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DAS BLÄTTCHEN/1730: 27 Jahre nach dem Beitritt


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
20. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2017

27 Jahre nach dem Beitritt

von Ulrich Busch


Ostdeutschland war diesmal kein Wahlkampfthema. Einzig die LINKE hatte versucht, mit dem Verweis auf immer noch bestehende Unterschiede zwischen Ost und West zu punkten, stieß damit aber nur begrenzt auf Interesse. Die positiven Veränderungen und absoluten Zuwachsraten der vergangenen Jahre wiegen in der Wahrnehmung vieler Menschen offenbar stärker als das fortbestehende Niveaugefälle zwischen den beiden Landesteilen.

Gleichwohl gibt es auch 27 Jahre nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland signifikante Unterschiede in den Lebensverhältnissen der Menschen. Der neue "Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2017" gibt hierüber Auskunft. So ist dort formuliert, dass trotz aller Erfolge, die seit 1990 im Einigungsprozess zu verzeichnen sind, "noch ein gutes Stück Weg zu gehen (bleibt), um noch bestehende, vor allem wirtschaftliche, Unterschiede zwischen Ost und West [...] zu überwinden". Insbesondere bei den Einkommen, bei der Beschäftigung und bei der Wirtschaftskraft bestehen nach wie vor "erheblichen regionale Unterschiede", die auch so schnell nicht, und schon gar nicht von selbst, verschwinden werden. Ja, es kann nicht einmal ausgeschlossen werden, dass diese sich im Zeitverlauf reproduzieren und weiter zunehmen, sofern sie nicht politisch energisch angegangen werden.

Das ist ehrlich und absolut zutreffend. Was aber zu kurz kommt beziehungsweise fehlt, ist eine konkrete Analyse der Ursachen und Bedingungen für das Fortbestehen dieser Unterschiede. Zwei Aspekte seien herausgegriffen:

Erstens die Bevölkerungsentwicklung: Die Einwohnerzahl ist seit 1989 in Deutschland um 4,6 Prozent gewachsen, von 79,1 Millionen auf 82,8 Millionen, im Osten aber ist sie gesunken, von 16,4 Millionen auf 13,8 Millionen beziehungsweise (ohne Berlin) von 15,2 Millionen auf 12,6 Millionen. Das entspricht einem Rückgang um 17 Prozent! Als Gründe dafür sind die hohe Abwanderung und das Sinken der Geburtenrate zu nennen. Beide Prozesse haben sich inzwischen positiv gewendet: die Abwanderung wird neuerdings durch eine in etwa gleich hohe Zuwanderung ausgeglichen und die Geburtenrate ist wieder gestiegen. Dadurch wird zwar eine für den Osten verhängnisvolle Tendenz gestoppt, der eingetretene Bevölkerungsverlust aber nicht korrigiert. Da die Menschen nach wie vor das größte wirtschaftliche Potenzial darstellen, ist dies für die Zukunft Ostdeutschlands von erheblichem Nachteil.

Zweitens ist die Entwicklung der Investitionen zu nennen. Aus dem "Bericht" geht hervor, dass in den neuen Ländern erheblich weniger in die Produktion investiert wird als in den alten Ländern. Und das seit 1990. So ist das Investitionsvolumen in neue Ausrüstungen je Einwohner aktuell im Osten rund 30 Prozent geringer als im Westen. In den vergangenen mehr als zweieinhalb Jahrzehnten gab es nur drei oder vier Jahre, wo die Investitionsvolumina ähnlich hoch waren, in der Regel aber übertrafen die Investitionen im Westen die im Osten beträchtlich. Bezogen auf die Investitionen im Verarbeitenden Gewerbe, die hier besonders zählen, hat sich der Abstand zwischen Ost und West in den vergangenen zwanzig Jahren sogar verdoppelt. Die Schere schließt sich also nicht, sondern geht, aller politischen Rhetorik über eine Ost-West-Angleichung zum Trotz, von Jahr zu Jahr weiter auf. - Holt man so auf? Wohl kaum.

Vielmehr liegt es auf der Hand, dass, wenn die Diskrepanz bei den Investitionen anhält oder im Zeitverlauf sogar größer wird, die Differenz bei der Wirtschaftskraft langfristig nicht ab-, sondern zunehmen wird. Dies ist eine absolut logische Konsequenz, die sich nur durch eine Verbilligung des Faktors "Arbeit", sprich Niedriglöhne und prekäre Beschäftigungsverhältnisse, abschwächen lässt. Leicht konterkariert wird das derzeit durch die demographische Situation und die daraus folgenden Verknappung von Fachkräften, ist im Vergleich zwischen Ost- und Westdeutschland aber nach wie vor gängige Praxis.

Ähnlich verhält es sich mit der Arbeitslosigkeit, die insgesamt dank der guten Konjunktur zwar kräftig gesunken ist, im Osten aber im Durchschnitt trotzdem um rund 50 Prozent höher liegt als im Westen. Alles andere folgt hieraus. So ist die Wirtschaftskraft (das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner) im Osten um 31,5 Prozent geringer als im Westen, die Arbeitsproduktivität um 21,4 Prozent und das Arbeitnehmerentgelt um 20,8 Prozent. Und dabei wird Berlin, das bis auf Sachsen mit seinen 3,5 Millionen Einwohnern größer ist als alle neuen Länder, und wo zu mehr als zwei Dritteln Westlöhne gezahlt werden, komplett dem Osten zugerechnet. Würde man dies korrigieren, so würden die neuen Länder noch um einige Prozentpunkte schlechter abschneiden als dies statistisch jetzt der Fall ist.

Bemerkenswert ist, dass viele der Indikatoren in den zurückliegenden Jahren in den neuen Bundesländern eine positive Entwicklung aufweisen. Aber das tun sie in den alten Ländern auch. Deshalb bleiben die Relationen erhalten und das West-Ost-Niveaugefälle verändert sich kaum. So verhält es sich zum Beispiel bei der Größe des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte Dieses wächst von Jahr zu Jahr, an der Relation des ostdeutschen Wertes im Verhältnis zu dem westdeutschen Wert aber hat sich seit 1995 nur wenig geändert und seit 2010 so gut wie überhaupt nichts mehr. Es bleibt bei rund 82 Prozent. Und selbst diese Relation, die ja höher liegt als das Ost-West-Verhältnis bei den Löhnen, ist wesentlich das Ergebnis staatlicher Transferleistungen. Würde nur die Wirtschaftskraft gelten, so läge die Ost-West-Relation der Einkommen nur bei knapp 70 Prozent.

Nimmt man die Vermögenssituation der privaten Haushalte hinzu, so verdüstert sich das Bild vollends, denn die Ost-West-Relation liegt alles in allem bei kaum viel mehr als 35 Prozent. Und eine Tendenz zur Angleichung ist hier überhaupt nicht auszumachen (siehe dazu: "Ein Vierteljahrhundert Deutsche Einheit", trafo-Verlag Berlin 2015).

Was hier steht, sind herbe Wahrheiten, denen komplexe Datensätze zugrunde liegen. Es wird deshalb all jenen, die Schwierigkeiten haben, die Aussagen nachzuvollziehen, empfohlen, sich den Statistischen Anhang zum "Bericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2017" anzuschauen. Das Ergebnis könnte erhellend, für manchen aber auch ernüchternd sein.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 20/2017 vom 25. September 2017, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 20. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2017

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