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GLEICHHEIT/2955: Spannungen zwischen USA und Türkei über US-Resolution zum Völkermord an Armeniern


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Spannungen zwischen USA und Türkei über US-Resolution zum Völkermord an Armeniern

Von Justus Leicht
9. März 2010


Letzten Freitag hat der außenpolitische Ausschuss des US-Repräsentantenhauses mit knapper Mehrheit eine Resolution verabschiedet, die das Vorgehen des Osmanischen Reiches gegen die armenische Bevölkerung 1915 als "Völkermord" bezeichnet. Die Türkei zog daraufhin ihren Botschafter aus Washington ab. Außerdem wurde der US-Botschafter in Ankara einbestellt. Die Resolution ist Ausdruck der Spannungen zwischen den USA und Israel auf der einen und der Türkei auf der anderen Seite.

Dass unter der Regierung der nationalistischen Jungtürken während des Ersten Weltkriegs in der heutigen Türkei ein Völkermord an den Armeniern stattgefunden hat, wird von der Mehrheit der internationalen Historiker anerkannt. In der Türkei riskierte man dagegen bis vor kurzem noch Gefängnis, wenn man dies behauptete. Offizielle türkische Lesart der "Ereignisse" ist, dass die Armenier auf Seiten Russlands gekämpft und dabei viele von ihnen - ebenso wie viele Türken auch - im Krieg umgekommen seien. Die Vorstellung, die Türkei werde durch vom Ausland unterstützten Separatismus bedroht, gehört zu den ideologischen Grundlagen des türkischen Nationalismus, auf den sich Armee, Staatsbürokratie und alle bürgerlichen Parteien seit Gründung der türkischen Republik 1923 stützen.

Für den armenischen Nationalismus ist dagegen die Anerkennung des Genozids ideologische Grundlage. Das seit 1991 unabhängige Armenien und die Türkei haben keine diplomatischen Beziehungen, die Grenze zwischen beiden Ländern ist seit 1993 geschlossen. Denn ein weiterer schwerwiegender Streitpunkt ist der 1994 zu Ende gegangene Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird, aber zu Aserbaidschan gehört. Es wird derzeit von armenischen Truppen besetzt.

Aserbaidschan und auch Georgien unterhalten enge Beziehungen zur Türkei, Armenien dagegen zu Russland und auch zum Iran. Aserbaidschan verfügt über wichtige Öl- und Gasreserven, Georgien ist ein Transitland zur Türkei, die wiederum eine wichtige Drehscheibe für Energielieferungen nach Europa ist. Die USA bemühen sich seit langem, die Türkei als alternative Energielieferungsroute zu Russland aufzubauen sowie Armenien mit der Türkei auszusöhnen und so dem russischen Einfluss zu entziehen. Im Oktober letzten Jahres unterzeichneten die Regierungen der Türkei und Armeniens diverse Protokolle, die unter anderem eine Öffnung der Grenze und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vorsahen.

Der erhoffte Durchbruch ist jedoch ausgeblieben. Weder in Armenien noch in der Türkei sind die Protokolle bisher ratifiziert worden. Aserbaidschan fürchtet um die Abwertung bei seiner traditionellen Schutzmacht Türkei, appellierte vehement an den türkischen Nationalismus und hat der Türkei zudem unmissverständlich deutlich gemacht, dass es sein Gas notfalls auch über Russland liefern könne. Die Türkei verlangte daraufhin armenische Zugeständnisse in der Karabach-Frage, bevor sie die Protokolle unterzeichne. Auf der armenischen Seite machten Nationalisten dagegen mobil, dass der Genozid in einer gemeinsamen Kommission diskutiert werden solle.

Im Januar entschied das armenische Verfassungsgericht, die Protokolle entsprächen der armenischen Verfassung. Die Begründung des armenischen Gerichts stieß in der Türkei auf Empörung. Dort wurde sie als Bekräftigung interpretiert, dass der Genozid nicht zur Debatte stehe und die Türkei sich nicht in die Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan einzumischen habe. In den USA, wo es seit langem eine einflussreiche armenische Lobby gibt, scheint das Urteil dagegen begrüßt worden zu sein.

