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GEGENWIND/760: "Ein Ochsenkopf von Ideen"


Gegenwind Nr. 357 - Juni 2018
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Geschichte
"Ein Ochsenkopf von Ideen"
Vor 200 Jahren wurde Karl Marx geboren

von Günther Stamer


"De omnibus dubitandum - An allem ist zu zweifeln"
"Bookworming"
(Herumstöbern in - Büchern)(1)


"Meine Tanten haben mir oft erzählt, das Mohr als Junge ein schrecklicher Tyrann war; er zwang sie, im vollen Galopp den Marxberg zu Trier hinunterzukutschieren, und was noch schlimmer war, er bestand darauf, dass sie die Kuchen äßen, welche er mit schmutzigen Händen aus noch schmutzigerem Teige selbst verfertigte. Aber sie ließen sich dies alles ohne Widerrede gefallen, denn Karl erzählte ihnen zur Belohnung so wundervolle Geschichten," schreibt Marx' jüngste Tochter Eleanor (genannt Tussy) in ihren Erinnerungen über ihren Vater.(2)

Aber der "Mohr", wie ihn seine Kinder und engsten Freunde riefen, wurde kein professioneller Geschichtenerzähler, kein Literat, sondern Philosoph, Ökonom, kommunistischer Politiker und unfreiwillig Namensgeber des "Marxismus", einer nach wie vor sehr lebendigen Welt- und Politikanschauung.

Anlässlich seines 200. Geburtstages am 5. Mai wurde Marx nun weltweit in den verschiedensten Facetten gewürdigt (z.B. auf Kuba als Carlos Marx, in Vietnam als Kac Mac) und in seiner Geburtsstadt Trier wurde gar ein 4,40 m großes Marx-Denkmal enthüllt, das die Volksrepublik China der Stadt geschenkt hat. Wer hätte im Herbst 1989, kurz nach dem Fall der Mauer, noch einen Pfennig - den Euro gab es damals noch nicht - darauf gewettet, dass in Deutschland jemals wieder eine Karl-Marx-Statue errichtet werden würde?

Marx und die Linke in Deutschland anno 2018

Zweihundert Jahre nach seinem Geburtstag und hundert Jahre nach russischer Revolution und dem revolutionären deutschen November sind die von Marx entwickelten gesellschaftlichen Zielvorstellungen anscheinend weiter denn je von einer Realisierung entfernt: Jenes Programm, das er zunächst negativ formuliert hat in seinem "kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist"(3) - und das er später positiv gewendet hat und als ein sehr vages gesellschaftliches Ziel, als "eine "Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist,"(4) vorgestellt hat.

Knapp dreißig Jahre nach dem Ende des "Realsozialismus" in der DDR stehen Theorie und Praxis einer Politik, die auf ihn Bezug nehmen, in seinem Geburtsland in einem merkwürdigen Missverhältnis. Da gibt es aktuell auf der einen Seite zahllose Veröffentlichen und Tagungen zu Person und Werk, das weit bis ins "bürgerliche Lager" hineinreicht. So gibt es allein in der Buchhandlung Hugendubel in Kiel ein Dutzend Neuerscheinungen, die vorgehen, Neues in Leben und Werk von Marx zu entdecken.

Andererseits fristen politische "kommunistische" Parteien und Organisationen, die sich auf seine Theorie beziehen, ein bescheidenes Nischendasein, weitgehend abgeschnitten von nennenswertem "Masseneinfluss" - darin haben weder die "Finanzkrise" der kapitalistischen Welt vor zehn Jahren, noch der damit verbundene mediale Aufmerksamkeits-Zugewinn der marxschen Theorie etwas grundsätzlich ändern können.

Aktuelles Beispiel: Am 25. April hatte die Fachschaft SoPo der Christian- Albrechts-Universität Kiel in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung im Hörsaal A des Audimax zu einer Veranstaltung "Karl Marx: ein Klassiker ja, aber ein Mann des 19. Jahrhunderts?" eingeladen - gerade mal ein Dutzend Zuhörer lockte diese Veranstaltung in den Hörsaal.

