Schattenblick → INFOPOOL → MEDIEN → ALTERNATIV-PRESSE


GEGENWIND/633: Die dreiundzwanzig Tage der Regierung Dönitz in Flensburg


Gegenwind Nr. 320 - Mai 2015
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

GESCHICHTE
Mordlust bis fünf nach Zwölf
Die dreiundzwanzig Tage der Regierung Dönitz in Flensburg im Mai 1945

Von Günther Stamer


Am 8. Mai 1945 wurde ganz Europa von dem Verbrechersystem des deutschen Faschismus und seinem Krieg befreit. Mehr als 55 Millionen Menschen waren zuvor Nazi-Terror, Holocaust und Vernichtungskrieg zum Opfer gefallen, bezahlten den deutschen Griff nach der Weltherrschaft mit unvorstellbarem Leid.


Faschisten und Wehrmachtsoffiziere versuchten allerdings im nördlichsten Zipfel des Deutschen Reiches, in Flensburg-Mürwik, der Geschichte nach dem 8. Mai noch eine andere Wendung zu geben. Nach Überzeugung von Dönitz, nach Hitlers Tod am 30. April testamentarisch zum Reichspräsidenten bestimmt, war der 8. Mai 1945 lediglich der Tag der Kapitulation der Wehrmacht - nicht aber das Ende des Deutschen Reiches und der faschistischen Herrschaft. Noch am 9. Mai munterte Dönitz seine ihm getreuen Offiziere in Flensburg mit folgenden Worten auf: "Wir haben die eifrigsten Wächter zu sein über das Schönste und Beste, was uns der Nationalsozialismus gegeben hat, die Geschlossenheit unserer Volksgemeinschaft." In Konsequenz dieser Überzeugung "arbeiteten" auch in folgenden Tagen im Deutschen Reich weiterhin die faschistischen Standgerichte, fällten "zur Sicherstellung von Disziplin und Ordnung" Todesurteile und vollstreckten diese. Erst am 23. Mai sollte auf Drängen der Sowjetunion diesem Spuk ein Ende gemacht und Dönitz und seine "Reichsregierung" in Flensburg verhaftet werden. Bis zu seinem Tod (1980) sah sich Dönitz als legales Staatsoberhaupt; die Politiker der Bundesrepublik waren für ihn nichts anderes als Agenten der Besatzungsmächte.


Wer war Karl Dönitz?

Karl Dönitz, im 1. Weltkrieg Kommandant eines U-Bootes, wird 1935 Chef der ersten U-Boot-Flottille der faschistischen Kriegsmarine. Vor Beginn des 2. Weltkriegs drängte er auf die erhebliche Erhöhung der Zahl der U-Boote als einer wirksamen Form der Seekriegsifihrung. Seit Anfang 1943 als Großadmiral Oberbefehlshaber der Kriegsmarine war Dönitz einer der getreuesten Gefolgsmänner Hitlers und bis zuletzt Befürworter der bedingungslosen Fortsetzung des Krieges. "Das deutsche Volk verdankt unserem Führer schlechthin alles. Ich möchte sehen, wie es in Deutschland ohne den Nationalsozialismus jetzt im fünften Kriegsjahr aussehen würde, voller Parteien, voller Juden, die jegliche Gelegenheit benutzen würden, zu kritisieren, zu schaden. (...) Die Wehrmacht muss fanatisch an dem Mann hängen, dem sie Treue geschworen hat."

Am 25. April 1945 appellierte er an alle Marineoffiziere: "In dieser Lage gibt es nur eins: Weiterzukämpfen und allen Schicksalsschlägen zum Trotz doch noch eine Wende herbeiführen. Ein Hundsfott, wer nicht so handelt. Man muss ihn aufhängen und ihm ein Schild umbinden: Hier hängt der Verräter." Diesem Grundsatz sah er sich über den 8. Mai hinaus bis zu seiner Verhaftung verpflichtet. Der Internationale Militärgerichtshof in Nürnberg verurteilte Dönitz 1946 zu 10 Jahren Gefängnis. Nach der Haftentlassung 1956 lebte Dönitz bis zu seinem Tod in Aumühle, in Tuchfühlung des Anwesens des Reichsgründers Otto von Bismarck, wohlversorgt mit einer stattlichen Pension "in der Gemeinde hoch angesehen und von vielen Historikern, Veteranen und ausländischen Marinedelegationen ehrfurchtsvoll aufgesucht," wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (23.5.2005) zu berichten wusste.


