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DAS BLÄTTCHEN/1036: Was wissen wir wirklich?


Das Blättchen - Nr. 13 vom 5. Juli 2010
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft

Was wissen wir wirklich?

Von Erhard Crome


Die bürgerlichen Medien titelten nach der Wahl des Wulff zum Bundespräsidenten im dritten Wahlgang fast einhellig: "Die dritte Wahl". Ja, es war der dritte Wahlgang. Bei Gustav Heinemann und Roman Herzog war es auch so. Aber niemand kam auf die Idee, sie "dritte Wahl" zu nennen. Sie waren dann ja auch Bundespräsidenten, die diesem Lande gut zu Gesicht standen. Hier ist gemeint: Wulff ist dritte Wahl, der blasse Provinzpolitiker, der außer einer blonden zweiten Frau nichts vorzuweisen hat, was ihn von anderen CDU-Berufspolitikern der zweiten Reihe wie Koch, Müller oder dem gerade abgewählten Rüttgers unterscheidet. Aber was wissen wir denn, wenn wir das wissen? Angela Merkel wollte in den schwieriger werdenden Zeiten offenbar eine "sichere Bank" im Schloß Bellevue, einen Präsidenten, der auf sie hört und der sie mit der Regierungsbildung wieder beauftragt, wenn diese unselige schwarz-gelbe Regierung auseinandergeflogen ist. Und das, obwohl Gauck sicherlich noch besser zu ihr gepaßt hätte, nur: der war von der falschen Seite aufgestellt worden.

Aber wollten die Medien uns dies sagen oder eher verheimlichen hinter einer Flut geschwätzigen Nichtssagens? Dagegen meinten andere, die Wahl zwischen Wulff und Gauck sei eine Wahl "zwischen Pest und Cholera" gewesen. Das war in Blogs schon zu lesen, bevor es ein linker Politiker in ein Mikrophon sprach. Gerade kam die Meldung, daß über fünfzig Prozent der jüngeren US-Amerikaner ihre Informationen ausschließlich aus dem Internet ziehen. Die Propheten der angeblich so freien und angeblich von Staat und großem Kapital freien neuen elektronischen Medien behaupten, dies sei die Zukunft und die "Holzmedien" - sprich: die gedruckten - hätten keine mehr. Aber hält das einer Prüfung stand? Auf der einen Seite behaupten die Verfechter von Wikipedia, sie hätten keine höhere Fehlerquote als die Encyclopaedia Britannica. Andererseits ist im universitären Bereich Wikipedia als Quelle wissenschaftlicher Arbeit untersagt - es kann ja jeder reinschreiben, was er aus dieser Quelle zitiert haben möchte und sich auf einen Abruf am Tage X berufen, auch wenn das dort am nächsten Tag bereits nicht mehr steht. Daß ein Witzbold in der Nacht nach der Erst-Berufung von Herrn zu Guttenberg zum Minister dem dort noch einen zusätzlichen Vornamen andichtete, was anschließend zig Zeitungen zitierten, war ein Beispiel dafür, wie das funktioniert.

Aber es wird Folgen für die Kultur und den Diskurs im öffentlichen Raum zeitigen, wenn die Leute keine Zeitungen mehr lesen und dann auch die redaktionell, journalistisch oder künstlerisch bearbeiteten Sendungen im Fernsehen nicht mehr sehen, weil sie sich nur noch etwas aus dem Netz holen. Man mag den Standpunkt vieler großer Zeitungen, ihre schwarze Brille, durch die sie die Welt betrachten, nicht mögen. Dahinter stehen aber Journalisten, die einem journalistischen Berufsverständnis folgen, was heißt: nach bestem Wissen und Gewissen zu recherchieren und erst dann zu schreiben. Das gilt für die großen Zeitungen. Bereits beim "Boulevard" ist das anders; daß die "Bild"-Zeitung in erheblichem Maße selbst-erfundene Nachrichten verbreitet, hatten kundige Kritiker bereits vor über dreißig Jahren herausgefunden und belegt. Noch schlimmer wird es dann, wenn in den "Blogs" selbst sonst seriöser Zeitungen sich die real-existierende Unbildungs-Bevölkerung äußert. Da hagelt es dann vor Dummheit und Wahrheit und Lüge, Information, Schein-Informiertheit und Ressentiment wabern als Meinen unreflektiert nebeneinander hin. Vornehmlich artikuliert sich dort eine Spezies von besserwissenden Exhibitionisten.

