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DAS BLÄTTCHEN/1466: Kairos


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
18. Jahrgang | Nummer 4 | 16. Februar 2015

Kairos

von Erhard Crome


Kairos ist in der griechischen Mythologie der günstigste Zeitpunkt für eine Entscheidung. Wenn der ungenutzt verstreicht, hat dies nachteilige Folgen. Nachdem die Euro-Krise und die nachfolgende Kürzungspolitik - die in den deutschen Medien immer euphemistisch als "Sparpolitik" bezeichnet wurde und wird - zu einem Machtregime innerhalb der EU geführt wurden, bei dem die "Troika" über die Souveränität der Staaten gesetzt wurde, wuchs der Widerstand.

Der "Troika", bestehend aus Beauftragten der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds, war der Auftrag erteilt, in den Schuldenländern zu kontrollieren, dass die für erforderlich erklärten "Reformen" auch umgesetzt wurden. Gemäß der neoliberalen Agenda waren das in aller Regel Lohnkürzungen, Gehaltsreduzierung, Rentenkürzung, Kürzung der Ausgaben für Soziales, Bildung und Gesundheit. Die Armen hatten die Schulden zu zahlen, indem sie weiter verarmt wurden, während die Reichen sich davon machten und auch weiterhin keine Steuern bezahlen. Das hat die EU-Kommission aber noch nie interessiert. Nachdem die neue griechische Regierung von Alexis Tsipras aber diese Situation zu einem Hauptpunkt der Auseinandersetzung mit der EU-Kommission und den anderen neoliberalen Institutionen gemacht hat und dies auch öffentlich anprangert, lügen auch die deutschen neoliberalen Wirtschaftsjournalisten, sie seien dafür, dass auch die Reichen in Griechenland endlich Steuern bezahlen sollten. Welch ein Hohn! Die Troika, der die früheren griechischen Regierungen alle brav gefolgt sind, hätte das ja anordnen können, wenn sie gewollt hätte. Hat sie aber nicht. Statt dessen Kürzung der Ausgaben für Medikamente, was den Tod vieler Krebskranker zur Folge hatte.

Die Linke in Europa hat seit mehreren Jahren diskutiert, ob unter den Bedingungen der real existierenden EU eine linke, progressive Veränderung überhaupt möglich ist. Das Fazit der Debatten war am Ende, angesichts der Verflechtung der EU-Institutionen, dass es im Grunde nicht mehr geht. Die Dominanz der großen Staaten, vor allem Deutschlands, das im Zentrum der hegemonialen Machtstrukturen der EU steht, die Rolle der EU-Kommission und die Macht des neoliberal Faktischen, das in den Verträgen zum Ausdruck kommt, hätten dem einen Riegel vorgeschoben. Es gibt nur noch die "marktkompatible Demokratie", wie Kanzlerin Merkel das so schön zutreffend genannt hat, oder keine.

Am 25. Januar 2015 kam Kairos, der Moment, an dem das griechische Volk die Linkspartei Syriza gewählt hat, in der Absicht, jenen Strukturen und dem linken Defaitismus einen Strich durch die Rechnung zu machen: Es muss doch gehen! Es kann doch nicht sein, dass solche Herrschaftsstrukturen höherrangig sind, als die Demokratie! Die EU-Kommission, die anderen EU-Staaten, vorneweg der deutsche Finanzminister fordern nun: Die Verträge müssen eingehalten werden! Es waren aber von Anfang an ungerechte Verträge, Verträge zwischen starken und schwachen, knechtende Verträge der imperialen Zentrumsmächte mit der schwachen, abhängigen Peripherie.

Die Syriza-Regierung will nun ernst machen. Die deutschen Journalisten in den deutschen Talk-Schwatz-Runden machen sich jetzt lustig: Da gibt es doch tatsächlich eine Regierung, die will nach der Wahl machen, was sie vor der Wahl gesagt hat! Ha, ha! Wo gibt es denn so etwas? Eine linke Regierung hat aber nur dann eine Chance, ernst genommen und wiedergewählt zu werden, wenn sie genau das tut: das zu tun, was sie vorher gesagt hat. Anderenfalls ist sie eine bürgerliche Partei, wie alle anderen.

