kolumbien) und die lateinamerikaweiten Grupo de Diarios de América und Periódicos Asociados Latinoamericanos - bekannt, gemeinsam unter dem Motto «Todos somos Venezuela - Wir alle sind Venezuela» zum Land zu berichten. Unsere Recherchierasse in San José, Mexiko-Stadt oder S&atidle;o Paulo lesen also, oh schöner Wahrheitsbeweis, das Gleiche, egal, welches Leibblatt in welchem Land des Kontinents sie gerade aufschlagen. Dieser Einheitsbrei bezieht seine Ingredienzen aus den rechten Medien Venezuelas, also den Sprachrohren jener Umsturzkräfte, die von den USA finanziert werden, auch wenn dies «unseren» Recherchierkräften gegen Lateinamerika Ausbund «chavistischer Verschwörungsphantasien» ist. Man verstehe sie, woher sollten sie sich auch die Zeit nehmen und etwa ein von Wikileaks publiziertes Kabel der US-Botschaft in Caracas vom 27. August 2009 lesen, in dem der für die Unterwanderung in Venezuela zuständige US-Funktionär bezüglich gerade aktueller Strassentumulte sagt: «Die Strassen sind heiss» und «alle diese [die Tumulte organisierenden] Leute sind unsere Stipendiaten». (Für weitere Angaben zur US-Subversion s. Dan Beeton, 4.4.14, cepr.net: USAID Subversion in Latin America Not Limited to Cuba).

Von den 41 bis 14. April Ermordeten gehen mutmasslich «nur» 6 auf das Konto der Sicherheitskräfte, von denen etliche Mitglieder in Untersuchungshaft sitzen. 10 Menschen starben, als sie Barrikaden zu passieren suchten oder wurden erschossen, als sie versuchten, Barrikaden abzuräumen. 6 Menschen starben als Opfer von Barrikaden oder von Fallen bei Barrikaden (auf Höhe von Motorradfahrenden gespannte Stachel- oder Nylondrähte u. ä.). 11 Leute wurden in verschiedenen Zusammenhängen ermordet, Oppositionelle und Chavistas, bei Barrikaden wurden 2 Oppositionelle überfahren und eine Frau von einem Motorradfahrer erschossen. 3 Rechtsaktivisten verunfallten tödlich (einer fiel nachgewiesenermassen vom Dach, von dem aus er die Polizei angreifen wollte, ein zweiter starb beim Abmontieren einer Leuchtreklame an einem Stromstoss, der dritte beim Abschiessen eines selbst gebastelten Mörsers). Ein Mann starb bei der Plünderung eines Supermarktes aus noch unklaren Gründen (Quelle: Alba Ciudad, 15.4.14: Conozca los 41 fallecidos por las protestas violentas opositoras en Venezuela). Kurz: es gibt wesentlich mehr Opfer auf Seiten des chavistischen Lagers und der Polizei als bei der Opposition. Wie bringt das am 10. April ein NZZler auf den Punkt? So: «Die Regierung geht mit Härte gegen die Demonstranten vor. Berichte von Polizeiwillkür und Folter von Gefangenen häufen sich. Viele der Todesopfer gehen auf das Konto der regierungstreuen Milizen, der sogenannten 'colectivos'

Die UNEFA ist die grösste Uni in Venezuela und bildet, obwohl den Streitkräften gehörend, über 200.000 zivile StudentInnen in unterschiedlichen Fächern aus. Am 18. März 2014 wurde ihre Filiale in San Cristóbal im Staat Táchira von den «Protestierenden» eingenommen und zerstört. Dekan Vilmer Morón sagte: «Sie beschädigten die Trägerstruktur, die Bibliothek, das Sekretariat, wo die Akten der StudentInnen sind, die Archive, Labors, technologischen Apparate, Computer, das Dekanat; sie haben alles zerstört, wir stehen am Nullpunkt». Táchira grenzt an Kolumbien und weist eine hohe Dichte von dortigen Paramilitärs und ihren venezolanischen Schülern auf. Präsident Nicolás Maduro dazu: «Wir übertreiben nicht, sie haben nicht nur die UNEFA von San Cristóbal niedergebrannt, sie haben in 15 Universitäten oder Campuseinrichtungen im Land Brände gelegt ... Es ist unglaublich, niemals in der Geschichte von Venezuela hat irgendein politischer Sektor sich getraut, eine Universität niederzubrennen, um sie zu zerstören, niemals ... Führen Sie sich das Geschehen vor Augen, sie brennen eine Universität nieder und die Massenmedien und die Bourgeoisie bleiben still, zensurieren die Wahrheit». In der westlichen Departementshauptstadt Mérida wehrten sich am 22. März «Oppositionelle» gegen den Abbau einer Barrikade, verletzten Polizisten und töteten einen Arbeiter der staatlichen Telekom-Anstalt CANTV. Mit Projektilen und Gewehrschüssen von einem Gebäudedach herunter, wie das lokale kommunitäre Tatuy TV in einem anderthalb-minütigen Video festhalten konnte. Der nationale Abgeordnete Julio Chávez zeigte am 2. April 2014 in Venezolana de Televisión Belege für einen Angriff auf kubanische Ärzte in der Stadt Barquisimeto, die in ihren Wohnungen mit Brandbomben angegriffen wurden und kommentierte: «Sie haben sich wie durch ein Wunder retten können, obwohl man die Ausgänge versperrt hat». Er legte «oppositionelle» Todeslisten von Chavistas vor und Fotos von mit einem «X» und einem «S.O.S.» markierten Wohnungen von Chavistas. Der Parlamentarier meinte: «Die gleiche Praxis, wie sie eine Zeit lang in Kolumbien gebräuchlich war und in Táchira.» Am 4. April 2014 wurde der bolivarische Student William Muñoz von einer Gruppe «Oppositioneller», die die grosse Uni UCV in Caracas gerade schliessen wollte, mit Benzin übergossen. Nur dank des beherzten Einsatzes der Uni-Feuerwehr und einiger besonnener Rechter wurde er nicht bei lebendigem Leib verbrannt. Am 15. April erlitt der Chef einer SanitäterInnengruppe lebensgefährliche Verletzungen am aufgeschnittenen Hals, als er mit dem Motorrad aus einem Tunnel am Rande von Caracas fuhr - in eine «oppositionelle» Nylondrahtfalle. Das sind, leider, nur wenige Beispiele von extremer Gewalt der Rechten in diesen Tagen. Sie zeigen, was systematisch verheimlicht wird.

