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DAS BLÄTTCHEN/1529: Syrische Perspektiven


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
18. Jahrgang | Nummer 20 | 28. September 2015

Syrische Perspektiven

von Peter Petras


Der Krieg in Syrien und die Konflikte um Syrien sind in eine neue Phase eingetreten. Wird es die letzte, entscheidende sein? Kommt eine diplomatische Lösung oder werden die Kriegshandlungen nochmals verstärkt? Die Aufstellung der verschiedenen Kräfte und Akteure verändert sich.

Der "Islamische Staat" hat gerade wieder neun Männer wegen - angeblicher oder tatsächlicher - Homosexualität köpfen lassen. Insgesamt hat der IS seit Mitte 2014 an die 3.000 Menschen hingerichtet. In Palmyra und anderenorts wurden Kulturgüter der Menschheit, des "Weltkulturerbes" absichtsvoll und systematisch, unwiederbringlich zerstört. Dieser halluzinierte "Staat" soll keine Vergangenheit haben und keine Zukunft, außer der, die seine Herren als islamisch ansehen. Um den Krieg zu finanzieren, hat der IS seinen Raubgrabungen und Massenplünderungen der Kulturstätten einen "industriellen Maßstab" gegeben, wie Irina Bokova, die Generaldirektorin der UN-Kulturorganisation UNESCO kürzlich feststellte.

Millionen Menschen aus Syrien sind vor dem Terror und den Kriegsgräueln geflohen, Hunderttausende in diesem Jahr nach Europa. In Deutschland ist inzwischen die Rede von einer Million Flüchtlinge (jedoch nicht nur aus Syrien), die in diesem Jahr ins Land kommen werden. Obwohl Deutschland wirtschaftlich in der besten Verfassung seit Jahrzehnten ist, belastet das die öffentlichen Haushalte, aber auch die Aufnahme- und Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Wo die Hunderttausende Arbeitsplätze und Wohnungen herkommen sollen, die nötig wären, ist völlig ungeklärt - mit der bisherigen Politik sind sie nicht herbeizuschaffen. Wie das mit der Integrationsfähigkeit sein wird - und zwar auf beiden Seiten -, muss sich noch zeigen.

Mitte September wollte die Stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner ein Flüchtlingsheim in Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz) besuchen, das Mitarbeiter des Technischen Hilfswerks (THW) eingerichtet hatten. Es wäre ein gutes Beispiel gewesen, auch die naheliegende islamische Gemeinde beteiligte sich an der Betreuung der Flüchtlinge. Allerdings ließ der zuständige Imam Klöckner über das THW ausrichten, wenn sie käme, werde er ihr nicht die Hand geben, sie sei ja eine Frau. Sie hatte nun die Möglichkeit, hinzufahren und ihm die Hand hinzustrecken, was eine offene Konfrontation gewesen wäre, ihm nicht die Hand zu reichen, was bedeutete, mitten in Deutschland dessen frauenfeindliche Position zu akzeptieren - oder auf den Besuch zu verzichten. Klöckner tat letzteres und fordert jetzt ein "Gesetz zur Integrationspflicht". Innenpolitisch bleibt abzuwarten, ob Grüne und Linke, die sonst jedes feministische Gras wachsen hören, sich jetzt auf die Seite von Klöckner oder des Imams stellen - wegen des Verständnisses für "die andere Kultur".

Aus Jerusalem wurde gemeldet, der Imam Scheich Mohammed Ayad habe die nach Europa strömenden Flüchtlinge dazu ermuntert, dort zu bleiben, sich mit den Europäern zu verschmelzen, sich fruchtbar zu mehren und auf diesem Wege die europäischen Länder zu "erobern". Das passt zu der Meldung, dass Saudi-Arabien zwar keine Kriegsflüchtlinge aus arabischen Ländern aufnimmt, für die muslimischen Flüchtlinge in Deutschland aber 200 Moscheen finanzieren will. Legt man auf die Meldungen die aktuelle medienpolitische Schablone, so gilt letztere zweifelsohne als zuverlässig, weil sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stand, während erstere von der russischen Nachrichtenagentur Sputniknews stammt und deshalb gegebenenfalls zu bezweifeln sei. Obwohl die Meldungen gut zueinander passen: Der Jerusalemer Imam spricht nur aus, was die Saudis meinen.

Der russische Präsident Putin hatte erklärt, wer den Flüchtlingsstrom beenden wolle, müsse den Krieg beenden. Russland hat seinen Flottenstützpunkt in der Hafenstadt Tartus - den einzigen, der dem Land nach dem Ende der Sowjetunion außerhalb Russlands verblieben ist - weiter befestigt und weitere Waffen geliefert. Nahe der Hafenstadt Latakia baut Russland eine größere Luftwaffenbasis aus. Mitte September waren dorthin bereits etwa 30 Kampfflugzeuge verlegt. Militärexperten weisen darauf hin, dass SU-24- und SU-25-Flugzeuge, die noch aus sowjetischen Zeiten stammen, für die Unterstützung von Bodentruppen entwickelt wurden; ihre Verlegung deutet darauf hin, dass es um die Vorbereitung einer Bodenoffensive geht. Die modernen SU-30-Flugzeuge können zwar auch gegen Bodenziele eingesetzt werden, sind aber mehr für modernen Luftkampf geeignet. Falls also jemand im Westen auf die Idee kommen sollte, ohne Beschluss des UNO-Sicherheitsrates eine "Flugverbotszone" - wie einst im Libyenkrieg - über Syrien zu errichten, um Assads Truppen zu bekämpfen, hätte der es mit starken Gegenkräften zu tun. Dabei ist es gleich, ob am Steuer syrische oder russische Kampfflieger sitzen.

