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GEHEIM/302: Schreddern befreit


GEHEIM Nr. 2/2012 - 31. Juli 2012

Schreddern befreit
Die Bundesregierung nutzt den NSU-Skandal zum weiteren Umbau der Intelligence Community

von Ingo Niebel



Das Schreddern von Papier befreit nicht nur von historischen Altlasten, sondern es schafft auch Platz für Neues. Der dadurch anfallende Papierberg und -staub eigenen sich des Weiteren hervorragend, um interessierten Betrachtern den Blick auf das Wesentliche zu nehmen. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich nutzte die jüngste bekanntgewordene Schredderaktion im Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), der einige Akten zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zum Opfer gefallen sind, um die Neuordnung der deutschen Geheimdienst- und Polizeigemeinde, so weit es seinen Amtsbereich betrifft, in eine neue Phase zu führen. Das geschieht im Einklang mit dem Bundeskanzleramt. Die Generallinie von Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem Bundespolizeiminister scheint im Moment der Devise zu folgen: "Sicherheitsappartschiks ersetzen Beamte". Das Ziel ist es, die Schlüsselpositionen durch vertrauenswürdige und vor allem ergebene Gefolgsleute zu besetzen.

Ähnlich wie in der Euro-Krise setzt die Regierung hier auf eine Politik der Stärke und nicht des Konsens. Die Zeiten sind vorbei, in denen Regierung und Opposition sich über die Besetzung der Spitzenpositionen im Sicherheitsapparat der Bundesrepublik absprachen. Die Stärke der Exekutive resultiert aus den anhaltend guten Umfrageergebnissen für die beiden christlichen Unionsparteien CDU und CSU. Ob mit oder ohne den liberalen Koalitionspartner FDP sieht es so aus, dass, wenn nicht noch tiefgreifende und ungewöhnliche Veränderungen eintreten, Merkel auch nach der Bundestagswahl 2013 weiterregieren wird.

Das ist für sie eine gute Voraussetzung, um die Grundlagen für eine neue "Sicherheitsarchitektur", wie es im aktuellen Polit-Sprech heißt, zu legen. Seit jeher bestimmte die jeweils aktuelle Militärdoktrin das Wesen des Sicherheitsapparates. Das hat sich heutzutage nicht wesentlich geändert. Nach allgemeiner Lesart besteht die strategische Hauptaufgabe der Bundeswehr darin, der deutschen Industrie und Wirtschaft den Zugang zu den Rohstoffen und Märkten weltweit zu gewährleisten. Gleichzeitig gilt die Prämisse, dass Deutschland in seiner unmittelbaren Nachbarschaft weiterhin von "Freunden umzingelt ist", wie es in 1990er Jahren der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe (CDU) ausdrückte.

Diese Neuausrichtung der deutschen Geo- und Außenpolitik ist noch nicht abgeschlossen und unterliegt, wie allein die Finanzkrise der Europäischen Union zeigt, einem konstanten Wandel. Während die deutschen Außenpolitiker nach dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes 1990 ihren Horizont neu justiert haben, hinkt die Intelligence Community trotz aller Veränderungen dieser Entwicklung hinterher. Ihre Struktur entspricht immer noch den Vorgaben des Kalten Krieges (1945/49-1990). Diese hat sich auch nicht wesentlich dadurch geändert, dass die Geheimdienste und Polizeien nach den Anschlägen vom 11. September 2001 neue Befugnisse erhielten. Die Organisationen bestanden in ihrer alten Form fort. Bestenfalls erfolgten intern umfassendere Reformen, wie sie zum Beispiel beim Wandel des Bundesgrenzschutzes zur Bundespolizei vonstattengingen. Hinzu kamen zwar diverse neuartige "Abwehrzentren", die aber eigentlich nichts anderes machten, als das historisch und politisch begründete Trennungsgebot von Polizei und Geheimdiensten zu unterlaufen. Vom technischen Effizienzgedanken betrachtet ist das eine organisatorische Flickschusterei, die mehr oder minder erfolgreich versucht, die Defizite der föderalgewachsenen Strukturen zu überwinden, ohne dabei jemandem politisch auf die Füsse zu treten.