Die "Reichsregierung Dönitz"

Von Hitler zum Nachfolger bestimmt, bildete Dönitz am 2. Mai 1945 in Flensburg-Mürwik eine sog. Geschäftsführende Reichsregierung. Vorrangiges Ziel dieser Regierung war, mit den USA und Großbritannien eine antisowjetische Verständigung zu erzielen, um Deutschland als Bollwerk gegen den "Bolschewismus" zu erhalten. "Da der Krieg gegen die Westmächte seinen Sinn verloren hat und nur zum Verlust kostbaren deutschen Blutes führt", so Dönitz, ließ er Anfang Mai durch seinen Nachfolger als Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, von Friedeburg, mit dem britischen Feldmarschall Montgomery eine Teilkapitulation der Wehrmacht für Holland, Dänemark und Nordwestdeutschland aushandeln, die am 5. Mai in Kraft trat. Diese Kapitulation gegenüber Montgomery ändere nichts an der Fortsetzung des Kampfes im Osten - so Dönitz -, daher müsse die Schlagkraft der verbleibenden Einheiten der Kriegsmarine unter allen Umständen erhalten bleiben. "Dönitz wünscht, dass wir eisern durchgreifen", so der Befehlshaber der in der Flensburger Förde liegenden Schnellboote. So wurden die 23 Tage der von Dönitz geleiteten "Reichsregierung" bewusst zur Verlängerung des Nazi-Terrors gegen die eigene Bevölkerung genutzt, den Soldaten und Matrosen noch "fünf nach Zwölf" mit ihrem Leben bezahlen mussten.


"Glasmacher und Genossen"

Günther Schwarberg, langjähriger stern-Redakteur, berichtet: "Am 4. Mai erging an das im dänischen Hafen von Fredericia liegende Minensuchboot M-612 Befehl zum Auslaufen. Als der Kommandant nach Verlassen des Hafens die Besatzung antreten ließ, um das Ziel der Fahrt - im Sonderauftrag von Dönitz sollte es nach Kurland gehen - bekanntzugeben, formierte sich unter der Besatzung Widerstand. Der Maschinenmaat Heinrich Glasmacher und einige andere Matrosen forderten den Schiffskommandanten auf, er solle sich an die Kapitulationsbedingungen halten und nicht mehr gen Osten fahren, sondern das Schiff nach Flensburg bringen. Als dieser sich weigerte, sperrten die Matrosen die Offiziere unter Deck ein und übernahmen das Schiff. Sie wurden jedoch von zwei Schnellbooten verfolgt und gezwungen nach Sonderborg zurückzukehren, wo ihr Boot von einem Offizierskommando besetzt wurde. Ein Standgericht verurteilte elf Matrosen der M-612 ("Glasmacher und Genossen", wie es im Urteil hieß) zum Tode. Um die Morde zu begehen, brachten die Offiziere die Delinquenten auf hohe See, denn in Dänemark herrschten wieder die Dänen. Die Todesurteile wurden nach Bestätigung durch Dönitz auf der Reede vor Sonderborg klammheimlich vollstreckt.


Kriegsgerichtsprozess auf der "Buea"