Dazu gehören auch Momente wie die Verhaftung von zwei lokalen Kadern der im erwähnten NZZ-Artikel als verfolgte «Oppositionspartei Voluntad Popular» zitierten Faschoorganisation im Bundesstaat Aragua am 1. April 2014, die bei der Inbrandsetzung des Gemeindehauses von Girardot eine führende Rolle gespielt haben. Bei ihnen wurden 100 Tonnen Sprengstoff entdeckt. In den folgenden Tagen wurden mehrere international ausgeschriebene Drogenhändler und Mitglieder kolumbianischer paramilitärischer Organisationen beim Barrikadenkampf verhaftet. Am 2. April wurden die Gebrüder Richard und Chamel Akl im reichen Osten von Caracas verhaftet, als sie eine Polizeistation abfackelten und einem Polizisten gefährliche Schusswunden zufügten. Sie sind Besitzer eines Sicherheitsunternehmens, das in Venezuela für Risks Incorporated operiert. Risks Inc. ist ein auf «anti»-terroristisches Sicherheitsmanagement spezialisiertes Söldnerunternehmen mit Sitz in Miami. Es kam 2008 in die Schlagzeilen, als Videos mit Folterkursen auftauchten, die Risk Inc. im Auftrag der mexikanischen Regierung der Polizei des mexikanischen Bundesstaates Guanajuato gab. In Haiti trainierten sie Polizeikräfte von Delmas (Vorstadt von Port-au-Prince) für brutale Räumungsaktionen von Zeltlagern von Erdbebenopfer (zu googlen bei der mexikanischen Zeitung El Universal und narconews.com).

Dario Azzellini bringt die Entwicklung der sich notfalls zum Krieg steigernden Paramilitarisierung und Zermürbungsstrategie auf den Punkt. Sie ist, wie Jorge Orovitz in diesem Heft darlegt, die Sperrspitze eines Konterangriffs auf alle Emanzipationsbewegungen im Südkontinent. Der in diesem Heft beschriebene Versuch, «venezolanische Zustände» in El Salvador zu schaffen, ist eine eindringliche Warnung.

Die verlogene Erklärung der Vorgänge mit der angeblichen Hunger- und Mangelsituation übersieht konsequent, dass die Destabilisierungsaktionen fast auschliesslich in Grenzregionen zu Kolumbien (Paras) und in «gehobenen» Wohnvierteln einiger Städte stattfinden, nie in Unterklassenbezirken, die ruhig bleiben. Teilweise sind die Angaben zu einem angeblich bevorstehenden Kollaps der venezolanischen Wirtschaft schlicht absurd, auch wenn sie sich auf die tatsächlich sehr hohe Inflation von 56 % letztes Jahr stützen, übrigens immer noch weit tiefer als vor dem Regierungsantritt von Chávez. Während auch viele linke ÖkonomInnen (wie Mark Weisbrot und Orovitz oder auch Ronald Muñoz in diesem Heft) mit rechten AnalytikerInnen in de Fordrung nach einer jetzt mit neuen Devisenbewirtschaftungsmechanismen tatsächlich verstärkten Währungsabwertung kreisen, gibt es in Venezuela auch Stimmen, die in der Abwertung eine verkappte Teilrückführung der Ölrente an die über Dollarguthaben verfügenden Kapitalgruppen sehen. Denn die legten mit der Abwertung an Wert zu, während die Unterklassen tendenziell an Kaufkraft verlören. (Es ist anzumerken, dass trotz Inflation und Abwertung letztes Jahr die reale Kaufkraft der Löhne um 3 Prozent gestiegen ist.) Diese Ängste kreisen um die von der Regierung Maduro angestossenen «Friedenskonferenzen», erst mit Kapitalgruppen, jetzt unter Vermittlung der südamerikanischen Staatengemeinschaft UNASUR mit den teilnahmewilligen Teilen der rechten Parteien. Während die einen darin eine reale Spaltung der Rechten begrüssen, interpretieren andere, dass der faschistische Flügel die Regierung in die Arme einer angeblich gemässigten Rechten treibe, der es wie den Ultras um die Wiederaneignung der Ölrente, das Kippen enorm wichtiger Fortschritte wie dem neuen Arbeitsrecht und dem Verhindern einer Vertiefung des Umbruchs gehe. Wie immer, das sind andere Fragestellungen als die, die uns die Einheitsmedien des Imperiums einbläuen wollen.

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Quelle:
Correos de Centroamérica Nr. 177, 28. April 2014, S. 3-4
Herausgeber: Zentralamerika-Sekretariat, Zürich
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2014