Während Zeitungen in Deutschland und anderen europäischen Ländern die Annahme der Armenien-Resolution durch den Ausschuss des US-Repräsentantenhauses als Rückschlag für Präsident Barack Obama interpretieren, sehen türkische Medien darin eher einen amerikanisch-israelischen Versuch, Druck auf die Türkei auszuüben. Türkische Lobbyisten hätten tagelang versucht, Abgeordnete zu beeinflussen. Geholfen hätten ihnen dabei aber nur amerikanische Rüstungskonzerne, die für den Fall einer Annahme der Resolution und einer darauf folgenden Verschlechterung in den amerikanisch-türkischen Beziehungen um lukrative Aufträge fürchten.

Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu beschwerte sich, die Obama-Regierung habe sich, anders als in einem ähnlichen Fall noch die Bush-Regierung, ungenügend für die türkische Seite stark gemacht. Obamas Vorgänger George W. Bush soll 2007 noch jeden an der Abstimmung beteiligten Abgeordneten persönlich zu Hause angerufen haben, um für eine Nein-Stimme zu werben, während die Obama-Regierung weitgehend inaktiv blieb.

Die Hürriyet Daily News berief sich auf einen namentlich nicht genannten hohen Beamten des türkischen Außenministeriums, der erklärte, in der US-Regierung gebe es Kreise, welche die Resolution als Druckmittel gegen die Türkei einsetzen wollten, den Normalisierungsprozess mit Armenien zu beschleunigen: "Vielleicht wollten sie der Türkei signalisieren, dass sie, falls der Prozess scheitern sollte, bereit sind, härtere Mittel einzusetzen."

Weiter schrieb die Zeitung: "Dieselbe Quelle ging auch auf die Rolle der israelischen Lobby während des Prozesses ein. 'Unser Botschafter in Washington hat alle wichtigen Vertreter der israelischen Lobby getroffen. Sie versprachen Unterstützung, diese blieb aber im Vergleich zu früher minimal. Sie wollten vielleicht auch ein Signal an die Türkei senden und zeigen, wie schwer die Beziehungen zwischen Ankara und Tel Aviv beschädigt sind', fügte der Diplomat hinzu."

Die israelisch-türkischen Beziehungen sind spätestens seit dem Gaza-Krieg, über dessen Brutalität die Bevölkerung in der Türkei schwer empört ist, angespannt. Die türkische Regierung hat das israelische Vorgehen immer wieder verbal scharf kritisiert, ohne dabei den seit fast 15 Jahren bestehenden Militärpakt mit Israel in Frage zu stellen. Bisher hat zynischerweise ausgerechnet die israelische Lobby die Türkei vor einer Genozid-Resolution im US-Kongress bewahrt. Dies obwohl Israel die Rechtfertigung seiner Existenz zu einem erheblichen Teil daraus bezieht, dass es den Juden nach dem Holocaust, dem größten Völkermord in der Geschichte, einen Zufluchtsort geboten habe.

Aber nicht nur wegen Israel und Armenien gibt es Konflikte mit der Türkei, eigentlich einem NATO-Partner der USA. Die gemäßigt islamistische Regierung von Recep Tayyip Erdogan hat bisher wenig Neigung gezeigt, sich den amerikanischen Drohungen und Verdächtigungen gegen das Nachbarland Iran, einen wichtigen Wirtschaftspartner, anzuschließen. Das ist umso bedeutsamer, als die Türkei gegenwärtig nichtständiges Mitglied im UNO-Sicherheitsrat ist und außerdem wichtige US-Militärbasen im Land hat.

Unter der Überschrift "Die USA setzt die Türkei wegen den Sanktionen unter Druck" berichtete die britische Financial Times am 25. Februar, acht Tage vor der Abstimmung über die Armenien-Resolution: "Die Türkei muss sich genauso wie alle anderen Sorge über die Möglichkeit eines nuklearen Irans machen", sagte der stellvertretende US-Außenminister James Steinberg der Financial Times.

Auf Äußerungen des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdogan angesprochen, der den Iran als 'Freund' bezeichnete, fügte Steinberg hinzu: 'Wir brauchen sie nicht, um Iran zu beschimpfen. Wir brauchen sie, damit sie mit uns zusammenarbeiten und sicherstellen, dass der Iran nicht in der Lage ist, Atomwaffen herzustellen.' Die beiden Verbündeten bräuchten eine 'gemeinsame taktische Herangehensweise', um dieses Ziel zu erreichen."


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Quelle:
World Socialist Web Site, 09.03.2010
Spannungen zwischen USA und Türkei über US-Resolution zum Völkermord an Armeniern
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. März 2010