Und das Sterben ging immer noch weiter. Noch am 9. Mai fand auf dem in der Geltinger Bucht vor der Flensburger Förde auf Reede liegenden Schnellboot "Buea" ein Gerichtsprozess gegen vier "Deserteure" statt; es endete mit drei Todesurteilen, die am 10. Mai um 16.03 Uhr an Bord der Buea vollstreckt wurden. In seinem Roman "Steilküste" lässt Jochen Missfeldt den Vorsitzenden des "Kriegsgerichts" auf der "Buea" sinnieren und verrät damit einiges von dem, was Dönitz und Konsorten im Mai 1945 umtrieb: "Drei Soldaten hatten sich unerlaubte Entfernung von der Truppe geleistet. Wie im November 1918 sei das gewesen, als Marinesoldaten in Wilhelmshaven gemeutert, in Kiel Revolution gemacht und Demokratie vom Zaun gebrochen hatten. Dieser Schandfleck, dieser schwarze Tag, fuhr jetzt mit auf den heimkehrenden Schnellbooten. Deutschlands Totengräber etwa schon wieder Marinesoldaten? Die Geschichte vom Revolutionsgast, den die Kriegsmarine wie einen Stein im Magen schon sechsundzwanzig Jahre lang mitschleppte und nicht los wurde: zum Kotzen."

Selbst die Mitglieder der Kriegsgerichte, die auch nach der Kapitulation Todesurteile fällten und vollstrecken ließen, sind in der BRD nicht zur Rechenschaft gezogen worden bzw. wurde ihnen von bundesdeutschen Richtern nachträglich bestätigt, dass die angeklagten Soldaten und Matrosen "rechtmäßig" ermordet wurden. Ihrer Karriere schadete dies den "furchtbaren Juristen" (Rolf Hochhuth) nicht; einer schaffte es sogar bis auf einen Ministerpräsidentenstuhl (Filbinger in Baden-Württemberg).


Die "Dönitz-Affäre"

Zu den Dönitz-Bewunderern im Nachkriegs-Schleswig-Holstein gehörte u.a. auch der junge Uwe Barschel. Dieser lud im Januar 1963 den Großadmiral in seiner Funktion als Schülersprecher am Gymnasium in Geesthacht zu einer Geschichtsstunde ein. Fast fünfzig Jahre später erinnert sich ein Schüler: "Ich erinnere mich, wie er mit einer Führungsbegabung aufrecht in den Saal kam und jedem Lehrer die Hand gab - wie bei einer U-Boot-Besatzung. Fast zwei Stunden redete Dönitz über Krieg und Marinetaktiken, seine militaristischen bis faschistischen Gedanken trafen auf keinen öffentlichen Widerspruch." Insbesondere die Lehrer sollen wie "betrunken" an den Lippen des ehemaligen Großadmirals gehangen haben, erinnerte sich der Geesthachter. Nur ein Pädagoge verließ aus Protest den Saal (Bergedorfer Zeitung, 6.2.2010).

Der Dönitz-Auftritt schlägt mediale Wellen - weniger in Deutschland sondern vor allem in Frankreich, den Niederlanden und in Großbritannien. Den Schülern am Gymnasium wird daraufhin Redeverbot erteilt; wer den Medien Auskunft gibt, könne von der Schule verwiesen werden. Der damalige Schulleiter kann mit der Situation nicht umgehen und verschwindet - Ende April 1963 gibt die Elbe seine Leiche frei.


Nachkriegs-Schleswig-Holstein und die "Renazifizierung"

Die "Dönitz-Affäre" wirft ein Schlaglicht auf die politische Atmosphäre in Schleswig-Holstein in den 50er und 60er Jahren. Es ist daran zu erinnern, dass es in der ersten CDU-Landesregierung nur einen einzigen Minister gab, der nicht der NSDAP angehört hatte. Nach zwei Ministerpräsidenten aus dem Widerstand war es 1950 unter Walter Bartram (CDU) zu einer geräuschlosen Reintegration der alten NS-Eliten gekommen. "Man kann mit Recht allmählich von einer Renazifizierung sprechen. Merkwürdig, wie selbstverständlich die alten Nazis auftreten und wie feige sie im Grunde sind, wenn man ihnen hart entgegentritt", notierte Paul Pagel am 14. März 1951 in seinem Tagebuch. Pagel war der Einzige des Kabinetts Bartram, der keine braune Weste hatte.

