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GLEICHHEIT/2855: Filmbesprechung - Das weiße Band, eine pessimistische Gesellschaftsstudie


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Filmbesprechung
Das weiße Band - eine pessimistische Gesellschaftsstudie

Von Verena Nees
31. Dezember 2009


Ein faszinierender Film mit unangenehmem Nachgeschmack - so entlässt der neue Streifen von Michael Haneke, "Das weiße Band", den Kinobesucher.

Die deutsch-österreichisch-französische Koproduktion des 1942 geborenen österreichischen Filmregisseurs (Caché, Funny Games, Die Klavierspielerin) hat bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes die Goldene Palme erhalten und wurde Ende August für die deutsche Bewerbung um den Oscar in der Kategorie bester fremdsprachiger Film ausgewählt.

Zweieinhalb Stunden lang beschreibt das Schwarzweiß-Epos mit eindringlichen Bildern und beklemmender Sprache die verlogene, erstarrte Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Das Leben in einem norddeutschen Dorf mit dem bezeichnenden Namen "Eichwalde" zeigt in konzentrierter Form die Rückständigkeit, soziale Kälte und Grausamkeit, die unter dem Mantel des Wohlanständigen schlummern.

Es ist eine deutsche Kindergeschichte - so der Untertitel, der zu Beginn des Films langsam, schweigend, in alter deutscher Schrift über die Leinwand gemalt wird. Im Mittelpunkt stehen Kinder, die als Spiegelbild der Erwachsenenwelt das ihnen zugefügte Unrecht, die schmerzlich erfahrene Unterdrückung und Züchtigung ihrerseits gegen andere richten. Die Kinderdarsteller vollbringen dabei eine herausragende schauspielerische Leistung.

So stürzt in der ersten Szene der Dorfarzt, der seine Haushälterin und Hebamme (Susanne Lothar) sexuell ausbeutet und demütigt und seine heranwachsende Tochter missbraucht, mit dem Pferd über ein im Garten gespanntes Seil. Der Sohn des Barons muss für die schlechte Behandlung der Bauern durch seinen Vater (Ulrich Tukur) büßen und wird übel zugerichtet im Wald gefunden. Später, er spielt nach seiner Genesung wieder mit den Dorfjungen, wird er von seinen Freunden in den Fluss geworfen, weil sie sein Flötenspiel auf der Holzpfeife nicht ertragen. Der Wellensittich des Pastors (hervorragend gespielt von Burkhart Klaußner) wird grausam mit einer Schere getötet und in Form eines Kreuzes auf den Schreibtisch gelegt (nur in diesem Fall sieht man schemenhaft die Täterin, nämlich seine älteste Tochter Klara, gespielt von Maria-Victoria Dragus). Eine Scheune wird in Brand gesetzt. Das jüngste Kind des Gutsverwalters wird bewusst von seinem Bruder an das offene Fenster gelegt - zumindest macht seine Schwester entsprechende Andeutungen - und stirbt fast an einer Lungenentzündung. Schließlich wird, in einem offenbar sinnlosen Akt von Gewalt gegen noch Schwächere, der behinderte Sohn der Hebamme grausam missh andelt.

Es gibt nur Vermutungen, dass die Kinder des Pastors und des Gutsverwalters (Josef Bierbichler) hinter den Taten stehen. Bei Befragungen erhält man verstockte, scheinheilige Antworten, allen voran von Klara, deren Name in krassem Gegensatz zu ihrer Verschlagenheit steht. Ihr Lehrer, der die Hintergründe vergeblich aufzudecken versucht, spielt in dem Beziehungsgeflecht des Dorfs die Rolle des Beobachters und Erzählers, der seine Erinnerungen aus jener Zeit wiedergibt. Dieser Kunstgriff des Regisseurs erlaubt, die Handlungen hinter der psychischen Verfassung der Protagonisten und ihrer Stellung zu den Fragen von Moral und Schuld zurücktreten zu lassen.

Hierin liegt sein Hauptinteresse. Scharf klagt er die protestantische Erziehung zu Beginn des 20. Jahrhunderts an, die Kindern für sexuelle Regungen, ja sogar für lautes Toben im Klassenzimmer mit Rutenhieben und anderen Maßnahmen, wie ans Bett Fesseln, bestraft. Das Schlimmste an diesen Züchtigungen sind die begleitenden Moralpredigten des Pastors, der nicht davor zurückschreckt, seinem pubertierenden Sohn Martin (Leonard Proxauf) abergläubische Lügengeschichten aufzutischen, Onanieren würde zu Geschwüren und zum elenden Tod führen. Das weiße Band, das Klara und Martin zur Strafe für ihre Sündhaftigkeit wochenlang um den Arm tragen müssen, brandmarkt sie im ganzen Dorf.