Mit Blick auf die Zukunft benötigt das aktuelle politische und ökonomische System einen umfassenderen Auslandsgeheimdienst als den aktuellen Bundesnachrichtendienst (BND). Die Schlapphüte aus Pullach müssen erstens in der Lage sein, die Regierung rechtzeitig vor den Meinungswechseln gewisser klammer EU-Partner bei der Umsetzung von Sparplänen zu warnen. Zweitens sind sie gefordert, die Bundeswehr mit jenen Informationen zu beliefern, die die Streitkräfte nicht durch die eigene Aufklärung mittels Satelliten und Drohnen zu beschaffen. Hinzu kommt, dass der BND in der Lage ist, sogenannte "terroristische Bedrohungen" vorzeitig zu erkennen und gegebenenfalls zu eliminieren.

Dabei ist es irrelevant, ob es sich um einen Einzeltäter handelt oder um eine ausländische Organisation oder um eine Operation unter falscher Flagge eines "Partnerdienstes".

Im Innern benötigt das politische Berlin einen Polizei- und Informationsdienst, der in der Lage ist, neben der Kriminalitätsbekämpfung und Spionageabwehr den Fortbestand des aktuellen Systems zu garantieren. Auch hierbei ist es aus technischer Sicht irrelevant, ob ein Ausländer den Tod seiner Angehörigen durch deutsche Soldaten rächen will oder der Geheimdienst einer fremden Macht in Deutschland eines seiner Spielchen spielen möchte. Wenig thematisiert, aber angesichts kapitalistischer Krisen immer wichtiger, wird die Wirtschafts- und Industriespionage und deren Abwehr. Allerspätestens bei der VW-Opel-Affäre 1993 um den Manager Iñaki López de Arriortua wurde auch die deutsche Öffentlichkeit gewahr, dass US-Unternehmen wie General Motors notfalls auch die Dienste ihres technischen Geheimdienstes NSA in Anspruch nehmen können, wenn sie schnellstens wissen wollen, wie beispielsweise die Konkurrenz aus Wolfsburg gedenkt, in dieser Angelegenheit zu handeln.

Allein das wiederum bedingt, dass Berlin sein Polizei- und Geheimdienstwesen so reformiert, dass die historisch gewachsene Einflussnahme der US-Dienste auf Normalnull zurückgefahren wird. Das aber bedarf grundlegender Veränderungen, bei denen alte Strukturen zerschlagen werden müssen.


Vorschlaghammer NSU

Da momentan weitere Informationen über das Leben und Sterben des terroristischen NSU und seiner Nähe zu den Geheimdiensten nicht vorliegen, lässt sich im Augenblick nur festhalten, dass Bundesinnenminister Friedrich den Skandal nutzt, um den Verfassungsschutz in Bund und Ländern weichzuklopfen. Dass der Chef des BfV, Heinz Fromm, und die Leiter zweier Landesämter wegen der Schredderaktion und anderen Vorfällen mit Geheimakten ihre Posten räumten, zeigt wie angeschlagen und isoliert der Inlandsgeheimdienst ist. Als Organisation befindet er sich in der Zwickmühle: Alles, was er macht oder eben nicht, kann gegen ihn verwendet werden. Sinn und Zweck der Kölner Schredderaktion (und ähnlicher Vorkommnisse bei anderen Behörden) kann neben dem Respekt vor dem Datenschutzgesetz ein Anflug von Selbstschutz gewesen sein oder nachgeordnete Beamte wollten sich mit diesen Liebesdiensten für höhere Aufgaben empfehlen. Fromms Rücktritt mag ursächlich mit dem NSU-Skandal zusammenhängen, aber von seiner bevorstehenden Pensionierung aus Altersgründen mal abgesehen, steht auch die Möglichkeit im Raum, dass der SPD-Mann sich geweigert hat, "seine" Kölner Behörde den Berliner Wünschen nach umzubauen.

