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GLEICHHEIT/2995: 60. Berlinale, Februar 2010 - Teil 4


World Socialist Web Site
Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

60. Berlinale - Teil 4
Kanikosen: ein "proletarischer japanischer Roman" - modernisiert

Von Stefan Steinberg
6. März 2010
aus dem Englischen (3. März 2010)


Dies ist der vierte Teil einer Serie über die jüngsten Internationalen Filmfestspiele in Berlin, die vom 11. bis 21. Februar stattfanden. Der erste Teil ist am 27. Februar erschienen, der zweite Teil am 3. März und der dritte Teil am 4. März.

Einer der Filme, der auf dem Festival herausstach, war die neue Adaption des Romans Kanikosen (Das Krabbenfängerschiff) des japanischen Regisseurs Sabu (geboren 1964 in Hiroyuki Tanaka).

Der Roman wurde 1929 veröffentlicht und erzählt die Geschichte einer Gruppe von Männern auf einem Krabbenfänger- und Verarbeitungsschiff, die von dem Vorarbeiter der Firma brutal ausgebeutet werden, der sie antreibt, im Interesse der Nation härter zu arbeiten. Als der Krabbenfänger über Funk das SOS-Signal eines anderen Schiffes empfängt, weigert sich der Vorarbeiter die Produktion für eine Rettungsaktion zu unterbrechen.

Der Wendepunkt in der Geschichte kommt, als einige Mitglieder der Mannschaft auf See verloren gehen und von einem sowjetischen Schiff gerettet werden. An Bord treffen sie einen chinesischen Kommunisten, der sie lehrt, sich für ihre Kollegen einzusetzen. Anfänglich sind die Arbeiter misstrauisch gegenüber "dem Kommunismus", als sie aber auf ihr Schiff zurückkehren, bilden sie eine Gewerkschaft und revoltieren gegen ihre Bosse.

Der Roman beleuchtete die Klassenspannungen im kaiserlichen Japan, als das Militärregime alle Streikaktionen und Proteste unterdrückte. Im Roman wird der Streik an Bord des Schiffes brutal unterdrückt. Der Roman fand bald nach seiner Veröffentlichung großen Anklang und wurde noch im gleichen Jahr auf die Bühne gebracht. Sein Autor Takiji Kobayashi trat 1931 in die Kommunistische Partei Japans ein und wurde zwei Jahre später im Alter von nur 29 Jahren von der japanischen Polizei verhaftet und zu Tode gefoltert. Der Roman Kanikosen war in den 1930er und 1940er Jahren in Japan verboten. Das war Bestandteil der rücksichtslosen Unterdrückung der sozialistischen Bewegung durch das Regime.

1953 kam ein Film des Regisseurs So Yamamura heraus, der sich auf den Roman stützte, aber von dem Buch wurden im Nachkriegsjapan nie mehr als 5.000 Exemplare im Jahr verkauft.

In jüngerer Zeit hat sich die Lage aber verändert. 2008 wurden mehr als eine halbe Million Exemplare des Buchs verkauft. Darüber hinaus wurden nicht weniger als vier verschiedene Versionen von Manga-Comics von ihm produziert. Das Buch fand eine explosive Resonanz, besonders unter jungen Leuten in Japan, die sich in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in die unterdrückerischen Bedingungen des kaiserlichen Japans vor achtzig Jahren hineinfühlen können.

In seinem Remake von Kanikosen nahm Regisseur Sabu wesentliche Änderungen vor. Er fügte surreale und absurde Elemente ein, die sich in dem realistisch gestalteten ursprünglichen Roman und der Verfilmung von 1953 nicht finden. Am Anfang von Sabus Film sehen wir Arbeiter, die in dem dunklen, feuchten Bauch des Schiffes beschäftigt sind, wie sie die Hebel der überdimensionierten Zahnkränze und Räder der Konservendosenmaschine betätigen. Die Szene erinnert an Chaplins Moderne Zeiten, in der Arbeiter buchstäblich zu einem kleinen Zahnrad im großen Räderwerk des gesamten Produktionsprozesses werden.

In einer späteren Szene werden die Arbeiter gezeigt, wie sie ihrer elenden Existenz mit einem (erfolglosen) Massenselbstmord ein Ende setzen wollen. Dieser schwarze Humor stammt offenbar aus Sabus Erfahrungen als Regisseur etwas anarchistischer Komödien.

Eine weitere Änderung gegenüber der Romanvorlage und dem Film von 1953 ist Sabus Entscheidung, seinen Charakteren Namen zu geben und die Persönlichkeit einiger führender Figuren zu entwickeln. Das wird in einer frühen Szene deutlich, in der einige Arbeiter in persönlichen Reminiszenzen schwelgen.

Ich konnte einige dieser Fragen in einem Interview mit dem Regisseur aufgreifen. Sabu erklärt, dass einige der Änderungen in dem Film die Absicht verfolgen, ein breiteres Publikum anzusprechen. Seine bisherige Tätigkeit als Regisseur von Komödien, die sich an ein junges Massenpublikum wenden, spielte offensichtlich eine Rolle bei seiner Entscheidung, Kanikosen zu produzieren.

Die Veränderungen, die Sabu einführte, um ein breiteres Publikum mit der verfilmten Version des Romans anzusprechen, sind nach meiner Meinung in Einklang mit der grundlegenden Ausrichtung des Romans. Das Interview mit Sabu zeigte jedoch, dass er die politischen Fragen, die das Thema aufwirft, herunterzuspielen und sich vom objektiven gesellschaftlichen Inhalt seines Films zu distanzieren versucht. Das ist Ausdruck ideologischer und historischer Probleme.

Der Regisseur betont, dass sein Bestreben, den Hauptcharakteren mehr Persönlichkeit einzuhauchen, ausschließlich darauf abzielt, in der konformistischen japanischen Gesellschaft Individualismus zu ermutigen. Das mag eine gewisse Legitimität haben, aber es gibt, wie man weiß, unterschiedliche Arten von Individualismus. Um was geht es dem Filmemacher? Dies war unser Gespräch...


Interview mit Regisseur Sabu

WSWS : Was bedeutet Ihr Film für junge Menschen heute?

Sabu : Ich denke, es kann immer passieren, dass junge Menschen die Orientierung verlieren. Sie wissen nicht, was tun, und müssen Entscheidungen für ihr Leben treffen. Sicher, die wirtschaftliche Situation in Japan ist schwierig und Jugendliche haben Probleme, eine Arbeit zu finden, aber es kommt nicht wirklich darauf an, ob es Japan, Berlin oder sonst wo auf der Welt ist. Damit müssen sich Menschen auseinandersetzen, besonders in Japan, weil Japan kein Land ist, in dem Individualität gefördert wird. Meine Botschaft ist, dass du dein Leben in die eigene Hand nehmen und für dich selbst denken und selbst entscheiden musst, was du werden willst, selbst entscheiden und handeln.

WSWS: Können Sie etwas mehr über die Lage der Jugend in Japan sagen, die zu so einer starken Reaktion auf den Film geführt hat?

Sabu : Es stimmt, dass die Leute kämpfen müssen, um Arbeit zu finden. Aber ich kenne auch Jugendliche, die lieber einfach Musik hören wollen und mal hier, mal da einen Job machen und nur gelegentlich arbeiten. Natürlich ist ihre Lage nicht so gut, wenn sie keine feste Arbeit haben. Das ist zum Teil ihre eigene Entscheidung. Andererseits gibt es so viele Jugendliche, die zur Universität gehen und ganz auf ihre Zukunft konzentriert sind, eine Arbeit in einer guten Firma suchen, aber wegen der Wirtschaftskrise keine finden.

Deswegen bedauere ich die Jugend. Ich höre in den Nachrichten und in den Massenmedien, dass junge Menschen in einer schwierigen Lage sind und Probleme haben, Arbeit zu finden. Aber tagtäglich sehe ich etwas anderes. Jugendlichen scheint es ganz gut zu gehen, sie haben Handys, spielen Games am Fernseher, gehen zum Fußball. Es gibt also eine Kluft zwischen dem, was ich sehe, und was ich in den Medien höre. Das verstehe ich nicht wirklich.

WSWS : Es gab 1953 schon einmal einen Film über dieses Buch und ich habe gelesen, dass die Version sich von Ihrer in mehreren Punkten unterscheidet, besondern in der Art und Weise, wie die Geschichte erzählt wird. Sie gehen weniger realistisch vor und führen surreale und absurde Elemente ein. Warum haben Sie sich für diese Herangehensweise entschieden?

