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GEGENWIND/858: Expedition Grundeinkommen - Per Volksentscheid zum staatlichen Modellversuch!


Gegenwind Nr. 377, Februar 2020
Politik und Kultur in Schleswig-Holstein & Hamburg

Expedition Grundeinkommen: Per Volksentscheid zum staatlichen Modellversuch!

von Johannes Michael Wagner *


Die Bundessozialgesetzgebung ist vor die Wand gefahren und bedarf dringend einer Erneuerung. Eine bundesweite Kampagne startet daher jetzt in fünf Bundesländern Volksabstimmungen zur Erforschung des bedingungslosen Grundeinkommens - auch in Schleswig-Holstein und Hamburg.

Wer im Kapitalismus lebt, benötigt Geld, um die eigenen Grundbedürfnisse erfüllen zu können. Ansonsten sind soziale Teilhabe, körperliche Unversehrtheit und andere Grundrechte bedroht. Der Sozialstaat muss also schützend eingreifen, um diese zu garantieren - was hierzulande über Geldzahlungen umgesetzt wird, die das finanzielle "Existenzminimum" sicherstellen sollen.

Seit den Hartz-Reformen ist es dabei Praxis, dass diese Zahlungen an die Eigenschaft der "Hilfebedürftigkeit" geknüpft sind. Diese wird dabei nur anerkannt, wenn keine anderweitigen Mittel zur Verfügung stehen, um das eigene Existenzminimum selbst zu sichern. Mit anderen Worten: Der Staat hilft erst dann, wenn man schon arm ist. Er sieht seine Aufgabe also nicht darin, Armut zu verhindern, sondern nur darin, sie zu verwalten.


Ein Minimum ist nicht kürzbar

Doch auch für bereits arme bzw. hilfebedürftige Menschen sieht die Sozialgesetzgebung eine Pflicht, bei der Wiederherstellung ihrer finanziellen Selbständigkeit mitzuwirken: der "Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt". Werden aus Sicht des Jobcenters nicht genug Bewerbungen geschrieben oder gar ein Termin verpasst, kann die "Fallbearbeiterin" dafür Strafen verhängen - z.B. in Form von Kürzungen der Geldzahlungen. Der Gesetzgeber hat bei diesen "Sanktionen" bislang billigend in Kauf genommen, dass damit auch ganz bewusst die Grenze des Existenzminimums unterschritten wird.

Kürzlich hat jedoch das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass dies grundrechtlich problematisch ist, und auch der Europäische Gerichtshof hat ähnlich argumentiert: Wenn der Staat den Menschen eine bestimmte Summe Geldes als Existenzminimum garantiert, darf er nicht unerwünschtes Verhalten sanktionieren, indem er den Betrag unter dieses Minimum kürzt. Damit bricht er sonst sein sozialstaatliches Versprechen. Das leuchtet ein: Wenn es in seiner Höhe gekürzt werden kann, ist ein Minimum kein Minimum mehr und eine Grundsicherung keine Grundsicherung, sondern nur ein reines Lippenbekenntnis.

Ursprünglich wurden die Hartz-Reformen unter Rot-grün durchgeführt, um die Kosten für Arbeitskräfte in Deutschland zu senken - man nannte dies "die internationale Wettbewerbsfähigkeit steigern". Dieses Projekt hatte aus ökonomischer Sicht auch einigermaßen Erfolg - Deutschland wurde zum Konjunkturmotor einer ansonsten strauchelnden EU-Wirtschaft. Während besonders in den südeuropäischen Ländern ganze Jahrgänge arbeitslos sind und u.a. in Deutschland Arbeit suchen, erwirtschaftet unsere Staatskasse sensationelle Überschüsse.


Wir brauchen ein Grundrecht auf Einkommen

Mit den Hartz-4-Sanktionen kapituliert der Sozialstaat also seit 15 Jahren vor dem Interesse des "freien Marktes" an billigen Arbeitskräften und nimmt hin, dass den Armen als "Strafe" für ihre Unfähigkeit oder Unwilligkeit ihre Grundrechte verwehrt werden. Die Gesellschaft lässt ihre schwächsten Mitglieder bis unter die Armutsgrenze fallen und arrangiert sich im Ergebnis langfristig mit der Tatsache, dass es Armut in ihrer Mitte gibt - de facto Armut per Gesetz.

