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GLEICHHEIT/2412: Türkei - Nach zwölf Jahren droht erneut ein Staatsstreich des Militärs


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale (IKVI)

Türkei:
Nach zwölf Jahren droht erneut ein Staatsstreich des Militärs

Von Sinan Ikinci
10. März 2009


Vor zwölf Jahren stellte das türkische Militär nach einer Versammlung des Nationalen Sicherheitsrates MGK vom 28. Februar 1997 die stark islamistisch geprägte Regierung vor ein Ultimatum. Das war in der Türkei die vierte Militärintervention seit Ende des zweiten Weltkriegs. Zuvor hatte das türkische Militär schon in den Jahren1960, 1971 und 1980 geputscht.

Im Verlauf der Militärintervention von 1997 gab General Cevik Bir, stellvertretender Generalstabschef, die zynische Erklärung ab, es sei Ziel der Armee, "das Gleichgewicht in der Demokratie wiederherzustellen". Zwölf Jahre danach spricht man in der Türkei im Schatten der Finanz- und Wirtschaftskrise heute erneut über die Gefahr eines Militärputschs.

Vor zwei Jahren druckte die Wochenzeitschrift Nokta lange Auszüge aus einem Tagebuch ab, die vermutlich aus der Feder des früheren Flottenkommandeurs Admiral Ozden Ornek stammen. Nach diesen Aufzeichnungen hatten ehemalige Kommandeure unter der Führung des Gendarmeriekommandanten Sener Aydin 2003 und 2004 unter den Codenamen Sarikiz (Gänseblümchen) und Ayisigi (Mondschein) zweimal einen Militärputsch geplant.

Nach diesen zwei fehlgeschlagenen Putschversuchen wurde 2006 vom türkischen Militär erneut eine Kampagne gegen die Regierung der islamistischen AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei) organisiert.

In den vergangenen beiden Jahrzehnten haben viele bürgerliche Kommentatoren, wie auch ein Teil der so genannten "Linken", behauptet, ein weiteres entscheidendes Eingreifen des Militärs - offen oder verdeckt - sei in der Türkei ausgeschlossen. Jede sorgfältige Analyse der politischen Verhältnisse in der Türkei widerlegt diese Behauptung, denn sie ignoriert die tiefe und historisch dauerhafte innenpolitische Spaltung der türkischen Bourgeoisie, die ihren Ursprung in den letzten Jahren des osmanischen Reiches hat. Außerdem wird die entscheidende Rolle ignoriert, die das türkische Militär für die herrschende (so genannt "säkulare") Fraktion der türkischen Bourgeoisie als letzte Zuflucht immer spielte.

Am 14. Januar wurde die neue amerikanische Regierung in einem Leitartikel des Boston Globe vor der Gefahr eines "fünften Militärputschs" in der Türkei gewarnt. Der Artikel schließt mit den Worten: "Amerikanische Beamte sollten Einfluss auf das türkische Führungspersonal nehmen, damit es seine Differenzen friedlich löst. Das Obama-Team hat auch ohne Militärputsch oder Bürgerkrieg in der Türkei Sorgen genug." Das Blatt ist natürlich hauptsächlich um die "nationalen Interessen" von Amerika besorgt. Kein seriöser Analyst kann jedoch die Möglichkeit eines militärischen Eingreifens, nicht einmal eines offenen Putsches, kategorisch ausschließen.

Die Gefahr eines erneuten Eingreifens des türkischen Militärs wurde in einem Gerichtsverfahren auf höchster Ebene und durch ein Ermittlungsverfahren in Sachen der Verschwörergruppe namens Ergenekon offenkundig. Eine geheime, ultranationalistische Gruppe wurde wegen des Versuchs angeklagt, politisches Chaos zu provozieren und damit einen Grund für direktes militärisches Eingreifen zu schaffen.

Die polizeilichen Ermittlungen gegen Ergenekon wurden im Juni 2007 eröffnet, nachdem in einem Elendsviertel in Istanbul Sprengstoff entdeckt worden war. Der Sprengstoff war offenbar der gleiche, wie er vom Militär benutzt wird. Ermittlungen sollen ergeben haben, dass Ergenekon Verbindungen zu den zwei fehlgeschlagenen Putschversuchen hatte, die von (heute pensionierten) Militärkommandeuren gegen die AKP-Regierung ausgeheckt worden waren.

Das Militär unterhält auch Verbindungen zu mehreren "zivilen" Organisationen, wie der Gesellschaft für Atatürkisches Gedankengut (ADD) und der Gesellschaft zur Unterstützung Modernen Lebens (CVDD). Beide organisierten 2006 in verschiedenen Landesteilen "republikanische Versammlungen" gegen die AKP. Vorsitzender der ADD ist General Sener Eruygur, ein türkischer Präsidentschaftskandidat.

Zum Verständnis und der Analyse der derzeitigen Entwicklung und der weiterhin tiefen und scharfen Krise ist es notwendig, die Art und Weise zu analysieren, wie das Militär am 28. Februar 1997 intervenierte, und die Lehren daraus zu ziehen.


Vor den Militäraktionen

Bei den Parlamentswahlen von 1995 konnte keine politische Partei genug Stimmen für eine Alleinregierung gewinnen. Necmettin Erbakans islamistische Wohlfahrtspartei (RP) war mit 21 Prozent die stärkste Partei.

Obwohl eine bürgerliche Partei, war sie im Gegensatz zu den bisher führenden Parteien in der Lage, unter der arbeitenden Bevölkerung und den städtischen Armen an Popularität zu gewinnen. Die RP mobilisierte eine beträchtliche Anzahl engagierter Wahlhelfer, die den unmittelbaren Kontakt zu potentiellen Wählern herstellten, ein offenes Ohr für ihre Probleme hatten, Nahrungsmittel verteilten und auch andere Art humanitärer Unterstützung leisteten.

Unter Bedingungen, wo stalinistische und maoistische Parteien völlig in Misskredit geraten waren, nahm RP eine Rhetorik an, wie sie üblicherweise von sozialdemokratischen Parteien gepflegt wird, und versprach, "gerechte" Verhältnisse herzustellen. Durch ihre materielle Hilfe konnte die RP viele Bewohner der Elendsviertel der Großstädte, denen es finanziell besonders schlecht ging, für sich gewinnen. Die RP machte auch gewisse öffentliche Mittel für Hilfsprogramme locker. Die AKP hat diese Tradition später fortgesetzt, sich jedoch der "Gerechtigkeits"-Parole entledigt, die den Parteiführern zu sozialistisch klang.

Die RP ging besser organisiert und systematischer vor als die traditionellen Parteien, die sich rechts wie links in organisatorischem Chaos befanden.

Unter der Führung Erbakans, wie auch jetzt unter der Führung von Premierminister Recep Tayyip Erdogan, ließ die türkische islamistische Bewegung für die ärmsten Bevölkerungsschichten ein paar Krümel vom Tisch fallen. Gleichzeitig bekämpfte sie jede organisierte Bewegung der Arbeiterklasse mit der gleichen Verbissenheit wie die Kemalisten.

Auch spielte das organisatorische Potential des MUSIAD (Vereinigung Unabhängiger Industrieller und Geschäftsleute) - wichtiger noch ihre finanzielle Hilfe - eine bedeutende Rolle für die Wahlerfolge der islamistischen Parteien bei den Parlamentswahlen von 1995, 1999 und 2002.

Am 5 März 1996 wurde eine Koalitionsregierung aus zwei Mitte-Rechts-Parteien, der Mutterlandspartei von Mesut Yilmaz (ANAP) und der Partei des Rechten Weges von Tansu Ciller (DYP), mit Mesut Yilmaz als Premierminister gebildet. Diese Koalition wurde generell als "Anayol" (Leitweg) bezeichnet. Sowohl die ANAP als auch die DYP verloren jedoch rasch an Glaubwürdigkeit und Wählerunterstützung, und die Koalitionsregierung der zwei verbitterten Rivalen dauerte gerade einmal vier Monate.

Obwohl Tansu Ciller betont hatte, wie wichtig es sei, die Islamisten zu stoppen, und obwohl sie während ihres Wahlkampfs jede Koalition mit der Wohlfahrtspartei (RP) kategorisch ausgeschlossen hatte, entschied sie sich zu einem Zusammengehen mit der RP. Zu diesem Zeitpunkt war Ciller mit mehreren parlamentarischen Untersuchungsverfahren wegen schwerer Korruptionsvorwürfe konfrontiert. Erbakans Willkommensworte an seine neue Koalitionspartnerin sprachen Bände: "Wer uns die Hände reicht, verdient es, freigesprochen zu werden".

Heute geben sich die Islamisten als entschiedene Gegner des "Staates im Staat", dabei war Ciller stark in solche Geheimzirkel verwickelt. Als der Sursuluk-Skandal aufgedeckt und enge Verbindungen zwischen Sicherheitskräften, Mafiabanden und faschistischen Todesschwadronen ans Tageslicht kamen, pries Ciller den faschistischen Revolverhelden Abdullah Catli, der bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. "Wir werden derer, die im Namen dieses Landes, dieser Nation und dieses Staates in Schießereien geraten und verwundet werden, immer mit Respekt gedenken", sagte sie. Erbakan hatte mit solchen Bemerkungen kein Problem. Für ihn war die Affaire Sursuluk bloß "Unsinn".

Fikri Saglar, ein Abgeordneter der Republikanischen Volkspartei (CHP), der vor der Sursuluk-Untersuchungskommission aussagte, erklärte dort, die DYP-Führungsmitglieder Ciller und Mehmet Agar befänden sich im Zentrum des Skandals und seien persönlich dafür verantwortlich, dass Politik und Wirtschaft Mafiastrukturen annähmen. Saglar versuchte vergeblich, wichtige Beteiligte als Zeugen zu laden, darunter Teoman Koman (einen ehemaligen Generaloberst der Gendarmerie), Necdet Urug (ex-Generalsstabschef), Veli Kucuk (einen ehemaligen General, der im Zusammenhang der Ergenekon Ermittlungen inhaftiert wurde) sowie Tansu Ciller und ihren Ehemann, Ozer Ciller. Als Tansu Ciller drohte, die Koalitionsregierung platzen zu lassen, verhinderte Premierminister Necmettin Erbakan, dass Ciller als Zeugin gehört wurde.


Die "nationale Perspektive" der Wohlfahrtspartei (RP)

Die islamistische Bewegung konnte in den 1990er Jahren eine gewisse Stärke erreichen und bei den Gemeindewahlen 1994 die Kommunen der meisten großen Städte übernehmen. 1996 kam sie durch eine Koalitionsregierung an die Macht.

Diese Bewegung vertrat eine gewisse Fraktion der Bourgeoisie, die sich hauptsächlich auf Gemeinden und Städte in der Provinz stützte, während sie in den industriellen und Finanzzentren von Istanbul, Ankara, Izmir, Kocaeli und Adana nicht an die großen Monopolgruppen heranreichten.

Schon immer stritten sich diese zwei Fraktionen der Bourgeoisie um die vorhandenen Mittel. Die Kontrolle der Gemeindeverwaltungen in größeren Städten bot dem islamistischen Kapital eine günstige Gelegenheit, Mehrwert in die eigenen Kanäle zu lenken. Bis heute konnten sich dort viele verhältnismäßig kleine islamistische Betriebe entfalten.

Außenpolitisch war die RP - wie ihre islamistischen Vorgänger - ausgesprochen anti-westlich und gegen die Europäische Union eingestellt. Sie behauptete, die westlichen Nationen verkörperten Kolonialismus, Unterdrückung, Amoralität - letztlich all das, was mit dem Christentum verbunden wurde. Die RP kritisierte den Kemalismus als Verkörperung dieser "fremden" Interessen, durch die die Muslime im eigenen Land korrumpiert würden. Diese "nationale Perspektive" predigte die Überlegenheit des Islam und die Unterlegenheit des Westens.

Gleichzeitig traten die islamistische Bourgeoisie und ihre politischen Vertreter für eine ganz andere internationale Wirtschaftsstrategie, Außen- und Militärpolitik ein. In offener Feindschaft zu EU und dem Westen überhaupt vertrat die RP eine klare Orientierung auf die islamischen Ländern. Entsprechend dieser Politik wandte sich die RP gegen jeden Zusammenschluss mit dem Westen; das betraf die NATO und die Vereinigten Staaten, aber auch die EU-Mitgliedschaft.

Daher war die Intervention vom 28. Februar 1997 tatsächlich ein Eingreifen des so genannten "säkularen" Flügels der Bourgeoisie, der sich gegen die Gefahr für die Integration des türkischen Kapitalismus in den westlichen Kapitalismus richtete, die von den Islamisten ausging. Das Problem bestand nicht einfach in der Frage des Lebensstils, wie viele kleinbürgerliche Tendenzen behaupten; es handelte sich um die zukünftige internationale Ausrichtung des türkischen Kapitalismus.

Das ist der Grund, weshalb die großen Westmächte das Eingreifen vom 28. Februar 1997 unterstützten.

Mehrere Ereignisse jener Zeit brachten die tiefe Zerrissenheit in der herrschenden Klasse, aber auch die soziokulturelle Spaltung der Gesellschaft zum Ausdruck, zum Beispiel die offizielle Visite Erbakans in Libyen und Nigeria, die zu starken Spannungen zwischen der Regierung und dem Generalstab führte, ein provokatives Essen Erbakans als Premierminister mit Religionsführern an seinem offiziellen Amtssitz, das Moschebauprojekt am Taksim-Platz in Istanbul und die geplante Zurückverwandlung der Hagia Sophia [- heute ein Museum] in eine Mosche.


Das Besondere an der Militärintervention vom 28. Februar 1997

Das Militär ignorierte die Regierung systematisch und verweigerte mehrmals die Zusammenarbeit. Am 28. Februar führte das Militär eine Reihe im Voraus geplanter Aktionen durch, um "den religiösen Fundamentalismus effizient in seine Schranken zu verweisen", und legte sie Erbakan zur Genehmigung vor. Anfänglich weigerte sich Erbakan, aber letztendlich wurde er zur Unterzeichnung der Beschlüsse gezwungen, die sich gegen die von ihm repräsentierte Bewegung richteten.

Bald nach dem Ultimatum vom 28 Februar kam es in einem radikalen ersten Schritt zur Eröffnung eines Verfahrens gegen die RP vor dem Verfassungsgericht, bei dem die Auflösung der Partei gefordert wurde. Dies geschah ohne Zweifel auf Druck des Militärs.

Im Januar 1998 löste das Verfassungsgericht die RP auf und verbot ihren fünf höchsten Amtspersonen, einschließlich Erbakans, für fünf Jahre jede politische Betätigung. 2003 verurteilte das türkische Appellationsgericht Erbakan zu zwei Jahren und vier Monaten Gefängnis wegen Veruntreuung von Parteigeldern. Dies war das klare Signal für die Entschlossenheit des Regimes, die islamistische Bewegung in der Türkei zu unterdrücken.

Als das Verbotsverfahren gegen die RP eröffnet wurde, verschärften sich die Spannungen zwischen dem Militär und der Koalitionsregierung (aus Erbakans RP und Cillers DYP). Nach einem Plan, der in den Spitzen des Militärs lange zuvor ausgearbeitet worden war, wurden systematisch Spannungen geschürt. Um die Lage zu entschärfen, legte Erbakan sein Amt nieder, in der Erwartung, Ciller werde eine neue Regierung unter Einschluss seiner Partei bilden. Er legte die Unterschriften von 270 Abgeordneten vor, die bestätigten, dass sie für ein neues, von Präsident Suleyman Demirel vorgeschlagenes Kabinett stimmen würden. Demirel jedoch gab den Stab unter den wachsamen Augen der Spitzengenerale an Mesut Yilmaz von der ANAP (Mutterlandspartei) weiter. Die ANAP bildete dann in einer Koalition mit der DSP (Demokratische Linke Partei) von Bulent Ecevit eine Minderheitsregierung. Diese wurde durch die Duldung der CHP (Republikanische Volkspartei) von außen gestützt.

Zwischen 1960 und 1980 hatte die türkische Armee schon drei Militärcoups durchgeführt. Obwohl alle ihre Besonderheiten hatten, waren die ersten drei Militäraktionen mehr oder weniger direkte Eingriffe, um bestehende Regierungen abzusetzen. 1997 stürzte das Militär die Zivilregierung jedoch in einer Weise, in dem es sie in eine bestimmte Richtung drängte und durch eine andere Zivilregierung ersetzte. Dabei wurde keine der bestehenden Institutionen abgeschafft oder aufgelöst.

Aus diesem Grund bezeichnen mehrere Journalisten und Politiker diese Militärintervention als "postmodernen Putsch". Das ist eine völlig irreführende Beschreibung im Namen journalistischer "Kreativität", die allerdings mehr Verwirrung als Klarheit schafft. Aus jüngst bekannt gewordenen Informationen geht klar hervor, dass der Übergang vom militärischen Eingriff am 28. Februar 1997 in einen ausgewachsenen militärischen Staatsstreich eine ernsthafte Option war, die gegebenenfalls schnell umgesetzt worden wäre.

Wieder andere, die den Begriff "Putsch" vermeiden wollen, darunter auch das Militär selbst, sprechen von den "Geschehnissen des 28. Februar". Sicherlich beinhaltet der Begriff "Geschehnisse" die Absicht, den Ernst dieser Intervention zu verschleiern und sie dadurch vor der Öffentlichkeit zu legitimieren.


Das Regime vom 28. Februar 1997

Tatsächlich orientierten sich die neuen Arrangements an der Bildung einer "Militärrepublik", wie sich der Parlamentsprecher damals ausdrückte. Damit unterstellte der Nationale Sicherheitsrat (MGK) jegliche staatliche Politik auf "legale" Weise der direkten Überwachung durch das Militär. Im März 1998 wurde innerhalb der Kommandostruktur des MGK eine "Krisenmanagementeinheit" aufgestellt. Diese garantierte dem Militär unter Umgehung bestehender verfassungsrechtlicher Verfahren weit gehende Mitsprache bei der Verwaltung des Landes.

Diese bürokratische "Supereinrichtung", die autorisiert war, in Krisenzeiten reale Regierungsmacht zu übernehmen, ist während der Regierungszeit der bis heute amtierenden islamistischen AKP nach und nach durch eine Reihe von Reformen der EU wieder eingeschränkt worden. Zwischen 2002 und 2005 benutzte die AKP-Regierung EU-Reformen, um viele der Verbindungen zu kappen, durch die das Militär Einfluss nahm. Viele linksgerichtete Kommentatoren begrüßten diese Wandlung als neuen Schritt hin zu einer reiferen bürgerlichen Demokratie. Heute sind die meisten von ihnen über die offen autoritäre Gangart der Regierung schockiert.

Mit der Intervention vom 28. Februar nahm das Regime einen viel chauvinistischeren und militaristischeren Ton an. Dies spielte der faschistischen Partei der Nationalen Bewegung (MHP) in die Hände und ermöglichte ihr, ihre faschistische und nationalistische soziale Basis auszuweiten. Es führte zu einer Annäherung zwischen dem Staatsapparat und der rassistischen und nationalistischen MHP. Dies wiederum stärkte die säkulare Tendenz, die den Gründer der Türkei, Kemal Atatürk immer mehr als kompromisslosen türkischen Nationalisten darstellte.

Für die maoistisch-kemalistische Partei von Perincek, die sich fälschlicherweise Arbeiterpartei (IP) nennt, reichte das aus, um eine offene Allianz mit der faschistischen MHP zu schmieden. Dabei behauptete sie, die Nationalisten seien in der Vergangenheit verraten und verkauft worden. Jetzt würden sie ihre Irrtümer erkennen und seien bereit, als nationale Kraft im Namen der vollständigen nationalen Souveränität zu kämpfen.


Bündnis der "unbewaffneten Kräfte"

Das Militär und seine "zivilen Unterstützer" erhöhten den Druck, und im Juni 1997 sah sich die Regierung unter der Bedrohung einer unmittelbaren Machtübernahme durch das Militär zum Rücktritt gezwungen. Die Intervention vom 28. Februar war eine sorgsam geplante Operation, die von den bürgerlichen, nicht-islamistischen Medien, vielen politischen Parteien, Unternehmerorganisationen, Gewerkschaften, Frauengruppen, Intellektuellen, usw. unterstützt wurde. Ein Armeegeneral, der diese Mobilisierung öffentlich lobte, bezeichnete ihre zivilen Propagandisten als "unbewaffnete Kräfte".

Dieses Bündnis "unbewaffneter Kräfte" wurde von Führern und Sprechern des Großkapitals geleitet, zum Beispiel der Vereinigung Türkischer Industrieller und Geschäftsleute (TUSIAD) und der Vereinigung der Wirtschaftskammern (TTOBB). Die Konföderation Türkischer Gewerkschaften (Turk-Is) und die Konföderation Revolutionärer Gewerkschaften (DISK) nahmen ebenfalls teil, wenn auch nur am Rande.

Die Bürokratien der Turk-Is und der DISK orientierten sich stark auf ein Zusammengehen mit dieser Fraktion der Bourgeoisie - und sogar mit dem Militär. Die Bürokratie der Konföderation islamistischer Gewerkschaften (Hak-Is) unterstützte ihrerseits ebenfalls die politischen Vertreter des Klassengegners, nämlich der islamistischen Fraktion der türkischen Bourgeoisie.

Die öffentliche Meinung gegen die Wohlfahrtspartei wurde mit Hilfe der säkularen bürgerlichen Medien angeheizt, insbesondere durch die Dogan-Mediengruppe (DMG). In einem Artikel des Economist aus dem Jahr 2002 heißt es: "Aydin Dogan (der Besitzer der DMG), der führende Medienmagnat der Türkei und bedeutendstes Hassobjekt Erbakans, trug durch eine anhaltende anti-islamistische Kampagne in seinen Zeitungen und Fernsehsendern zu diesem Niedergang bei."


Der Aufstieg der AKP

Die AKP wurde 2001 unter Führung Erdogans als Abspaltung der größten islamistischen Partei und der "alten Garde" gegründet. Während des scharfen Schwenks innerhalb der gesamten türkischen Bourgeoisie hatte sich der mit dem Islamismus sympathisierende Flügel ebenfalls stark verändert.

Während sich Neoliberalismus, marktorientierte Politik und Globalisierung der Produktion durchsetzten, trat auch ein Teil des islamistischen Kapitals - wenn auch verspätet - in die Sphäre des Finanzkapitals ein.

Aufgrund dieser Entwicklung distanzierte sich die AKP von der traditionellen Linie der türkischen islamistischen Bewegung, der als "nationale Perspektive" bezeichneten Doktrin, und nahm gegenüber dem Westen und dem globalen Finanzkapital eine sehr wohlwollende Haltung ein. Gleichzeitig versuchte die AKP, die Interessen des islamistischen Flügels der türkischen Bourgeoisie zu fördern, und untergrub ständig die führende Position des säkularen Flügels der herrschenden Klasse.

Nach ihrem Wahlsieg 2002 verfolgte die AKP eine ähnliche Politik wie jede rechte Partei in der Türkei. Dennoch war ihre Bevorzugung der islamistisch-kapitalistischen Interessen für die säkulare Fraktion inakzeptabel. Vor kurzem hat die AKP-Regierung ihre Linie noch verschärft. Sie begann damit, ein führendes Mitglied der konkurrierenden Fraktion der türkischen Bourgeoisie aus dem Feld zu schlagen. Nachdem es Ende letzten Jahres zu einem verbalen Eklat gekommen war, attackierte die Regierung die führende türkische Mediengruppe DMG mit einer beispiellosen Geldstrafe und Steuerforderungen von nahezu 500 Millionen Dollar. Auch ihre vorsätzliche Weigerung, wichtige, von der Finanzkrise in Mitleidenschaft gezogene Industrien, die von "säkularem" Kapital kontrolliert werden, in der Krise zu unterstützen, hat die Spannungen verschärft.

Unter der Bedingung des globalen Finanz- und Wirtschaftszusammenbruchs ist die türkische Gesellschaft heute wieder mit einer akuten Krise und grundlegender Instabilität konfrontiert. Bei extremen Spaltungen und einem Vertrauens- und Einflussverlust auf Seiten der "säkularen" Parteien - die einst so mächtigen Mitte-Rechts-Parteien sind derzeit nicht im Parlament vertreten - bleibt als wirkungsvolles Korrektiv gegen die AKP-Regierung nur eine Kraft: das türkische Militär.

Der türkische Kapitalismus tritt erneut in eine Periode extremer politischer Instabilität ein. Es wäre eine gefährliche Illusion, würden Arbeiterklasse und andere Schichten der arbeitenden Bevölkerung von irgendeiner Fraktion der Bourgeoisie eine Demokratisierung erwarten.

Die Geschichte der modernen Türkei hat Trotzkis Theorie der permanenten Revolution wiederholt bestätigt und gezeigt, dass die türkische Bourgeoisie - egal welche Fraktion an der Macht ist - nicht in der Lage ist, die dringenden demokratischen Aufgaben, vor denen das Land immer noch steht, zu lösen. Insbesondere geht es um ein Ende der Unterdrückung der Minoritäten. Diese Aufgaben können nur von der türkischen Arbeiterklasse in Zusammenarbeit mit der Arbeiterklasse der ganzen Welt auf der Grundlage einer sozialistischen Perspektive gelöst werden.

Siehe auch:
Türkisches Gericht begründet Urteil zum
Kopftuchverbot (6. November 2008)

Als Folge der internationalen Finanzkrise:
Türkische Wirtschaft schwankt (8. Oktober 2008)

Georgien-Krise stellt Türkei vor Dilemma
(12. September 2008)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 10.03.2009
Türkei:
Nach zwölf Jahren droht erneut ein Staatsstreich des Militärs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2009