Wie dem auch sei, der gemeinschaftliche Abgang der drei hochrangigen Verfassungsschützer signalisierte Friedrich, dass er bei seinen Plänen auf keine Unterstützung aus dem Dienst zählen kann. Völlig logisch ist daher seine Entscheidung, einen seiner Vertrauten - Hans-Georg Maaßen - an den Rhein zu schicken (s. Agent des Quartals, S. 28 [der Printausgabe]).

Die Zukunft des Verfassungsschutzes lässt sich zwischen einer starken Zentralisierung und der Reduzierung auf einen Nachrichtendienst bis hin zur kompletten Auflösung verorten. Falls Letzteres gewünscht ist, werden Kanzleramt und Innenministerium wohl noch einmal in die NSU-Kiste greifen müssen. Das dürfte sich sowieso als notwendig erweisen, weil der Ermittlungsrichter bereits vor einigen Wochen angedroht hat, die letzten beiden NSU-Verdächtigen aus der Untersuchungshaft zu entlassen, wenn die Polizei ihm nicht bald handfeste Beweise für ihre Tatbeteiligungen präsentiert.

Für Friedrich und Merkel könnte das eher Wasser auf ihre Mühlen sein und den Umbau der Intelligence Community weiter vorantreiben. In der Politik gibt es bekanntlich keine schlechten Nachrichten, sondern nur schlechte Public Relation.


Neue Besen kehren besser

Ob Friedrich diesen Spruch beherzigt, bleibt abzuwarten. Auf dem ersten Blick scheint es so, als ob ihm ziemlich egal war, als er die Führungsriege der Bundespolizei handstreichartig komplett neubesetzte.

Ab dem 1. August 2012 wird der Jurist Dieter Romann die Bundespolizei leiten. Bisher stand er dem Referat Ausländerterrorismus und Ausländerextremismus im Bundesinnenministerium vor. Auch seine beiden Stellvertreter, Jürgen Schubert und Franz Palm, kommen aus dem BMI. Ersterer leitete dort die "Angelegenheiten der Bundespolizei", letzterer das Haushaltsreferat. Man darf gespannt sein, wie die 40.000 Bundespolizisten auf diese Outsider reagieren werden. An ihrem Korpsgeist war bereits Innenminister Thomas de Maizière gescheitert, als er die Bundespolizei mit dem Bundeskriminalamt (BKA) zum deutschen FBI fusionieren wollte. Aber auch die ebenfalls auf Eigenständigkeit pochende Wiesbadener Behörde will Friedrich mit einem neuen Präsidenten auf Linie bringen. BKA-Chef Jörg Ziercke weiss bereits, dass er nach Ablauf seines Sechs-Monats-Vertrags zum Jahresende definitiv in den Ruhestand gehen wird. Ihm könnte der jetzige Leiter der Sicherheitsabteilung im BMI, Stefan Kaller, folgen. Bereits letztes Jahr hatte sein Vorgänger Gerhard Schindler die Leitung des BND übernommen. Wenn Friedrich mit seinen Plänen durchkommt, dann werden alle Polizeien und Geheimdienste des Bundes von Apparatschiks aus dem BMI geleitet.