Das vollzieht sich jetzt auch in der Kunst. Die modernen und post-modernen Maler und Dramatiker wollten im 20. Jahrhundert mit Eifer die alten Regeln außer Kraft setzen. Das Ergebnis waren dann das Zerschlagen der Dramatik des "Illusionstheaters", das aus der Klassik und dem Zeitalter der Vernunft stammt, schließlich das Onanieren auf der Bühne, die Wiedereinführung des "Hans-Wurst-Theaters" und das Aufführen auch klassischer Opern in Lumpen. Das Bildungsbürgertum wird verschreckt und die anderen gehen trotzdem nicht ins Theater; dann kann man die Mittel dafür auch streichen, meinen die "öffentlichen Hände" und machen die Theater zu. In der Malerei macht es der Pöbel gleich selbst; kürzlich wurde berichtet, die "Hausbesetzer-Szene" habe Ateliers in Kreuzberg gestürmt und verwüstet, weil solche Kunst keiner brauche und diese außerdem mietentreibend wirken würde. In der Zerfallsphase des Römischen Reiches war das ähnlich, wie die Historiker und Archäologen herausfanden. Aber das muß ja nicht unbedingt wiederholt werden. Das Fernsehen folgt dem. Zur Unterhaltung am Nachmittag wurde immer mehr, drei oder vier Personen aus "bildungsfernen Schichten" ins Studio zu setzen und sie so zu animieren oder zu provozieren, daß sie sich möglichst prügelten. Dafür gibt+s dann Geld. Heute fahren sie zu denen nach Hause und halten die Kamera drauf.

Es gehört zu den Eigenheiten dieser Zeit, die eine des Niedergangs und nicht des Aufstiegs ist, daß sich Wissen und Meinen, Kenntnis und Ressentiment, bewußte Lüge und ungebildete Behauptung vermengen und überlagern. Je mehr dies geschieht, desto weniger öffentlich relevantes Wissen über diese Welt und was sie zusammenhält gerät in die Verbreitung. Schaut man in die bewußt bürgerlich gemachten Medien, findet man einen neuen Elitismus. Sie verachten das Volk, das sie absichtsvoll dumm halten, weil sie dann besser herrschen können. Das alles hat auch mit Gauck zu tun. Die SPD wollte ihn als "parteiübergreifenden" Kandidaten, um sich der Kanzlerin wieder anzubieten und als einen Vertreter der vier Parteien gegen die eine, die Linkspartei, die sie alle nach wie vor als störend empfinden. Aber ist Gauck wirklich der Freiheitsapostel, zu dem ihn die Medien geschrieben und die Blogger erklärt hatten?

Karl D. Bredthauer ist ein früherer langjähriger Chefredakteur der "Blätter für deutsche und internationale Politik". Er erinnerte kürzlich daran, daß es ein Gespräch des legendären kritischen Journalisten Günter Gaus, der auch Ständiger Vertreter der Bundesrepublik in der DDR gewesen war und beide Länder gut kannte, mit Joachim Gauck im Jahre 1991 gegeben hatte. Der amtierte damals schon etwa ein Jahr als Ober-Stasiaktenverwalter. In dem Gespräch äußerte Gauck sehr deutlich Empathie mit denjenigen, die nach den Verbrechen der Deutschen während des zweiten Weltkrieges in der Bundesrepublik diese lieber beschweigen wollten, während Stalin "möglicherweise mehr Menschenopfer zu verantworten hatte, als es Hitler getan hat" - das Gerede von den "zwei Diktaturen" in Deutschland also die Pointe hatte, die erstere zu verharmlosen und die Menschen, die die zweite für eine Alternative zur ersten gehalten hatten, um so verbissener zu verfolgen. Gauck war der Mann, der für diese "vergangenheitspolitische Wende in Deutschland" steht, so Bredthauer.

Das kann man in den "Blättern" und im Internet nachlesen. Aber wer hat das denn in diesen Tagen gemacht? Das Geschimpfe auf die in der Bundesversammlung jedoch, die weder Pest noch Cholera gewählt haben, hält an. Und zwar in den Holzmedien wie in den elektronischen. Ist das Zufall, oder hängen beide doch medien- und damit machtpolitisch zusammen?


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 13 vom 5. Juli 2010, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 13. Jahrgang
Herausgegeben vom Freundeskreis der Weltbühne
Redaktion: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
Telefon/Fax: 030 - 47 46 98 70
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juli 2010