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DAS BLÄTTCHEN/1001: Nicht erst 1939


Das Blättchen - Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
Nr. 20/2009 - 28. September 2009

Nicht erst 1939

Von Wolfram Adolphi


Im Januar 1938 gibt der aus Deutschland vertriebene Romancier Klaus Mann in einem Artikel mit der Überschrift "Stimmungen in den USA" den Standpunkt einer "gescheiten Amerikanerin" in der Kriegsfrage wieder. "Als ob die Faschisten nicht schon längst begonnen hätten mit dem Kriege in Abessinien, in Spanien, in China!", meint die junge Frau, und weiter: "Als ob wir nicht schon mitten in einem allmählich sich ausbreitenden Weltkrieg uns befänden!"

Ja, von Weltkrieg ist die Rede. Im Januar 1938. Mehr als anderthalb Jahre vor dem 1. September 1939, der heute gemeinhin als Weltkriegsbeginn gilt. Damals, 1938, wird der Standpunkt der "gescheiten Amerikanerin" vielerorts geteilt. In China hat Oberbefehlshaber Tschiang Kaischek schon am 22. September 1931 im Angesicht der Okkupation der Mandschurei in seinem Tagebuch notiert: "Mit der japanischen Aggression in China hat der Zweite Weltkrieg begonnen. Ich frage mich, ob die Staatsmänner der Welt sich dessen bewußt sind." Als am 26. April 1945 die Außenminister der Staaten der Anti-Hitler-Koalition in San Francisco zur Gründungskonferenz der UNO zusammentreten, wird Tschiangs Außenminister Song Ziwen (T. V. Soong) diese Sicht auf die Dinge bekräftigen. China, erklärt er, sei sich der Notwendigkeit, den Erfolg dieser Konferenz zu gewährleisten, in ganz besonderem Maße bewußt, weil "ein zweiter Weltkrieg begann, als Japan 1931 in der Mandschurei einfiel".

In Europa findet diese Sichtweise bis heute kaum Widerhall. Ja, mehr noch: Ihre Chancen, verstanden zu werden, scheinen immer weiter zu schwinden. Das ist angesichts allgegenwärtiger Globalisierungsbeschwörung durchaus erstaunlich. Müßten nicht auch beim Blick in die Geschichte die globalen, die weltweiten Zusammenhänge neu bedacht werden?

Betrachtet man die Vorgänge um den 1. September 2009, den siebzigsten Jahrestag des Überfalls des faschistischen Deutschlands auf Polen, etwas genauer, verstärkt sich allerdings der Verdacht, daß die Dinge sehr gezielt in die genau entgegengesetzte Richtung gelenkt werden: weg von den weltweiten Zusammenhängen hin aufs ausschließlich Europäische - und weg auch von der vieljährigen Vorgeschichte hin auf genau diesen einen Tag.

Man traf sich an diesem 1. September in Polen - das ist ja völlig richtig -, und Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach Bemerkenswertes über deutsche Schuld und Verantwortung. Zugleich ereignete sich in den Medien des Meinungshauptstroms bedenklich Relativierendes. Nicht nur über die deutsche Schuld sei zu reden, hieß es immer wieder, sondern auch über die sowjetische, denn klipp und klar liege ja nun seit dem Untergang der Sowjetunion auf der Hand, daß Stalin die gleiche Verantwortung für den Untergang Polens trage wie Hitler und somit für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gleich mit. Der Pakt, den die beiden Diktatoren am 23. August 1939 geschlossen hatten, lasse an all dem keinen Zweifel mehr.

Nun ist die Schuld, die die Sowjetunion mit der Besetzung des östlichen Teils Polens im September 1939 und den sich anschließenden Gewaltorgien, unter anderem gegen polnische Offiziere, auf sich geladen hat, durch nichts hinwegzureden. Und an der verheerenden Wirkung des Hitler-Stalin-Paktes für den weltweiten Kampf gegen den Faschismus gibt es keinen Zweifel mehr.

Aber wer diese Vorgänge als Element einer Abminderung deutscher Schuld und Verantwortung ins Feld zu führen versucht, betreibt Geschichtsrevisionismus. Die Vorgänge, von denen Klaus Manns "gescheite Amerikanerin" Anfang 1938 sprach, und die Äußerungen Tschiang Kaischeks und Song Ziwens sind wie so vieles andere unmißverständliches Zeugnis der Aggressivität und Kriegstreiberei des deutschen Faschismus und des japanischen Militarismus von deren Anfängen an. Von einer ähnlichen Kriegstreiberei der Sowjetunion hingegen ist nichts bekannt.

Der Anti-Komintern-Pakt, den Deutschland am 25. November 1936 mit Japan schloß, war die Bildung einer Achse Berlin-Tokio mit dem unverhohlenen Ziel, die Sowjetunion in den Zangengriff eines Zweifrontenkrieges zu nehmen. Die Unterwerfung Chinas war für Japan ein Schritt auf dem Wege dorthin, und Deutschland half Japan dabei. Die Westmächte blieben untätig, wie sie schon bei der Okkupation der Mandschurei durch Japan im September 1931 untätig geblieben waren, und sie blieben auch untätig bei der umfassenden Aggression Japans gegen China, die am 7. Juli 1937 begann, und bei den beiden japanischen Angriffen auf die Sowjetunion 1938 am Chassan-See und 1939 am Chalchin-Gol. Die Sowjetunion hingegen war das einzige Land, das sich mit dem überfallenen China solidarisierte: Am 21. August 1937 schloß sie einen Nichtangriffspakt mit Tschiang Kaischek. Und niemand wird ernsthaft bestreiten können, daß die Sowjetunion in Europa ein System der kollektiven Sicherheit gegen die faschistische Gefahr herzustellen bemüht war, das nicht zuletzt an den britisch-französischen Anstrengungen zur "Beschwichtigung" Hitlers, wie sie im Münchner Abkommen von 1938 ihren Höhepunkt fanden, scheiterte.

Es mag vom Zeitgeist her stimmig sein, diese Vorgeschichte auszublenden. Es hat ja durchaus Verlockendes, dann auch nicht mehr über die deutsche Industrie reden zu müssen - die I. G. Farben etwa -, in der es Expansionspläne gab, die denen der Politik und des Militärs in nichts nachstanden. Der Wahrheitsfindung jedoch ist dieser Revisionismus abträglich. Und der Aufklärung als Voraussetzung dafür, den Krieg überhaupt zu ächten, allemal.


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Quelle:
Das Blättchen, Nr. 20, 12. Jg., 28. September 2009, S. 5-7
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Oktober 2009