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GLEICHHEIT/2372: Wachsender Protektionismus in Europa


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Herausgegeben vom Internationalen Kommitee der Vierten Internationale (IKVI)

Wachsender Protektionismus in Europa

Von Ulrich Rippert
13. Februar 2009


Am vergangenen Mittwoch trat der der amtierende EU-Ratspräsident und tschechische Premier Mirek Topolanek in Brüssel vor die Presse und warnte vor einem "protektionistischen Wettlauf" in Europa. Die Volkswirtschaften in der Europäischen Union seien von der internationalen Krise stark betroffen und verlören unerwartet schnell und umfassend an Kraft. Es sei aber falsch mit protektionistischen Maßnahmen auf die Krise zu reagieren.

Wörtlich sagte der EU-Ratspräsident: "Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise werden Probleme deutlich, von denen die Europäische Union meinte, sie stammten aus dem vergangenen Jahrhundert und wären längst gelöst."

Nach einem Treffen mit EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso bezeichnete Topolanek die Situation in Europa als "so schlimm wie nie zuvor". Das Vertrauen der Bürger in das wirtschaftliche und politische System sei erschüttert. Die Abschottung der nationalen Märkte gefährde den europäischen Binnenmarkt und die Weltwirtschaft.

Die Süddeutsche Zeitung gibt die Warnung des EU-Ratspräsidenten mit den Worten wieder: "Jeder Politiker, der die Wirtschaftskrise durch protektionistische Maßnahmen lösen will, trägt noch zu deren Verschlimmerung bei."

Auch Barroso warnte vor nationalen Alleingängen. Die europäischen Staats- und Regierungschefs sollten jede "nationalistische Nabelschau beenden", sagte er. Andernfalls wachse die Gefahr, dass sich "der starke Abwärtsdrang verstärkt".

Hintergrund des wachsenden Protektionismus sind die Auswirkungen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise auf Europa. Ausmaß und Tempo der Rezession in Europa seien überraschend, heißt es in Medienberichten. Die Wirtschaftskrise erfasse alle Industriebranchen und verschlechtere die Aussichten rapide. Die EU-Kommission hat einem Zeitungsbericht zufolge wegen der Konjunkturkrise schwere Einbrüche in allen Wirtschaftssektoren festgestellt. Ausmaß und Geschwindigkeit der Krise seien völlig neu, zitiert die Financial Times Deutschland (FTD) EU-Industriekommissar Günter Verheugen.

Eine der FTD vorliegende interne Analyse beschreibt anhand von Beispielen aus dem verarbeitenden und dem Baugewerbe massive Produktions- und Absatzeinbrüche. Der seit 1985 von der EU-Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen erstellte Geschäftsklimaindex ist demnach auf das niedrigste Niveau seit seiner Einführung gefallen.

Vor allem die Autoindustrie wird von der anhaltenden Kreditklemme hart getroffen. "Der allgemeine Zugang zu Krediten spielt für die Autoindustrie eine wichtige Rolle, da 60 bis 80 Prozent der Privatwagen in Europa mit Krediten gekauft werden", heißt es in der EU-Analyse. In der Stahlindustrie sehen die Experten der EU-Kommission Auftragseinbrüche von 43 bis 57 Prozent.

Die EU-Spitze erwartet, dass die Zahl der Arbeitslosen in den kommenden Monaten erheblich steigen wird. Nach Angaben von EU-Industriekommissar Günter Verheugen haben Unternehmen in den vergangenen vier Monaten 158.000 Arbeitsplätze gestrichen und lediglich 25.000 neue Jobs geschaffen. In den ersten drei Quartalen 2008 habe die Bilanz noch einen Überschuss zusätzlicher Arbeitsplätze aufgewiesen.

Am Mittwoch kündigte der französische Autohersteller Peugeot den Abbau von mindestens 11.000 Stellen an. Einen Tag später folgte Renault mit der Ankündigung, in diesem Jahr mindestens 9.000 Arbeitsplätze zu streichen. Dieser Arbeitsplatzabbau ist mit der Regierung und den Gewerkschaften abgesprochen und steht in Zusammenhang mit der Ankündigung des französischen Präsidenten, die heimische Autohersteller mit sechs Milliarden Euro zu subventionieren.

Nicolas Sarkozy hatte die Finanzhilfe mit der Bemerkung verknüpft, er halte es für "unverantwortlich, französische Autos weiterhin in Tschechien herzustellen". Er verlangte, die Verlagerung der Produktion ins Ausland müsse aufhören. "Wenn wir der Autoindustrie Finanzhilfen geben, dann wollen wir nicht, dass sich erneut eine Fabrik in die Tschechische Republik absetzt." Außerdem forderte er die Autohersteller auf, sich auch in der Zulieferindustrie auf französische Unternehmen zu konzentrieren.

Tschechiens Ministerpräsident Topolanek reagierte scharf auf diese offen protektionistische Politik und berief einen europäischen Sondergipfel ein, um ihr Einhalt zu gebieten.

Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kritisierte die französische Entscheidung. Die Verteidigung des Freihandels und des europäischen Binnenmarktes sei von entscheidender Bedeutung, sagte Merkel. Vor allem die stark exportabhängige deutsche Wirtschaft wäre von einer Verschärfung protektionistischer Maßnahmen in Europa stark betroffenen.