Vor allem in der Darstellung des Pastors entwickelt der Regisseur große Sensibilität. Im Unterschied zu anderen, eher holzschnittartigen Figuren, wie dem Doktor oder dem Baron, spürt man hinter seinem harten Auftreten, seiner zur Schau getragenen Tugendhaftigkeit seine Verletzlichkeit - insbesondere nachdem Klara seinen Wellensittich so grausig ermordet hat. Bei der Gabe des Messweins an die Konfirmanden zuckt er zusammen, als Klara an der Reihe ist. Er zögert und schaut ihr in die Augen, um ihr schließlich doch den Becher zu reichen. Wenig später ist er sichtlich verunsichert, als sein jüngster Sohn mit einem Käfig ins Büro kommt, um ihm seinen eigenen Vogel als Ersatz für den toten Sittich zu bringen, "weil der Herr Vater doch so traurig ist." Der Pastor hat Mühe, seine Gefühle hinter der strengen Maske zu verbergen. Als schließlich der Lehrer dem Pastor Andeutungen macht, dass seine Kinder hinter der Misshandlung des behinderten Jungen Karli stecken könnten, verliert er erstmals seine Fassung und verweist den Lehrer des Hauses.

Viele solcher Szenen sind bewegend. Doch im Gesamtzusammenhang des Films erhalten sie einen falschen Zungenschlag. Der Film beginnt, während die Kamera (wunderbar geführt von Christian Berger) über die schöne Landschaft bis zum Dorf schweift, mit den einleitenden Bemerkungen des Erzählers, seine Erinnerungen seien "erhellend" für gewisse folgende geschichtliche Ereignisse. Am Ende - nach dem Rausschmiss des Lehrers aus dem Haus des Pastors - berichtet der Erzähler, wie der Ausbruch des Krieges 1914 mit einem Festgottesdienst zusammenfällt und alle Schichten des Dorfs, einschließlich Baron mit Familie, Lehrer, Bauern, Kinder, in Aufbruchstimmung und festlich gekleidet in der Dorfkirche Platz nehmen. Der Kriegsbeginn, so legt der Abspann nahe, ist der verlogenen Dorfgemeinschaft willkommen. Von den vergangenen Geschehnissen will keiner mehr wissen.

Eine brutalisierte deutsche Bevölkerung, verdorben durch autoritäre religiöse Erziehung, so gibt Michael Haneke zu verstehen, sei mitverantwortlich für die Gewalt des Kriegs. Dies ist eine Darstellung, die selbst von protestantischer Moral nur so trieft. Auch wenn er nicht direkt die Beziehung zum Faschismus herstellt, legt schon der Name des Dorfs nahe, der Weg gehe nahtlos von Eichwalde über Eichmann nach Buchenwald.

Interviews, die der Regisseur gegeben hat, machen die Sache nicht besser. So bestreitet er in Focus (15. Oktober 2009), dass sein Film den Ursprung des Faschismus thematisiere - vielmehr behandle er "die Wurzeln des Bösen an sich, gezeigt an diesem Beispiel". Die Grundidee habe darin bestanden, "eine Gruppe von Kindern zu zeigen, die die Ideale, die ihnen gepredigt werden, verabsolutieren und darauf hin jene, die sie ihnen gepredigt haben, aber nicht danach leben, bestrafen. Wann immer eine Idee zur Ideologie wird, wird's gefährlich", betont Haneke und erklärt, dass darin sein "Ausgangspunkt" bestanden habe.

"Damit die Geschichte einen politischen Mehrwert bekommt", so Haneke weiter, "habe ich sie in dieser Zeit angesiedelt. Sie könnten so eine Geschichte auch in einem Islamisten-Dorf erzählen, es würde natürlich anders ausschauen, aber das Modell ist das ähnliche." Nachdem der Focus-Redakteur nicht locker lässt und ihn darauf festnageln will, dass er demnach in der ganzen nordischen, protestantisch erzogenen Welt Tendenzen zum Bösen und Faschismus sehen müsste, erklärt Haneke: "Meine Filme laufen alle unter dem Etikett 'Bürger-Krieg'. Wie gehen wir miteinander um. Ich glaube ja, dass die großen Kriege entstehen durch das, was durch uns vorher passiert. Dass wir dadurch empfänglich werden."