Am 21. September trafen sich nahe Moskau Präsident Putin und der israelische Ministerpräsident Netanyahu, der von den Chefs des israelischen Generalstabes und des Auslandsgeheimdienstes begleitet wurde. Putin versicherte, dass der syrische Präsident Assad und die syrische Armee nicht in der Lage seien, eine weitere Front gegen Israel aufzumachen, sondern es gehe um die Erhaltung der Staatlichkeit Syriens. Netanyahu sagte zu seinem Besuch: "Um jegliche Missverständnisse zwischen unseren Streitkräften zu vermeiden, war es wichtig, hierher zu kommen und unseren Standpunkt zu erläutern".Mit anderen Worten: Bei den nun zu führenden Kämpfen in Syrien soll es nicht zu einer ungewollten direkten Konfrontation zwischen russischen und israelischen Kampfflugzeugen kommen. Die syrische Armee soll - so das russische Konzept - in die Lage versetzt werden, auch am Boden offensiv zu kämpfen.

"Sie unterscheiden zwischen guten und schlechten Terroristen", hatte der syrische Präsident Baschar al-Assad schon vor einiger Zeit über die Politik des Westens gesagt, und damit deutlich gemacht, nicht nur den IS, sondern alle bewaffneten Gegner zu bekämpfen. Jetzt betonte er gegenüber dem russischen Fernsehen, der Westen heuchle in der Flüchtlingskrise, er "weine" über die zahlreichen Flüchtlinge, unterstütze aber die "Terroristen", die für die Flucht verantwortlich seien.

Das Vorgehen des Westens ist in der Tat inkonsistent. Der IS ist ein Produkt des unseligen Krieges, den die USA und ihre "Willigen" 2003 gegen den Irak geführt haben, und des Chaos', das sie dort schufen und hinterließen. Seit 2014 führen sie einen Drohnen- und Bombenkrieg in Syrien, angeblich gegen den IS, weigern sich aber, Bodentruppen einzusetzen. Kräfte, die im Sinne des Westens am Boden kämpfen - wie in Libyen die Anti-Gaddafi-Milizen, die nach dem Krieg aber dort zur Brutstätte der Zerstörung wurden - gibt es nicht. Es sei denn, man rechnet den IS dazu. Die US-Regierung hat bereits vor Jahren gelogen, als sie erklärte, sie würde eine säkulare Opposition in Syrien gegen Assad ausbilden lassen. Die Ausgebildeten gehörten überwiegend zu islamistischen Gruppen, die dann zum IS überliefen. Die Bekundung, man wolle den IS und Assad bekämpfen, ist militärisch-politischer Unsinn - es geht nur eines von beiden, mit dem anderen.

Das sieht Saudi-Arabien genau so: der Außenminister erklärte, wenn Assad eine politische Lösung nicht akzeptiere, "wird er durch eine militärische Lösung ausgeschlossen". Das hieße, Saudi-Arabien müsste selbst eingreifen - derzeit legt es nach dem Muster des westlichen Libyen-Krieges gerade den Jemen in Schutt und Asche -; dem stehen schon der Iran und Russland entgegen, genau betrachtet aber auch Ägypten. Oder der saudische Außenminister spekuliert auf einen westlichen Waffengang, worauf in Washington nichts hinweist. Oder Saudi-Arabien setzt in der Tat auf einen Sieg des IS und anderer fundamentalistischer Gruppierungen.

Schaut man heute auf die Resultate des "Arabischen Frühlings", so war er nach dem Irak-Krieg Vorwand, um möglichst alle weltlichen Regime im Nahen Osten zu stürzen: Gaddafi wurde bekämpft und ermordet, Libyen liegt im Chaos. Jemen versinkt gerade darin. In Ägypten haben es die Militärs geschafft, den säkularen Staat zu retten, aber um den Preis, dass das diktatorische Regime jetzt schärfer ist als das, das vor vier Jahren gestürzt wurde. Die Türkei hatte auch ihre schmutzigen Hände im Spiel, förderte die islamistischen Banden und den IS und betrieb den gewaltsamen Sturz Assads. Mit dem Krieg gegen die Kurden - im eigenen Land, in Irak und in Syrien - hat Präsident Erdogan die Situation weiter verschärft, ohne dass von den "NATO-Partnern" irgendein ernsthafter Protest kam.

Syrien ist jetzt das Land, in dem der Kampf um eine säkulare oder eine islamisch-fundamentalistische Perspektive ausgetragen wird, wo aber zugleich die Gefahr besteht, dass das Land völlig zerstört wird. Eine friedliche Lösung bedarf einer klugen Diplomatie. Russland hatte schon vor Jahren angeboten, eine solche zu schaffen, bei der Assad in einem geordneten, ausgehandelten Prozess geht und eine Kompromisslösung zwischen den verschiedenen politischen Kräften geschaffen wird. Der Westen meinte, das großmäulig ignorieren zu können. Das syrische Volk zahlt den blutigen Preis dafür. In anderer Form nun auch die Deutschen und anderen Europäer, die die Flüchtlinge aufnehmen.

Die politische Lösung muss drei Ebenen haben: die inner-syrischen Konfliktparteien (zu denen der IS nicht zählt); die regionalen Mächte: Türkei, Saudi-Arabien, Iran, Ägypten; die Großmächte: USA, EU, Russland. Eine vom Westen und Saudi-Arabien diktierte Beendigung des Krieges wird es nicht geben. Ohne Assad und ohne Russland gibt es keinen Frieden in Syrien.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 20/2015 vom 28. September 2015, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 18. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Oktober 2015

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