Mit dieser Aussicht ist unverständlich. wie der innenpolitische Sprecher der SPD, Michael Hartmann, behaupten kann, des Ministers "sicherheitspolitischer Kurs ist nicht erkennbar". Kurzfristig besetzt der Bayer alle Schlüsselposition mit Beamten seines Vertrauens. Die mögen weder ausgebildete Polizisten noch Geheimagenten sein, aber die werden bei anlaufenden Umbau der "Sicherheitsstruktur" auch nicht gebraucht. Hier sind Verwaltungsfachleute und Juristen gefragt, die den politischen Willen in Gesetzen, Verordnungen und Strukturen widerspiegeln können. Sie bringen den Vorteil mit, dass die in den betroffenen Behörden bestehenden Strömungen gegeneinander ausspielen können, weil sie primär keiner angehören und auf die Rückendeckung durch den Dienstvorgesetzten zählen können. Sobald die Politik mit diesem Gebilde zufrieden ist, dürfen die Fachleute aus Polizei und Diensten wieder an die Schaltstellen der Macht zurückkehren. Aber bis dahin wird es noch ein wenig dauern; viel Arbeit liegt an.


MAD soll weg

Wer von der Reform des Verfassungsschutzes spricht, kommt nicht an seinem kleinen Bruder in Uniform, dem Militärischen Abschirmdienst (MAD), nicht vorbei. Erst jüngst wieder hat Bundesjustizministerin Sabine Leutheuser-Schnarrenberger seine Auflösung verlangt. Tatsächlich ist er obsolet geworden. Die Sicherheit von Einrichtungen und Personal der Bundeswehr in Deutschland gegen Angriffe und Spionage können auch die Feldjäger in ihrer Eigenschaft als Militärpolizei gewährleisten. Da der Einsatzbereich des MAD auf militärisches Gelände begrenzt ist, muss er früher oder später mit dem Inlandsgeheimdienst oder der Polizei, wenn Festnahmen von Zivilisten anstehen, zusammenarbeiten. Für die Vorfeldaufklärung von deutschen Basen im Ausland benötigt er die Hilfe des BND. Dem Effizienzgedanken und dem Vorbild der Gemeinsamen Abwehrzentren folgend, ist es denkbar, wenn Feldjäger, BKA und BND eine gemeinsame Einheit bilden. Als historisch belastetes Beispiel bietet sich die Geheime Feldpolizei an, in der während des Nazi-Regimes von 1936/39 bis 1945 Agenten der militärischen Abwehr und Beamte der Geheimen Staatspolizei mit Angehörigen des Sicherheitsdienstes der SS (SD) Dienst taten. Von der Auflösung des MAD werden BND und BKA profitieren.


BKA + BPol = FBI

Die von der Merkel-Regierung angestrebte Fusion der beiden Bundespolizeien zu einem deutschen FBI wird in erster Linie von der Stärke und somit Couleur der Exekutive nach der Bundestagswahl 2013 abhängen. Prinzipiell ist die SPD mit der Reform einverstanden; sie kämpft aber um ihren Einfluss im Sicherheitsapparat. Wenn das BKA dem FBI folgen soll, dann muss es sich auch geheimdienstliche Kompetenzen - auf Kosten des Verfassungsschutzes - aneignen. Das dürfte die nächste politische wie juristische Herausforderung für Friedrichs Juristen darstellen.


BND-Drohnen

Gleichermaßen gravierende Veränderungen wird es bei Bundeswehr und BND geben, seitdem klar ist, dass der Bendler-Block sich auch bewaffnete Drohnen zulegen will. Diese Entscheidung führt zwangsweise zu einer weiteren Militarisierung des Auslandsgeheimdienstes, der allein schon bei der Auswahl potentieller Ziele noch enger mit den Streitkräften zusammenarbeiten müsste.

Die deutsche Gesellschaft erlebt zurzeit die umfassendste Reform ihres Polizei- und Geheimdienstwesens seit 1945. Der Umfang der geplanten Massnahmen lässt sich nur erahnen. Absehbar ist die Zentralisierung zugunsten des Bundes und zum Nachteil der Länder. Mit Demokratie und Bürgerrechten hat das wenig zu tun, sondern mit Wettbewerbsfähigkeit und mit dem Schutz des jetzigen Systems gegen jegliche Art von Krisen und Widerstand.

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Quelle:
GEHEIM-Magazin Nr. 2/2012 - 31. Juli 2012, Seite 5-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2012