Wenn wir dies nicht wollen, sondern es als Gesellschaft mit den Grundrechten ernst meinen, müssen wir konsequenterweise auch ein Grundrecht auf Einkommen einführen: Sofern die Befriedigung der Grundbedürfnisse nicht kostenfrei zur Verfügung möglich ist, muss der Sozialstaat dem einzelnen Menschen ausreichende Geldmittel auszahlen, um die Erfüllung dieser Grundbedürfnisse gewährleisten zu können. Wenn diese Geldmittel gekürzt werden, werden effektiv auch die Grundrechte verwehrt - deshalb muss dieses Mindesteinkommen vom Staat auch ohne Mitwirkung oder andere Bedingungen garantiert werden.

Ein solches Grundrecht auf Einkommen kann auf verschiedene Weisen realisiert werden. Der naheliegendste und vermutlich einfachste Schritt wäre es, die Sanktionen beim ALG 2 umgehend komplett abzuschaffen. Eine Abschaffung der Sanktionen würde den Druck auf "Hilfebedürftige" mindern, jede bezahlte Arbeit annehmen zu müssen, die ihnen im Jobcenter angeboten wird. Auch ohne bezahlte Arbeit und ohne den Versuch, eine solche zu finden, wäre ihnen zumindest das Existenzminimum als monatliche Einnahme staatlich garantiert.


Private Gewinninteressen gegen das Allgemeinwohl

Der blühende Arbeitsmarktsektor "prekäre Beschäftigung", der mit den Hartz-Gesetzen geschaffen wurde, könnte daraufhin allerdings zusammenbrechen, weil viele Menschen nicht mehr für einen Hungerlohn arbeiten gehen würden. Man fragt sich vielleicht: Wer könnte etwas dagegen haben? Wer ist dagegen, dass Menschen von ihrem Einkommen durch Vollzeitarbeit auch für die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse bezahlen können? Die traurige Wahrheit ist: Offenbar gibt es unter uns ausreichend starke gesellschaftliche Kräfte, um diesen prekären Arbeitsmarkt damals zu schaffen und ihn heute aufrechtzuerhalten. So sehen die politischen Mehrheiten jedenfalls faktisch aus, sonst wären die Gesetze wohl bereits geändert.

Volkswirtschaftlich gesehen sind die Prognosen relativ eindeutig: Die Staatskasse würde durch die Abschaffung des gigantischen Hartz-4-Kontrollapparates im großen Stil Gelder einsparen. Die Jobcenter könnten mehr Ressourcen auf die Unterstützung derjenigen verwenden, die tatsächlich eine bezahlte Arbeit aufnehmen wollen. Diese würden sich damit wiederum an der Erwirtschaftung des Bruttoinlandsproduktes und damit auch der Steuereinnahmen beteiligen können. Die allgemeine Binnennachfrage würde steigen.

Betriebswirtschaftlich jedoch ist es für einzelne Unternehmen effektiv, möglichst niedrige Löhne zu bezahlen, um billiger produzieren zu können. Mit dem trügerischen Versprechen des sog. Trickle-Down-Prinzips, allgemeines Wirtschaftswachstum würde allen Schichten der Gesellschaft zugute kommen und nicht nur die Taschen der ohnehin schon Reichen füllen, schaffen es diese Reichen jedoch immer wieder, Wahlen zu gewinnen: "Wenn es der Wirtschaft gut geht, geht es uns allen gut!". Doch sind Armut und Ausbeutung wirklich gute Grundlagen für eine erfolgreiche Ökonomie?


