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DAS BLÄTTCHEN/1153: "Great Game" am Hindukusch


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
14. Jahrgang | Nummer 25 | 12. Dezember 2011

"Great Game" am Hindukusch

von Wilfried Schreiber


Im Zusammenhang mit Afghanistan hört man jetzt wieder öfter die Formel vom "Great Game". Der historisch interessierte Bürger fühlt sich da sofort in die Zeit des Kolonialismus und der imperialen Eroberungen zurückversetzt. Der Begriff wird dem britischen Geheimdienstoffizier Arthur Conolly zugeschrieben, der zwischen 1835 und 1840 in Afghanistan diente und mit dem "Großen Spiel" das Ringen um Vorherrschaft zwischen Großbritannien und Russland in Zentralasien bezeichnete. Es scheint, als ob dieses Spiel nie beendet wurde und inzwischen neue Dimensionen erhalten hat. Eine nähere Betrachtung macht deutlich, dass der gegenwärtige Krieg in Afghanistan keineswegs nur mit Afghanistan zu tun hat.

Das "Great Game" in und um Afghanistan herum ist die Geschichte einer langen blutigen Auseinandersetzung, die bis in die Gegenwart reicht. Fünf Kriege haben das Land in den letzten 175 Jahren verwüstet - von den zahlreichen Bürgerkriegen ganz abgesehen. Allein die Briten haben drei Kriege in Afghanistan geführt und verloren. Den ersten von 1839 bis 1842. Der ging mit einer totalen Vernichtung der britischen Armee aus, was Theodor Fontane zu seiner Ballade über das "Trauerspiel von Afghanistan" veranlasste. Bis zu 17.000 Soldaten und Zivilisten starben in wenigen Tagen. Der zweite britisch-afghanische Krieg 1878 bis 1880 endete mit dem Abzug der britischen Truppen. Der dritte britisch-afghanische Krieg 1919 führte zur provisorischen Anerkennung Afghanistans als unabhängiger Staat. Im 20. Jahrhundert probierte es die Sowjetunion über eine Einmischung in einen Bürgerkrieg und hielt das Land fast zehn Jahre besetzt. Über 115.000 Soldaten mussten im Februar 1989 erfolglos abziehen und hinterließen das Land in einem neuen Bürgerkrieg. Im 21. Jahrhundert versuchten es die USA unter der Fahne des "Kampfes gegen den Terror" und einem Mandat der Vereinten Nationen. Von einem NATO-Kommando geführt, kämpfen seit zehn Jahren bis zu 130.000 Soldaten aus 47 Ländern - davon bis zu 90.000 Amerikanern - weitgehend vergeblich gegen die einheimischen Taliban.

Inzwischen sind die für den Krieg verantwortlichen Politiker zu einer sehr ähnlichen Schlussfolgerung gelangt wie schon Alexander der Große, der vor fast 2.500 Jahren erkannt hatte, "Afghanistan kann man nur durchqueren, erobern kann man es nicht". Großbritannien im 19., Russland im 20. und die USA im 21. Jahrhundert haben mit ihren Kriegen am Hindukusch im Wesentlichen die gleichen Fehler gemacht. Sie haben sich ökonomisch erschöpft und moralisch verschlissen. Zumindest verbal gibt es heute die Einsicht, dass Afghanistan nicht mit Streitkräften zu befrieden ist und die Kampftruppen abgezogen werden sollten. Damit ist das "Great Game" aber noch nicht beendet. Inzwischen ist zwar Großbritannien als eigenständiger Spieler und ehemalige Welt- und Kolonialmacht ausgeschieden, aber Russland als angrenzende Regionalmacht ist noch dabei. Mit den USA, China und Indien sind neue Rivalen dazugekommen. Die besondere Brisanz dieser Konstellation besteht darin, dass es sich ausschließlich um Kernwaffenmächte handelt, zu denen außerdem noch die Regionalmacht Pakistan mit ihren rund 200 Millionen Menschen und einem eigenen Kernwaffenpotenzial gezählt werden muss. Die Europäische Union und Deutschland spielen hier eher eine Nebenrolle. Den "Spielern" geht es keineswegs - zumindest nicht in erster Linie - um die Bekämpfung einer fundamentalistischen religiösen Ideologie sondern um handfeste politische und ökonomische Interessen in der gesamten Region.

Das ist keineswegs verwunderlich, denn die globalstrategische Bedeutung dieser Region hat eher noch zugenommen. War es im Altertum vor allem die Seidenstraße, die hier Europa mit Asien verband, so geht es heute um eine komplexe Infrastruktur für den Energie- und Warentransit in einer globalisierten Welt. Fast alle Rivalen in der Region sind dabei an einer Diversifizierung des Landwegs interessiert - sowohl um die Abhängigkeit von den russischen Transportkorridoren zu reduzieren als auch kurze und flexible Transitrouten zu gewährleisten. Außerdem sind die Länder Zentralasiens selbst sehr reich an Bodenschätzen. Fast alle besitzen umfangreiche Lagerstätten für Öl, Gas, Erze und Kohle. Dazu kommt noch der Wasserreichtum solcher Länder wie Kirgistan und Tadschikistan als Quelle für Energie und Energieexport. Allein Afghanistan verfügt nach Berechnungen in den USA über Rohstofflagerstätten im Wert von einer Billion US-Dollar. Umfangreiche Vorkommen an Eisenerz, Kupfer, Niobium und Kobalt sind hier vor allem für Russland und China von Interesse.