Sarkozy verteidigte seine Entscheidung und machte darauf aufmerksam, dass gerade die deutsche Kanzlerin vor einigen Wochen ein gemeinsames europäisches Konjunkturprogramm abgelehnt habe. Nun sei eben jede Regierung gezwungen, mit eigenen Maßnahmen gegen die Krise vorzugehen. Im Übrigen sei auch das deutsche Konjunkturprogramm auf eine starke Subventionierung der deutschen Unternehmen ausgerichtet, betonte Sarkozy.

Der Konflikt zwischen Berlin und Paris sitzt tief. Als EU-Ratsvorsitzender hatte Sarkozy in den vergangenen Monaten immer wieder die Einrichtung einer "Wirtschaftsregierung" für die Eurozone gefordert. "Die Eurozone darf nicht ohne klar identifizierbare Wirtschaftsregierung sein", betont er auch jetzt. Wobei er keinen Zweifel daran lässt, dass er sich selbst als Chef einer solchen "Wirtschaftsregierung" betrachtet.

Gestützt auf eine Mehrheit der 16 Euro-Länder versucht Sarkozy damit, die Bundesregierung stärker als bisher in die finanzpolitische Verantwortung zu nehmen. Als stärkste Volkswirtschaft der Euro-Zone müsse Deutschland auch einen höheren Beitrag für die Bewältigung der Krise aufbringen, so das Argument aus dem Elysée-Palast.

Die Bundesregierung will aber genau das verhindern. Sie fühlt sich aufgrund der Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Vorgängerregierung, die einen starken Sozialabbau sowie die massive Einführung von Billiglohnarbeit zur Folge hatten, besser als andere Euro-Staaten für die Krise gerüstet. Die Regierung Merkel und die hinter ihr stehenden Wirtschaftsverbände versuchen die Krise zu nutzen, um die Dominanz der deutschen Wirtschaft in Europa zu festigen. Unter keinen Umständen wollen die Machthaber in Berlin für die "europäischen Schwachstaaten" - sprich: diejenigen Länder, die bisher nicht in der Lage waren, drastische Sozialkürzungen durchzusetzen - in Haftung genommen werden.

Hinter den wortreichen Appellen zu Einhaltung des Freihandels aus dem Kanzleramt und Mahnungen vor protektionistischen Entscheidungen stehen eigennützige Interessen der deutschen Wirtschaft, die vom europäischen Binnenmarkt am stärksten profitiert.

Noch in einer zweiten Frage nehmen die Spannungen in Europa zu.

Die unterschiedliche Wirtschaftsleistung einzelner Euro-Länder und das Fehlen einer einheitlichen Finanz- und Wirtschaftspolitik haben zu wachsenden Kursdifferenzen ("Spreads") zwischen den Staatsanleihen der Euro-Staaten geführt. Mitte Januar musste Griechenland eine neue Staatsanleihe mit einem Zins ausstatten, der um gut drei Prozentpunkte über dem Zinsniveau deutscher Bundesanleihen liegt. Der Trend steigender Spreads sei "definitiv nicht gestoppt", betonen Finanzexperten und warnen davor, dass diese Entwicklung eine gewaltige Sprengkraft für den Euro als Gemeinschaftswährung habe.

Als der Vorsitzende der Euro-Gruppe, Luxemburgs Premier- und Finanzminister Jean-Claude Juncker, vorschlug, Euro-Bonds einzuführen und damit den schwächelnden Mitgliedstaaten über den Weg einer von allen Euro-Ländern gemeinsam ausgegebene Anleihe Finanzmittel zu beschaffen, lehnte Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) das strikt ab. Stattdessen versucht die Bundesregierung über ihren EU-Industriekommissar Verheugen den Mitgliedsstaaten Bedingungen zu diktieren, die sie zu einer strikten Sparpolitik zwingen.

Angesichts der zunehmenden Spannungen kündigten EU-Ratspräsidentschaft und die Europäische Kommission an, in den kommenden drei Monaten drei Gipfeltreffen zu organisieren. Am 1. März treffen sich die Staats- und Regierungschefs in Brüssel, "um die nationalen Konjunkturpakete auszutarieren", so Topolanek. Auf dem Programm stehen dann neben der Bekämpfung protektionistischer Tendenzen die Wiederbelebung des Kreditflusses, der Umgang mit heiklen Wertpapieren sowie Maßnahmen gegen den Anstieg der Arbeitslosigkeit. Drei Wochen später findet wiederum in Brüssel der reguläre Frühjahrsgipfel statt, der ebenfalls der Lösung von Konjunktur- und Finanzproblemen gewidmet ist. Im Mai lädt dann die tschechische Ratspräsidentschaft nach Prag zu einem Jobgipfel ein.

Die Gipfel-Hektik macht deutlich, dass mit der Angst vor einem Auseinanderbrechen der EU in den europäischen Hauptstädten auch die Furcht vor sozialen Konflikten zunimmt.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 13.02.2009
Wachsender Protektionismus in Europa
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Februar 2009