Im Feldversuch das Grundeinkommen testen

Das bedingungslose Grundeinkommen stellt eine Alternative zur derzeitigen Sozialgesetzgebung dar, die ein allgemeines Recht auf Einkommen begründen soll, ohne dabei die Interessen der Unternehmen zu ignorieren. Entbürokratisierung und Förderung von Eigeninitiative können sowohl Bedürftigen als auch Unternehmen zugute kommen. Angesichts von Digitalisierung und demografischem Wandel sind neue Lösungen in der Sozialpolitik nötig, die nicht in den alten Denkmustern und politischen Lagern verhaftet sind. Auch die Jamaika-Koalition hatte sich diese Idee zu Regierungsantritt auf ihre Fahnen geschrieben - seitdem hat man aber leider nicht mehr viel davon gehört.

Um das Grundeinkommen bundesweit zu diskutieren und eine alternative Sozialpolitik anzubieten, die auch konkret von der Bevölkerung eingefordert und beschlossen werden kann, gibt es seit einigen Wochen die "Expedition Grundeinkommen". Kern dieser Kampagne ist die Forderung nach einem staatlich organisierten Feldversuch, der 2023 beginnen soll. Dieser soll wissenschaftlich erforschen, was ein bedingungsloses Grundeinkommen mit den Menschen macht - und mit den Regionen, in denen sie leben.

Der Weg zum Feldversuch führt über Volksabstimmungen auf Länderebene. Diese sind verbindlicher als Petitionen und demokratischer als politisches Lobbying, weil hier die Bevölkerung einen konkreten Gesetzesentwurf beschließt, der dann von den Regierungen umzusetzen ist. Außerdem ergeben sich auf dem Weg zum Volksentscheid viele Anlässe, um über Veranstaltungen, Veröffentlichungen und andere Aktivitäten über verschiedene Vorstellungen und Ideen für ein bedingungsloses Grundeinkommen zu sprechen.


Gesetzentwurf setzt den Rahmen für den Modellversuch

Konkret startet jetzt die erste Stufe (Volksinitiative) in Schleswig-Holstein, Brandenburg, Hamburg, Berlin und Bremen, da in diesen Ländern entsprechende Volksabstimmungen durchführbar sind. Dabei müssen viele Unterschriften gesammelt werden, um den Gesetzentwurf dem Landtag zur Prüfung vorlegen zu können. In einer zweiten Stufe (Volksbegehren) kann dann die landesweite Abstimmung in der dritten Stufe (Volksentscheid) herbeigeführt werden. Stimmt hier eine qualifizierte Mehrheit für den Gesetzentwurf, muss die Landesregierung ihn umsetzen.

Der Gesetzentwurf legt wissenschaftliche Mindeststandards des Experiments sowie die Parameter des Feldversuchs fest. Dazu gehören die Größe des Experiments (über alle Bundesländer zusammen 10.000 Teilnehmende), die Laufzeit (mindestens 3 Jahre) sowie die Mindesthöhe der verschiedenen getesteten Varianten von Grundeinkommenszahlungen. Alle Varianten müssen dabei so modelliert sein, dass neben dem Grundeinkommen kein Bedarf an Sozialleistungen zur Deckung des Existenzminimums besteht.

Die Volksgesetzgebungsprozesse sind so geplant, dass die finalen Abstimmungen zeitgleich mit der kommenden Bundestagswahl im September 2021 stattfinden können. Dadurch wird das Thema auch bundespolitisch auf die Wahlkampf-Agenda gesetzt. Die Expedition braucht tatkräftige Unterstützung, um ins Ziel zu kommen - beim Unterschriftensammeln, begleitenden Bildungsveranstaltungen oder der Verbreitung der Kampagne. Das Grundeinkommen braucht euch: Macht mit und seid Teil der Expedition!


* Expedition Grundeinkommen in Schleswig-Holstein

Weblinks:

Informationen zur Volksinitiative:
www.expedition-grundeinkommen.de

Informationen zum Grundeinkommen:
www.grundeinkommen.de

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Quelle:
Gegenwind Nr. 377, Februar 2020, Seite 7-9
Herausgeber: Gesellschaft für politische Bildung e.V.
Schweffelstr. 6, 24118 Kiel
Redaktion: Tel.: 0431/56 58 99, Fax: 0431/570 98 82
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2020

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