Obwohl das griechische Wahlsystem den Wahlsieger bevorzugt, was die Zuteilung von Sitzen im Parlament anbetrifft, so reichte es für Syriza doch nicht zur absoluten Mehrheit. Es war ein Koalitionspartner nötig. Der fand sich rasch in Gestalt der Partei der Unabhängigen Griechen. Die gilt gemeinhin als "rechtspopulistisch". Sie ist eine Abspaltung von der konservativen Partei Neue Demokratie, die ihr Vorsitzender, Panos Kammenos, vollzogen hatte, weil er dagegen war, der Troika zu gehorchen. Ansonsten ist er eher konservativ. Dennoch haben beide, Tsipras und Kammenos, die Zusammenarbeit vereinbart, weil sie eben in dieser Frage, die Troika loszuwerden und die nationale Souveränität über das Schuldenregime zu stellen, übereinstimmen. Andere kleinere Parteien hätten auf dem Links-Rechts-Kontinuum der Syriza kulturell oder sozial sicherlich näher gestanden, waren durch ihre Folgsamkeit gegenüber dem Troika-Regime jedoch kontaminiert. Außerdem hat das noch einen anderen Vorteil: In großen historischen Auseinandersetzungen, und der Kampf um das Recht der Demokratie gegen die Ansprüche der Kapitalmärkte ist eine solche, in solchen Auseinandersetzungen ist es angezeigt, immer nur an einer Front zu kämpfen. Insofern bietet der Verweis auf Kammenos als Verteidigungsminister und die Unabhängigen Griechen Tsipras die Möglichkeit, aus der Linken kommende Forderungen, nun gleich auch noch aus der NATO auszutreten oder die Armee abzuschaffen, auf später zu vertagen.

Für das Außen- und das Finanzressort hat Tsipras Parteilose benannt, so dass die beiden Schlüsselbereiche ebenfalls allfälligen innerparteilichen Querelen, die erfahrungsgemäß nie ausbleiben, entzogen sind. Außenminister Nikos Kotzias war früher Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei, 1993 bis 2008 im diplomatischen Dienst und seither Professor für internationale Politik an der Universität Piräus. Finanzminister Yanis Varoufakis hat in Großbritannien Wirtschaftswissenschaft studiert, lehrte in Glasgow, Sydney und Texas und hat mehrere Bücher geschrieben, in denen er begründet hat, dass im Kampf gegen die Krise eine Kürzungspolitik gerade grundfalsch ist. Ein Politiker, der zugleich Fachmann ist, dem Schäuble und die anderen neoliberalen Gesundbeter in der Runde der EU-Finanzminister nichts vormachen können.

Die Tsipras-Regierung hat neben dem Kampf um die Dominanz der Demokratie und gegen das Schuldenregime auch mit einem zweiten Tabu gebrochen. Deutschland ist Griechenland noch Reparationen und die Rückzahlung einer Zwangsanleihe aus dem Zweiten Weltkrieg schuldig, die die deutschen Besatzer dem Land auferlegt hatten. Es spricht Bände, dass ausgerechnet der von der SPD gestellte Vizekanzler Sigmar Gabriel und die SPD Generalsekretärin Yasmin Fahimi am lautesten schreien, um diese griechische Forderung zurückzuweisen. Der 2+4-Vertrag zwischen den vier Hauptsiegermächten und den beiden deutschen Staaten von 1990, der die Deutschen in die nationale Einheit und die Souveränität entließ, war aber ein Vertrag zwischen den sechs Mächten. Er bindet Dritte nicht. Insofern wird sich Deutschland diesen Forderungen noch stellen müssen. Es spricht aber Bände, dass ausgerechnet die Sozialdemokraten die lautesten Schreier sind, wenn es um die Durchsetzung imperialer deutscher Interessen geht.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 4/2015 vom 16. Februar 2015, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 18. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2015

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