Marx und der Kieler Armenarzt Georg Weber

Relativ wenig bekannt ist, dass Marx und Engels durchaus Verbindungen nach Kiel hatten. Zum einen waren beide mit dem Kieler Arzt Georg Weber bekannt, zum anderen verfolgten sie sehr aufmerksam die schleswig-holsteinischen Ereignisse im Zusammenhang mit der bürgerlichen Revolution von 1848 und die militärischen Auseinandersetzungen mit Dänemark.

Während seiner Kieler Studienzeit war Georg Weber, Sohn einer einflussreichen Kieler Ärztefamilie, in Kontakt mit radikaldemokratischen Ideen des Vormärz gekommen. Das führt dazu, dass er nach Abschluss seines Studiums nach Paris geht, dem damaligen Zentrum revolutionärer Ideen und Köpfe. Dort macht er 1844 die Bekanntschaft mit Marx und weiteren Mitgliedern des "Bundes der Gerechten" und nimmt an deren politischen Debatten intensiv teil. Namhafte Debattenteilnehmer sind neben Marx und Engels auch Michael Bakunin und die Dichter Heinrich Heine, Georg Herwegh und Georg Weerth.

Georg Weber wird Mitglied des "Bundes der Gerechten" und schreibt in Paris für die fortschrittliche deutschsprachige Zeitung "Vorwärts!" nachweislich mehrere Artikel, in denen er die ersten ökonomischen Erkenntnisse von Marx an das Licht der Öffentlichkeit bringt. Ab 1845, nach Kiel zurückgekehrt, wird Georg Weber Kieler Ansprechpartner des von Marx gegründeten Kommunistischen Korrespondenzkomitees, das das Ziel hat, die sich deutschlandweit bildenden kommunistischen Gruppen zu vernetzen. Daraus hervor geht dann auch eine Kieler Gruppe des "Bundes der Kommunisten", die in der Schleswig-Holsteinischen "Erhebung" gegen Dänemark und bei der Bildung von Arbeitervereinen eine gewisse Rolle spielt.

In den 70er Jahren hat Georg Weber dann wieder brieflichen Kontakt mit Karl Marx aufgenommen und ihn 1871, 1873 und 1874 in London besucht. In einem Brief vom 5. Juli 1871 schreibt er, sich in London aufhaltend:

"Lieber Marx!
Wenn Du diese Zeilen öffnest, wirst Du zuerst nach der Unterschrift sehen. Ich weiß nicht, ob Du nach so langen Jahren von unserem gemeinschaftlichen Pariser Aufenthalt her Dich meiner noch erinnern wirst. Indes hoffe ich es, da meine Frau (damals die Frau meines verstorbenen Neffen) mir 1849 mitteilte, daß Du in Kiel gewesen warst(5) und bei ihr Dich nach mir erkundigst hattest. Ich stand damals mit unsern Truppen im Felde und verlor dadurch das Vergnügen, Dich wieder zu sehen. Inzwischen bin ich eine Reihe von Jahren in den Vereinigten Staaten gewesen, dann seit zehn Jahren wieder in Kiel, jetzt zum Besuch "hier, um meine Frau nach längerer Visite bei ihrer hier verheirateten Tochter wieder abzuholen, und ich hoffe nun, daß Du mir Tag und Tageszeit mitteilen wirst, wo ich (wenn es Dir recht ist, nebst Frau und Tochter) Dich in Deiner Behausung aufsuchen dürfe (...)."

Dein alter Freund
G. Weber aus Kiel

Ein Brief aus dem Jahre 1874 zeugt davon, dass sein Jugendfreund ihn offensichtlich mit Freuden aufgenommen hat - dem jedes Mal, Georg Weber in der Folge seinen Verwandten in "London einen Besuch stattete, besuchte er auch Marx.

"Lieber Marx!
Um mich von den Anstrengungen der Praxis zu erholen, habe ich wieder einmal eine Reise hierher gemacht und denke bis Ende des Monats hier zu verweilen. Da würde es mir eine große Freude sein, Dich einmal wieder zu sehen und mich des schönen mit Dir in Paris vertobten Jahres zu erinnern. Wenn Du mir einen Tag und die Tageszeit angeben magst, wo ich, ohne Dich zu stören, Dich aufsuchen darf so erfreust Du

Deinen G. Weber; 4. Juni 1874"(6)

"In seiner Zehenspitze mehr geistigen Fonds als die ganze übrige Gesellschaft in ihren Köpfen"

1848 waren Marx und der kleine Trupp des "Bundes der Kommunisten" aus Paris kommend - ausgerüstet mit dem "Manifest der Kommunistischen Partei" - nach Deutschland zurückgekehrt, und wollten mit einem Schlag Adel und Bourgeoisie zum Teufel jagen. Doch auch damals war der ideologische Überbau der Revolutionäre nicht kompatibel mit der gesellschaftlichen Realität.

Auf die Niederlage der seinerzeit erst im Entstehen begriffenen Arbeiterklasse in diesen Kämpfen eingehend, unterzog Marx in "Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" dem proletarischen Kampfzyklus in Europa in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert einer eingehenden Analyse und benutzte dabei das Bild des Maulwurfs, der seine irdischen Gänge gräbt: In Zeiten offener Klassenkonflikte kommen sie an die Oberfläche, kämpfen, entwickeln Klassenbewusstsein, um sich dann wieder in den Untergrund zurückzuziehen - nicht um dort passiv zu überwintern, sondern um seine Tunnel weiter zu graben, um dann, wenn die Zeit reif ist, an die Oberfläche zurückzukehren. "Brav gewühlt alter Maulwurf"(7) hätte Marx sicher den Kieler Matrosen und ArbeiterInnen vor 100 Jahren zugerufen und all jenen, die auch heute theoretisch und praktisch wirken, damit der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte bleibt.

"Ein Ochsenkopf von Ideen" - so die, archivierte Meinung des preußischen Polizeipräsidenten über Karl Marx anno 1852. "Man weiß, dass er in seiner Zehenspitze mehr geistigen Fond hat als die ganze übrige Gesellschaft in ihren Köpfen." Nach der Niederlage der 48er-Revolution lebte der von preußischen Spionen bespitzelte Dr. Marx als staatenloser Flüchtling im Londoner Stadtteil Soho in Armut und Elend und kam mit seinen ökonomischen Studien, seiner Maulwurfsarbeit, die es mit dem "Kapital" krönen sollte, kaum voran. "Meine Frau ist krank, Jennychen ist krank, Lenchen hat eine Art Nervenfieber. Den Doktor kann und konnte ich nicht rufen, weil ich kein Geld für Medizin habe. Seit 8-10 Tagen habe ich die family mit Brod und Kartoffeln durchgefüttert, von denen es noch fraglich ist, ob ich sie heute auftreiben kann,"(8) heißt es in einem Brief an seinen Freund Engels.

Für Marx und Engels war der Kommunismus zeitlebens "nicht ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt."(9) Zu Lebzeiten sah Marx in der Pariser Kommune (1871) einen ersten praktikablen Anlauf in Richtung einer alternativen Gesellschaft. Mit der Oktoberrevolution in Russland, der chinesischen Revolution und dem "sozialistischen Weltsystem" nach dem 2. Weltkrieg wurden weitere staatlich-ökonomische Gesellschaftsformen etabliert, die sich ausdrücklich auch auf Marx beriefen. Nach 1990 sind dann nach Lesart vieler (beileibe nicht aller) Linker noch Kuba, China und Vietnam übriggeblieben.

Neuerscheinungen (2018) über Werk und Person von Marx. Eine Auswahl

Zum Schluss sei noch aus der Vielzahl der aktuellen Marx-Bücher auf einige verweisen, die der Autor guten Gewissens empfehlen kann.



Dath, Dietmar: Karl Marx. 100 Seiten.
Reclam, Stuttgart, 100 S., 10 Euro

In dieser jenseits aller gelehrig daher kommenden Einführung in das Marxsche Werk und dessen Nachwirkung weckt der Autor (Jahrgang 1970), parteiloser Kommunist, Verfasser von Science-Fiction-Romanen, Sachbüchern und regelmäßiger Mitarbeiter des Feuilleton der FAZ Lust auf mehr Marx. "Eine so explosive Mischung aus Antikapitalismus und Zerstörung linker Illusionen wie die Von Marx ausgeheckte hat man seither nicht wieder gefunden" heißt es in dem Buch.



Fusaro, Diego: Schon wieder Marx.
Die Wiederkehr der Revolution.

Westend-Verlag, Frankfurt, 96 S., 14 Euro

Diego Fusaro (Jahrgang 1983) lehrt Philosophie an der Universität Mailand. In seinem aktuellen Buch veranschaulicht er, wie sehr die gängige Ideologie heute darum bemüht ist, Marx in "entkoffeinierter" Form - also ohne seine revolutionäre Natur - vorzeigbar zu machen. Diego Fusaro betrachtet die aktuelle neoliberale Welt durch die Brille von Marx.



Metscher, Thomas: Integrativer Marxismus.
Mangroven-Verlag, Kassel, 306 S., 25 Euro

Thomas Metscher, (Jahrgang 1934), 1971 bis 1999 Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an der Universität Bremen stellt die Frage nach der Zukunftsfähigkeit des Marxismus. Dieser ist, nach seiner Auffassung, keine Theorie unter anderen innerhalb des Spektrums heute konkurrierender politisch-sozialer und philosophischer Theorien. Der Marxismus ist eine philosophisch begründete Form begrifflichen Wissens, die auf ein perspektivisches Ganzes der Welterkenntnis gerichtet ist, deren ultimatives Ziel die Veränderung der Welt ist; ihrer Veränderung im Sinne der Errichtung eines von Angst, Hass, Hunger und Gewalt befreiten, zum Frieden gereiften Gemeinwesens.


Musto, Marcello: Der späte Marx. Eine intellektuelle Biografie der Jahre 1881 bis 1883.
VSA-Verlag, Hamburg, 144 S., 14,80 Euro

Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, demzufolge Marx in seinen letzten Jahren kaum noch schrieb, zeigt Marcello Musto: Er setzte seine Forschungsarbeit nicht nur fort, sondern erweiterte seine Kapitalismuskritik auf neue Disziplinen. So untersuchte er neuere politische Konflikte, neu auftretende theoretische Fragen (u.a. die Möglichkeit der sozialistischen Revolution in nicht-kapitalistisch entwickelten Ländern) und neue geografische Gebiete (wie Nordafrika). Seine Ideen werden im Lichte später Bemerkungen von Marx über Anthropologie, nicht-westliche Gesellschaften und die Kritik des Kolonialismus reflektiert. Marcello Musto ist Dozent für Soziologische Theorie an der York University (Toronto/Kanada).

Anmerkungen

(1) Marxens Antworten in einem Fragebogen seiner Töchter auf die Fragen "Wie lautet dein Lebensmotto" und "Was ist deine Lieblingsbeschäftigung"

(2) Zit. nach: Enzensberger, Gespräche mit Marx und Engels, Suhrkamp 1981, S. 1

(3) MEW 1, S. 385

(4) MEW 13, S. 9

(5) Nach einem polizeilichen Visum im Pass von Marx war dieser am 4. Mai 1849 in Hamburg. Möglich, dass er damals auch einen Abstecher nach Kiel gemacht hat.

(6) Beide Briefe zit. nach: Schiller: Georg Weber, ein Mitarbeiter des Pariser "Vorwärts". In: Marx-Engels-Archiv. Bd. 2, Frankfurt a. Main 1927, S. 467.

(7) MEW 8, S. 196

(8) MEW 28, S. 128

(9) MEW 3, S. 35

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Quelle:
Gegenwind Nr. 357 - Juni 2018, Seite 15 - 17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2018

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