Der Erschließung dieser Rohstoffe sowie der Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur stehen jedoch die Widersprüchlichkeit und die innere Zerrissenheit der Region entgegen. Alle Länder in Zentralasien und seinem südlichen Umfeld leiden noch heute unter den Folgen der britischen und zaristischen Kolonialpolitik. Am brisantesten ist der ungeklärte Verlauf der zirka 2.500 km langen Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan. 1893, nach dem zweiten britisch-afghanischen Krieg, wurde die so genannte Durand-Linie von Großbritannien zur Abgrenzung seiner kolonialen Besitzungen in British-Indien (heute Pakistan) quer durch das Stammesgebiet der Paschtunen gezogen. Bei der Staatsgründung von Pakistan 1947 wurde die Linie einseitig als Grenze festgelegt. Afghanistan hat diese Grenze bis heute nicht anerkannt.

Ähnliche Zwistigkeiten gibt es auch zwischen den fünf zentralasiatischen Republiken. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit 1991 wurden aus Verwaltungsgrenzen plötzlich reale Staatsgrenzen. Es kam zu Grenzstreitigkeiten und wechselseitigen Territorialansprüchen. Die Grenzen wurden teilweise vermint, Grenzübergänge willkürlich geschlossen. Wer heute von Taschkent nach Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans, mit dem Flugzeug reisen will (Luftlinie zirka 300 Kilometer), muss das über Moskau oder Almaty tun. Hauptursache dafür ist ein permanenter Streit über die Nutzung des Wassers. Während die Gebirgsländer Tadschikistan und Kirgistan Wasser dringend zur ganzjährigen Energieerzeugung benötigen und dazu das Wasser im Frühjahr stauen müssen, haben Usbekistan und Turkmenistan gerade im Frühjahr einen wachsenden Wasserbedarf für ihre riesigen Baumwollfelder. Diesen Streit hat auch die EU mit ihrer Zentralasienstrategie nicht glätten können.

Zentralasien hat ein enormes Entwicklungspotential, ist aber zugleich ein Pulverfass voller innerer und äußerer Widersprüche. Einerseits ist die Verlockung der alten und neuen "Spieler" des "Great Game" - insbesondere der USA - groß, das traditionelle Instrument imperialer Problemlösung einzusetzen. Andererseits haben sich die Rahmenbedingungen für den Einsatz dieses Instruments grundlegend gewandelt. Als Fontane sein Ballade über das "Trauerspiel von Afghanistan schrieb, brauchte die Nachricht von der vernichtenden Niederlage der britischen Armee mehrere Monate, ehe sie Europa erreichte. Heute nehmen wir in Echtzeit an solchen Ereignissen teil. Das macht es schwieriger, imperiale Interessenpolitik mit militärischer Gewalt durchzusetzen - auch wenn sie als werteorientierte Außenpolitik verkauft wird. Die Welt ist kriegsmüde geworden. Insbesondere dort, wo die Erlebnisse der großen europäischen Kriege lebendig geblieben sind. Außerdem sind die modernen Industriegesellschaften gegen Kriegsauswirkungen anfälliger geworden - selbst wenn diese Kriege weit entfernt bleiben. Schon gerin gfügige Störungen im "Blutkreislauf und Nervensystem des Kapitals" können verheerende Auswirkungen auf das globale Wirtschafts- und Finanzsystem haben. Kriegskosten werden durch Kriegsprofite nicht mehr aufgewogen.

Die neuen Rahmenbedingungen üben einen starken Zwang auf die "Spieler" des "Great Game" aus: Probleme und Risiken lassen sich nicht mehr mit den Strukturen und Instrumenten der Hegemonialordnung lösen. Heute geht es um Partnerschaft statt Vorherrschaft, um Kooperation statt Konfrontation, um Ausgleich von Interessen statt ihrer gewaltsamen Durchsetzung. Dementsprechend stehen auch in Zentralasien die Schaffung neuer Formen zwischenstaatlicher und multilateraler Kooperation beziehungsweise die Stärkung bereits vorhandener Kooperationsformen und -institutionen auf der Agenda.

China und Russland scheinen das am ehesten begriffen zu haben. Sie tragen ihre Rivalität bereits real auf ökonomischem Gebiet aus. China hat den Vorteil der unmittelbaren Nachbarschaft und konzentriert sich auf den Ausbau der grenzüberschreitenden Infrastruktur. Russland versucht es über die Schaffung einer "Eurasischen Union" nach dem Muster der EU. Ab 2012 soll diese Union schrittweise implementiert werden und neben Russland zunächst noch Belarus und Kasachstan umfassen. Weitere Kandidaten sind Kirgistan und Tadschikistan.

Die Zukunft Zentralasiens liegt also nicht in einem Ausbau der militärischen Konfrontation sondern der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit. Das erfordert über jegliche Hindernisse hinweg die multilaterale Kooperation aller Länder der Region sowie den Ausbau eines entsprechenden internationalen Instrumentariums unter Einbeziehung der großen Rivalen. Das ist die Alternative zur traditionellen Politik des "Great Game" - und auch ein Ansatz für die Lösung des Afghanistanproblems.


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Quelle:
Das Blättchen Nr. 25/2011 vom 12. Dezember, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 14. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath, Heinz Jakubowski
... und der Freundeskreis des Blättchens
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2011