Namen, die beispielhaft für diese "Renazifizierung" stehen sind Helmut Lemke und Heinz Reinefarth. Helmut Lemke war von 1955 bis 1963 Innenminister und von 1963 bis 1971 Ministerpräsident von Schleswig-Holstein. In der Zeit des Faschismus bekleidete er u.a. das Amt des Bürgermeisters von Eckernförde. In dieser Funktion hatte er es nicht an eindeutigen Bekenntnissen fehlen lassen, wenn er z. B. betonte: "Wir Nationalsozialisten stehen auf dem Boden des Führerprinzips. Wir alle, jeder an seiner Statt, sind dazu aufgerufen, die Hammerschläge des Dritten Reiches auszuführen." Diesen "Hammerschlägen" fielen unzählige Eckernförder Antifaschisten zum Opfer.

Jüngst aufgearbeitet wurde der Fall Heinz Reinefarth, der nach dem Krieg Bürgermeister auf Sylt und ab 1958 Abgeordneter des Landtags gewesen war. Bei der Niederschlagung des Warschauer Aufstandes 1944 wurde der SS-Mann zum "Henker von Warschau", wie er in Polen genannt wird. 2014 bedauerte es der Landtag, "dass es nach 1945 in Schleswig-Holstein möglich werden konnte, dass ein Kriegsverbrecher Landtagsabgeordneter wird". Während der "Fall Heinz Reinefarth" inzwischen wissenschaftlich bearbeitet worden ist, fehlt bislang eine wissenschaftlich fundierte umfassende Aufarbeitung des Gesamtkomplexes der NS-Kontinuitäten in Schleswig-Holstein. Dies soll nun nach 70 Jahren nachgeholt werden.


"Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen."

Eine wissenschaftlich fundierte Aufarbeitung der personellen und strukturellen Kontinuitäten nach 1945 in der schleswig-holsteinischen Legislative und Exekutive soll nun 2016 vorliegen. "Wir wollen wissen, wie es wirklich war mit der Verstrickung des Parlaments und der Regierung in die braune Vergangenheit", verkündete der Projektleiter Prof. Uwe Danker vom Institut für schleswig-holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) am 20. Januar 2015. Anlass war eine Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung zum "Fall Heinz Reinefarth und die Kontinuitäten des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein nach 1945" im Plenarsaal des Landtages. 400 Karrieren von ehemaligen Ministern, Staatssekretären und Landtagsabgeordneten will das Forscherteam untersuchen. Warum die Untersuchung erst so spät kommt? Diese Frage, auf der Veranstaltung vor allem von dem polnischen Journalisten Bartosz Wielinski an die schleswig-holsteinische Politik in Person des Landtagspräsidenten Schlie (CDU) gestellt, wurde eher ausweichend und nicht besonders schlüssig beantwortet. So wurde auf "gesellschaftspsychologische Barrieren" verwiesen, die erst in den 60er Jahren zum Teil durchbrochen wurden, dem aber wiederum 20 Jahre Schweigen folgen sollten, bis es dann in den 80er Jahren kurzzeitig erneut thematisiert wurde. Und auch die abschließende Bemerkung von Prof. Danker ließ die Zuhörer unbefriedigend zurück: Für Danker ist die überaus späte Aufarbeitung aus wissenschaftlicher Sicht kein Nachteil. Quellen, aus denen die Wissenschaftler schöpfen können, gibt es reichlich. Und, fügt Danker hinzu: "Je später, desto emotionsloser kann man da rangehen." Soll wohl heißen: Vor allen Dingen sind so gut wie alle Opfer und Täter tot.

Aber: "Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen." (William Faulkner)


LITERATUR

Siegfried Lenz, Ein Kriegsende. Erzählung. Hamburg 1984 Jochen Missfeldt, Steilküste. Roman, Reinbek 2005 Günther Schwarberg, Tagebuchskizzen unter dem dänischen Strohdach, Hamburg 1997

*

Quelle:
Gegenwind Nr. 320 - Mai 2015, Seite 15-17
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
E-Mail: redaktion@gegenwind.info
Internet: www.gegenwind.info
 
Der Gegenwind erscheint zwölfmal jährlich.
Einzelheft: 3,00 Euro, Jahres-Abo: 33,00 Euro.
Solidaritätsabonnement: 46,20 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juni 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang