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GEGENWIND/810: Zu Besuch bei den "Stadtmüttern" in Lübeck


Gegenwind Nr. 369, Juni 2019

Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

"... sie sind jetzt drinnen in der Gesellschaft."
Zu Besuch bei den "Stadtmüttern" in Lübeck

Interview von Reinhard Pohl


Mitten in der Innenstadt Lübeck befindet sich Büro und Kursraum der "Stadtmütter". Dort sitzt eine Gruppen von Frauen rund um den Tisch, unterrichtet werden gerade Kinderrechte. Es geht um die gewaltfreie Erziehung, die Aufgaben des Jugendamtes, mögliche Konflikte, Beratungsmöglichkeiten in der Stadt. Die Frauen kommen aus Armenien, Syrien, Irak, Tunesien, Kasachstan, Russland, Eritrea und mehreren anderen Ländern. Sie lernen für sich selbst, damit sie sich in Deutschland besser zurechtfinden. Sie lernen aber auch für andere, denn nach dem Kurs werden die meisten von ihnen Frauen und Familien im Alltag begleiten und bei Problemen unterstützen.

Dabei ist für die meisten beides gleich wichtig. Sie wollen hier in Deutschland sicherer werden, und zwar in der Sprache und in der Kenntnis von Regelungen und Institutionen. Sie wollen aber auch als Mütter dieser Stadt Verantwortung übernehmen und andere unterstützen. Dabei denken sie nicht nur an Frauen aus dem eigenen Herkunftsland. Wer Russisch oder Arabisch kann, kann Frauen aus vielen Ländern unterstützen - und letztlich können auch alle Deutsch, auch auf Deutsch wird Hilfe, Unterstützung und Begleitung oft benötigt.

Ich spreche anschließend mit der Projektleiterin Susan Al-Salihi:

Gegenwind: Wie kannst Du mit drei Wörtern das Projekt "Stadtmütter" beschreiben?

Susan Al-Salihi: Integration, Berufstätigkeit und Politik.

Gegenwind: Wann seid Ihr gestartet?

Susan Al-Salihi: 2013.

Gegenwind: Was war die erste Idee? Wen wolltet Ihr erreichen? Was sollten die Teilnehmerinnen erreichen?

Susan Al-Salihi: Wir wollten Frauen erreichen, die isoliert sind, die keine Kontakte mit der Gesellschaft haben. Sie haben aber viel mitgebracht, sie wollen damit hier arbeiten. Sie wollen ihre Fähigkeiten auch beruflich nutzen, aber sie haben keine Chance.

Gegenwind: Mit wie vielen Frauen seid Ihr gestartet?

Susan Al-Salihi: Der Kurs startet immer mit 14 Frauen. Im ersten Kurs waren 13 Frauen.

Gegenwind: Konzentriert Ihr Euch auf bestimmte Herkunftsländer?

Susan Al-Salihi: Gar nicht. Alle Frauen, die Lust haben, die rausgehen wollen, in Bewegung sein wollen, für sich was schaffen wollen, sollen kommen.

Gegenwind: Ist der Schwerpunkt, dass die Frauen für sich etwas verändern? Oder sollen sie vor allem anderen helfen?

Susan Al-Salihi: Beides. Beides ist uns wichtig, und beides ist auch für die Frauen wichtig. Sie sagen immer, wir wollen den anderen helfen, aber wir wissen am Anfang zu wenig. Deshalb nehmen sie am Anfang alles für sich, und dann geben sie das weiter. Aber dadurch wollen sie auch was erreichen und nicht ewig ehrenamtlich arbeiten.

Gegenwind: Was lernen sie hier? Welches sind die Themen im Kurs?

Susan Al-Salihi: Wir haben ein Curriculum, aber wir passen das immer an die Gruppen an. Was wir immer weitergegeben und unterrichtet haben, ist das deutsche Bildungssystem, Kinderrechte, Gewaltprävention, aber auch Prävention von Kinder-Unfällen, Familienrecht, Umgang mit Menschen mit Behinderung, Geschlechterrollen. Themen wir Kommunikation und politisches System, haben wir z.B. im letzten Jahr durchgenommen.

Gegenwind: Geht Ihr dabei auch auf aktuelle Ereignisse ein? Bürgermeisterwahl, Europawahl?

Susan Al-Salihi: Ja, sicher. Im letzten Jahr hat uns die Bürgermeisterwahl hier in Lübeck beschäftigt. Denn die Teilnehmerinnen hatten kaum eine Ahnung davon, wer steht überhaupt zur Wahl. Wir haben z.B. die Homepages recherchiert, und nach der Wahl haben wir auch beim Programm geschaut, ob die Ziele des neuen Bürgermeisters uns ansprechen. Das fanden die Stadtmütter ganz besonders. Denn in der Heimat haben sie das Recht nicht. Sie haben nur eine Person, die zur Wahl steht und die sie wählen sollen. Und dieser Person können sie gar nicht begegnen.

Du hast ja die Gruppe heute kennen gelernt. Diese Gruppen haben wir von Anfang an gefragt: Wisst Ihr, wer der Bürgermeister ist? Von 15 Frauen, man kann auch sagen 15 Familien wusste keine, wer der Bürgermeister ist. Und heute sind wir in der Phase, wo Stadtmütter zu uns kommen und sagen, ich habe den Bürgermeister auf der Straße getroffen und er hat mich begrüßt. Und er erkannte mich, er wusste dass ich eine Stadtmutter bin. Das ist eine erfolgreiche Geschichte für die Stadtmütter selbst, dass sie das Gefühl haben, sie sind jetzt drinnen in der Gesellschaft, sie haben eine Rolle, sie dürfen diese Rolle spielen, sie dürfen ihre Meinung sagen, sie dürfen in der Gesellschaft mitmischen.

Gegenwind: Gibt es am Ende des Kurses eine Prüfung? Kann man sagen, ab diesem Zeitpunkt dürfen auch andere beraten oder begleitet werden?

Susan Al-Salihi: Die Voraussetzung, um überhaupt an dieser Fortbildung teilzunehmen, das ist das B1-Niveau. Das muss nicht das offizielle Zertifikat sein, sie müssen auf diesem Niveau verstehen und Informationen weitergeben können. Wir hatten letztes Mal eine Frau, die war vom Jobcenter angewiesen, dass sie einen B1-Kurs besucht und auch B1 schafft. Sie hat gesagt, ich lerne hier bei den Stadtmüttern nicht nur die Sprache, sondern viel mehr, und ich kann meine Sprache auch hier verbessern und nicht in einem B1-Kurs. Sie hat sich dafür entschieden, dass sie hier bleibt bis zum Ende der Fortbildungsphase, und danach machte sie die Prüfung alleine. Sie hat es geschafft, sie hat bestanden.

Wer darf nachher Stadtmütter werden? Da spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Erstmal werden die Anwesenheit und die Pünktlichkeit geprüft, haben sie alle Themen mitgemacht? Wenn sie ein oder zwei Themen versäumt haben, können sie die im nächsten Kurs nachholen. Wenn sie mehr als zwei Themen versäumt haben, dann bekommt sie von uns keine Urkunde, sondern nur eine Teilnahmebestätigung.

Gegenwind: Was machen die Frauen, wenn sie mit dem Kurs fertig sind?

Susan Al-Salihi: Dann sind sie Stadtmütter. Sie nehmen dann die Termine wahr. Diese Termine sind sehr vielfältig, sie haben verschiedene Möglichkeiten. Sie machen Hausbesuche. Hausbesuche heißt, die Stadtmutter geht in die Familie rein und klärt das auf, je nachdem, was die Familie braucht. Zum Beispiel, wenn es um ein Kind geht, das eingeschult wird, wird das Thema "deutsches Bildungssystem" weiter gegeben. Oder wenn es um Gewalt in der Familie geht, was wir gottseidank selten hier haben, dann muss sie genau gucken, wie sie zum Beispiel dieser Frau weiterhelfen kann. Sie soll sie nicht zwingen oder überreden, ins Frauenhaus zu gehen, sie soll sie aufklären, welche Beratungsstellen es gibt, welche verschiedenen anderen Möglichkeiten es gibt. Sie kann dann erstmal zur Beratungsstelle gehen.

Es gibt aber Frauen, die sagen, es ist schwierig für mich, an der Tür zu klopfen und einfach reinzugehen, auch wenn es Verwandte oder Familien aus der Nachbarschaft sind. Für die ist es besser, keine Hausbesuche zu machen, sondern Begleitung. Das heißt, sie gehen mit einer Familie zum Arzt. Ganz aktuell haben wir auch das Thema Wohnungssuche. Da helfen die Stadtmütter den Familien, sie suchen zusammen, sie recherchieren, gucken welche Möglichkeiten es gibt, das nennen wir Begleitung.

Es gibt aber auch Frauen, die gerne in die Öffentlichkeit gehen. Dann machen sie die Öffentlichkeitsarbeit bei uns. Das heißt die Teilnahme an Demos, als Gäste in den Bürgerschaftssitzungen und Sozialausschuss, um zu lernen, wie das alles hier funktioniert.

Die vierte Möglichkeit ist für die ganz fitten Frauen. Wenn sie wissen, sie haben schon das und das und das gemacht und können jetzt nicht nur eine Frau oder eine Familie erreichen, sondern mehrere: Dann machen sie eine Veranstaltung. Dann gehen sie zum Beispiel zu einem Frauenfrühstück in einem Familienzentrum, stellen sich als Stadtmutter vor und referieren über ein Thema. Das wurde sehr begrüßt von verschiedenen Familienzentren, die die Stadtmütter gewünscht und eingeladen haben. Die Stadtmütter haben solche Veranstaltungen in verschiedenen Sprachen gemacht. Aber es war natürlich immer Deutsch dabei.

Gegenwind: Wie werdet Ihr darauf gestoßen, dass eine Familie einen Besuch braucht? Sind es Behörden oder Beratungsstellen oder Nachbarn? Wer sagt Euch Bescheid?

Susan Al-Salihi: Die Aufgaben sind vielfältig. Die Stadtmütter fangen erst mal alleine an, die Familien zu suchen. Sie erkundigen sich bei Verwandten oder Nachbarn, manchmal erleben sie auch zufällig im Wartezimmer beim Arzt, Schule oder irgendeine Behörde dass dort eine Frau Hilfe braucht. Sie kann dann einspringen und sich als Stadtmütter vorstellen, die Unterstützung anbietet. Die andere Möglichkeit ist, dass wir viele Anfragen von verschiedenen Einrichtungen bekommen. Da müssen wir darauf achten, dass wir unsere Qualitative Nachhaltigkeit nicht verlieren. Z.B. wenn uns eine Schulsozialpädagogin aus einer Schule anruft und sagt, ich hätte hier gerne eine Stadtmutter, die Arabisch spricht, weil sie mit dieser Familie nicht weiterkommen kann, dann geht es natürlich um die Sprachbarriere auf einer Seite, aber es geht auch um die kulturellen Hintergründe, die diese Stadtmütter haben. Ganz einfach geht es dann nicht nur um dieses Gespräch, sondern darum, danach dieser Familie weiter zu unterstützen, indem sie eine sehr vertrauliche Basis miteinander schaffen.

Gegenwind: Kann man denn sagen, das ist eine Kultur, da kenne ich mich aus? Du kommst selbst aus dem Irak. Eine jesidische Familie ist anders als kurdische Sunniten, Schiiten im Dorf sind anders als Schiiten in der Stadt. Wie viele Kulturen muss man denn kennen, um Leute aus dem Irak zu beraten?

Susan Al-Salihi: Das ist eine sehr gute Frage. Kommt darauf an, was ich mit meiner Hilfe erreichen will. Ziel ist es, die anderen dabei zu helfen, sich hier besser und schneller zu integrieren, eine Stadtmutter kann dies in leichter Sprache erklären und von ihren eigenen Erfahrung berichten, dass es für die Familien leichter zu verstehen ist, egal welche religiöse Hintergrund sie hat.

Gegenwind: Wie ist das hier mit den Stadtmüttern? Trauen sie sich auch an Beratungen ran von Leuten aus anderen Ländern? Oder machen sie auch Beratungen in anderen Sprachen, können sie auf Deutsch einer Familie helfen?

Susan Al-Salihi: Das haben wir tatsächlich gerade gehabt. Eine persische Frau hat einer deutschen Frau geholfen, weil die deutsche Frau sich nicht traute, zur Behörde zu gehen. Sie traute sich nicht, jemanden vom Amt anzusprechen.

Gegenwind: Verliert Ihr auch Teilnehmerinnen? Die besten haben doch Chancen, auch einen Job in Köln oder Frankfurt zu kriegen.

Susan Al-Salihi: Ich würde nicht sagen, dass wir sie verlieren. Wir versuchen mit Ihnen immer in Kontakt zu bleiben. Deshalb machen wir zweimal im Jahr Stammtisch für die ehemaligen Stadtmütter, dass sie auch kommen, erzählen was sie gemacht haben, was sie zur Zeit machen, was brauchen sie von uns und so weiter. Manche aktive bzw. Teilnehmerinnen steigen aus verschiedenen Gründen aus z.B. Arbeit, Schwangerschaft oder Umzug.

Gegenwind: Wie viele Stadtmütter waren bisher in den Kursen?

Susan Al-Salihi: Bis jetzt haben wir insgesamt 168 Frauen fortgebildet.

Gegenwind: Und wie viele davon kommen zu den Treffen?

Susan Al-Salihi: Es ist immer unterschiedlich.

Gegenwind: Wie viele seid Ihr im Team? Und wie teilt Ihr Euch die Arbeit auf? Was macht Ihr konkret?

Susan Al-Salihi: Wir sind drei. Ich mache die Koordination, Öffentlichkeitsarbeit und die politische Arbeit. Teilweise referiere ich 2 Themen im Kurs. Meine Kollegin Anna Skrundz macht die pädagogische Arbeit, was den Kurs und das Coaching betrifft und kümmert sich um das Praktikum. Und Elena Zhukov macht die Verwaltung, Statistik, Fahrtkostenabrechnung und die ganze Büroarbeit.

Gegenwind: Wer finanziert das Ganze?

Susan Al-Salihi: Das Ganze finanziert seit 2013 die Possehl-Stiftung als Hauptfinanzierungsquelle, dank der Friedrich Blume und Else Jebsen Stiftung, die uns teilweise auch fördern. Das Tochter-Kinderprojekt hat der Integrationsfonds der Hansestadt Lübeck letztes Jahr gefördert.

Gegenwind: Gibt es auch Gegnerinnen oder Gegner des Projektes?

Susan Al-Salihi: Nein! Sogar die AFD sind von uns überzeugt.

Gegenwind: Ist das Projekt denn langfristig gesichert?

Susan Al-Salihi: Bis jetzt haben wir die Finanzierung nur für dieses Jahr durch die Possehl-Stiftung gesichert. Nächstes Jahr finanziert sie das Projekt nur anteilig, vorausgesetzt, dass die Stadt das mitfinanziert.

Gegenwind: Und was macht Ihr dann?

Susan Al-Salihi: Wir sind jetzt überall vertreten. Keine findet das Projekt nicht unterstützungswürdig! Auch der Bürgermeister, der meint "das ist genau was wir brauchen". Also wir werden uns weiter bemühen, um die dauerhafte Finanzierung zu schaffen. Wir werden uns weiter politisch engagieren und in Bewegung sein.

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Quelle:
Gegenwind Nr. 369, Juni 2019, Seite 32
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2019

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