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GEGENWIND/698: Erdogans Krieg gegen die Kurden - Buchvorstellung


Gegenwind Nr. 342- März 2017
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein

Buchvorstellung
Erdogans Krieg gegen die Kurden

von Reinhard Pohl


Eigentlich hatte Präsident Erdogan die Verfassungsänderungen als Spaziergang geplant: Erst wurde er vom (regierenden) Ministerpräsidenten zum (repräsentativen) Präsidenten, dann wollte er per Verfassungsänderung seinen Nachfolger entmachten und Alleinherrscher werden. Dazu brauchte er nur einen Wahlsieg mit einer Mehrheit im Parlament, mit dem seine Partei die Verfassung ändern kann.


Doch dann kam alles anders: Die linke HDP überprang die 10-Prozent-Hürde, und die geschwächte AKP Erdogans konnte nicht nur keine Verfassung ändern, sondern auch keine Regierung mehr bilden. Das war im Juni 2015. Und so ergriff Erdogan zwei Maßnahmen: Er startete einen Krieg gegen die kurdische Minderheit, und er setzte im November 2015 Neuwahlen an. Im November holte seine Partei die absolute Mehrheit zurück, der Sprung zur verfassungsändernden Mehrheit gelang aber nicht. Und der Krieg ging weiter, jetzt nicht nur gegen die kurdische Minderheit im eigenen Land, sondern auch gegen Rojava in Syrien.

Die Autorinnen und Autoren arbeiten für das "Lower Class Magazin". Das Buch ist ein Sammelband mit Reportagen aus Kurdistan in der Türkei, im Buch "Nordkurdistan" genannt. Die AutorInnen beschreiben den Krieg in Diyarbakir, Nusaybin, Cizre, Idil, Gever. Überall versucht die kurdische Bevölkerung, eine Selbstverwaltung aufzubauen, am ehesten vermutlich vergleichbar mit der Selbstorganisation im Kosovo 1997 bis 1999. Weitere Reportagen beschreiben das kurdische Leben in den Kandil-Bergen, wo das Oberkommando der PKK seinen Sitz hat.

Die Reportagen geben einen guten Einblick in die kurdische Organisation, vor allem durch Basiskomitees getragen. Diese Organisation ist im Kern unbewaffnet, allerdings gibt es in allen Städten inzwischen Gruppen von Jugendlichen, die die Stadtteile zumindest für eine gewisse Zeit gegen die Besatzungsarmee verteidigen. Die PKK nimmt an diesem Krieg zur Zeit sehr wenig teil, Waffen erhalten die Jugendgruppen eher von der YPG aus Syrien, die in den letzten Monaten von den USA massiv aufgerüstet wurden.

Die türkische Regierung will nicht nur den Krieg führen, um den türkischen Teil der Bevölkerung für die nächsten Wahlen und die Abstimmung über die neue Verfassung zu polarisieren und zu mobilisieren. Verfolgt wird auch der Plan, die verwinkelten Altstädte der kurdischen Städte komplett auszuradieren und die Städte anschließend neue aufzubauen. Der Neuaufbau der Städte soll nicht nur gerade Straßen schaffen, die für Panzer zu passieren sind, sondern auch eine neue Schicht von Mieterinnen und Mieters in die Städte ziehen - die Erdogan-Regierung glaubt, mit einer kurdischen Mittelschicht besser klarzukommen als mit der großen Mehrheit der verarmten Flüchtlinge aus den ländlichen Gebieten, die durch den langen Krieg seit 1984 teilweise entvölkert wurden.

Hinter der Basisorganisation der Kurdinnen und Kurden sehen die Autorinnen und Autoren auch das neue Konzept von Abdullah Özalan, der schon vor längerer Zeit vom Konzept der Unabhängigkeit Abschied genommen hat, heute aber auch die militärische (einige sagen auch: stalinistische) Organisation des Widerstandes ablehnt. Die kurdische Bevölkerung im türkisch Norden organisiert sich heute ähnlich wie im syrischen Westen, nur unter völlig verschiedenen Voraussetzungen. Während die Bevölkerung Rojavas vor der Herausforderung steht, Krieg gegen den "Islamischen Staat" zu führen und ein Modell für das Zusammenleben mit Jesiden, Christen, Arabern, Armeniern, Tscherkessen und anderen zu finden, muss die kurdische Bevölkerung in der Türkei damit leben, dass jede organisatorische Struktur nach einigen Monaten vom türkischen Militär zerstört wird, die Bevölkerung ihre Häuser und Wohnorte verliert, vertrieben wird.

Das Buch leidet ein wenig darunter, dass die einzelnen Reportagen relativ unverbunden nebeneinander stehen und Übersichtsartikel erst auf den letzten Seiten folgen. Außerdem will der Verlag eine Schreibweise im Sinne von "Kurd*innen" durchsetzen und verändert eigenmächtig selbst Zitate türkischer Militärs in diese Richtung, wogegen sich die Autorinnen und Autoren in einer eigenen Stellungnahme wehren.



Lower Class Magazine: Hinter den Barrikaden.
Eine Reise durch Nordkurdistan im Krieg

Verlag edition assemblage, Münster 2016,
184 Seiten, 13,80 Euro

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Quelle:
Gegenwind Nr. 342 - März 2017, Seite 84
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2017

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