Welch banale und philisterhafte Schlussfolgerung! In der heutigen Zeit, in der gerade Regierung, Wirtschaftsvertreter und Medien für den Krieg in Afghanistan trommeln und die deutsche Armee erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder Kriegsverbrechen verübt, will uns Haneke weismachen, es läge am allgemeinen Umgang aller Menschen untereinander, der Kriege ermöglicht. Das Gegenteil ist wahr: Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung stellt sich gegen diesen Krieg, während die herrschenden Eliten immer heftiger für seine Ausweitung eintreten. Über den Zusammenhang der beiden großen Kriege im letzten Jahrhundert mit den kapitalistischen Interessen sieht Haneke geflissentlich hinweg, auch über die Tatsache, dass 1913 die Rückständigkeit und Frömmelei des Dorfes in der Bevölkerung längst nicht mehr überwog und Millionen von Arbeitern, die in der Sozialdemokratie nicht nur politische, sondern auch kulturelle Bildung erlangt hatten, für eine humane, eine sozialistische Gesellschaft eintraten.

In einem Interview mit der FAZ (15. Oktober 2009) wird Haneke noch deutlicher: Das Dorf zeige "ein Kleinmodell dieser Gesellschaft, von der herrschenden Schicht bis ganz hinunter". Er habe einen Film machen wollen über "die Perversion jedes möglichen Ideals durch seine Verabsolutierung". Immer wenn die Menschen unter Druck gerieten, beispielsweise durch gesellschaftliche Strukturen, doziert Haneke weiter, "greifen die Menschen nach einem Strohhalm, der es ihnen ermöglicht, sich da herauszuziehen. Und das ist dann meist irgendeine Idee, ein Ideal, eine Ideologie. Das kann Religion sein, aber auch anderes. Meistens funktioniert das nicht, aber es führt zu unmenschlichen Handlungen." Das sei sein Modell hinter dem Film, das man auf den deutschen Faschismus übertragen könne, aber auch auf den "Terrorismus unserer Zeit ... bis zum religiösen Fundamentalismus aller Couleur".

Die Behauptung, die Gefahr der gesellschaftlichen Entwicklung komme aus der Verwandlung "einer Idee zur Ideologie" oder dem Klammern von Menschen in Not an "irgendeine Idee, ein Ideal, oder eine Ideologie", dient Haneke dazu, jeder Untersuchung der konkreten gesellschaftlichen Entwicklung auszuweichen und fortschrittliche revolutionäre Ideen mit reaktionären Ideologien und religiösem Fanatismus gleichzusetzen.

Für ihn sind die Unterdrücker genauso schuldig wie die Unterdrückten, die sich gewaltsam zur Wehr setzen. Werden die Dorfkinder in der ersten Hälfte des Films noch als Opfer der religiösen Unterdrückung dargestellt, konzentriert sich die Regie gegen Ende auf ihre Boshaftigkeit und versucht, gezielt die Abscheu der Zuschauer hervorzurufen, als das blutüberströmte behinderte Kind im Wald gefunden wird. Auch eine weitere Szene des Films ist in dieser Hinsicht bezeichnend: Der ältere Bauernsohn, dessen Frau im Sägewerk des Gutsbesitzers ihr Leben verliert, rächt sich während des Dorffests zum Erntedank, indem er die Kohlköpfe zerschlägt. Das Ergebnis seiner Tat ist die Bestrafung seiner Angehörigen durch den Baron. Sein Vater wirft ihm vor, dass er die Existenz der vierzehnköpfigen Familie gefährdet hat und erhängt sich zuletzt aus Verzweiflung. Will heißen, Gewalt von unten führt nur zu neuer Gewalt und sollte besser unterbleiben.

Letztlich gehört Haneke zu einer Generation von Filmemachern, die aus den Weltkriegen und dem faschistischem Terror die pessimistischsten Schlussfolgerungen gezogen haben. Sie erklären den Rückfall in die Barbarei des Faschismus aus der Kollektivschuld der Bevölkerung und leiten daraus die Schlussfolgerung ab, dass jede progressive Entwicklung der Menschheit durch eine Bewegung von unten unmöglich sei.

Das hohe Lob, das sein Film "Das weiße Band" überall in den Medien erntet, steht in umgekehrtem Verhältnis zu der Ratlosigkeit, die er bei seinen Zuschauern trotz aller Faszination hinterlässt.

Siehe auch:
Nochmals Funny Games von Michael Haneke
(18. Dezember 2009)


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Quelle:
World Socialist Web Site, 31.12.2009
Filmbesprechung
Das weiße Band - eine pessimistische Gesellschaftsstudie
http://wsws.org/de/2009/dez2009/band-d31.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Januar 2010