Sabu : Der erste Film aus den 1950er Jahren ist ein sehr politischer Film und hält sich eng an die Romanvorlage. Ich wollte dagegen einen Film machen, der näher am täglichen Leben ist. Außerdem wollte ich einen Film machen, der viele Leute ins Kino lockt, deswegen musste er etwas unterhaltsamer sein. Ich wollte die Leute erreichen, deswegen habe ich ihn zugänglicher und weniger politisch gemacht.

WSWS: Ein Unterschied zwischen Ihrem Film und dem von 1953 besteht darin, dass die Arbeiter damals keine richtigen Namen hatten und dass es keine herausgehobenen Figuren gab. Der Film von `53 (und der Roman) betonen das Kollektive, während Ihr Film Persönlichkeiten hervorhebt: ein Arbeiter wird zum Führer und inspiriert die anderen, als er getötet wird. Warum haben Sie diese Änderung eingeführt?

Sabu : Am Anfang habe ich ein Skript mit Charakteren geschrieben, die keine Namen, sondern Nummern hatten. Aber das wurde sehr verwirrend. Ich dachte, das machte keinen Sinn und dass ich Namen brauchte, um sie als Charaktere lebendig zu machen. Im Roman geht eine der Figuren nach Russland und lernt und kommt dann zurück, um die Revolution zu beginnen. Diese Figur ist im Buch nicht die Hauptfigur, obwohl ich sie als solche sehe. Also habe ich diesem Charakter, der in meinen Augen immer die zentrale Figur war, ein paar Dinge hinzugefügt.

WSWS: Mir scheint es ein weiteres Element zu geben. Das Buch und der Film von 1953 betonen das Kollektiv und argumentieren, dass nur die Massen selbst ihre Probleme lösen können. Sie haben die Frage der Führung eingeführt, eine führende Figur, jemanden, der andere inspirieren kann. War das Ihre bewusste Absicht, die Bedeutung einer Führungsfigur zu betonen?

Sabu: Ich denke, dass diese führende Figur nur einen Anstoß gibt. Bis er getötet wurde, akzeptierten alle einfach ihre Situation. Sie kümmerten sich erst ernsthaft um ihre Angelegenheiten, nachdem er gestorben war. Dann hat jeder Verantwortung für sich selbst übernommen. In Japan tendieren Leute dazu, einfach anderen zu folgen, und nicht ihre eigenen individuellen Pläne zu verfolgen. Ich glaube, wenn jeder zur Sache kommt, aktiv wird und sich in die gleiche Richtung bewegt, dann ergibt das am Ende eine kollektive Bewegung. Aber noch einmal: Ich wollte das Kollektive nicht zu sehr betonen, weil es oft dahin tendiert, gewaltsam zu werden, und das halte ich nicht für gut. Es geht also darum, dass jeder beginnen muss, selber nachzudenken, und nur wenn jeder eine ernsthafte Haltung einnimmt und sich bewegt, dann kann es wirkliche Veränderung geben.

WSWS: Ist der Film in Japan von rechten Kräften kritisiert worden?

Sabu: Nein, in der Hinsicht gab es nichts. Für mich ist links und rechts nicht wirklich wichtig. Ich habe alle offensichtlich politischen Bezüge von beiden Seiten rausgelassen. Für mich geht es also wirklich um das Individuum, das für sich selbst Verantwortung übernimmt.

WSWS: Einer der Charaktere sagt gegen Ende des Films, es sei wichtig, etwas zu tun, und im Jetzt und Hier zu handeln. Gleichzeitig stammt die Inspiration für den Film aus einem historischen Roman. Was ist die Bedeutung der Tatsache, dass Sie in die Geschichte zurückgreifen, um das Heute zu verstehen und zu handeln?

Sabu: Ich glaube, das hängt von jedem Einzelnen ab. Aber was ich in meinen anderen Filmen auch sage, ist, dass es wichtig ist, sich mit der Gegenwart zu beschäftigen. Wenn man das tut, dann wird sich die Zukunft ändern. Das hat nichts mehr mit der Romanvorlage zu tun, das ist etwas, das ich geschaffen habe.

WSWS: Ihr Film spricht sich im Grunde für eine Revolution aus. In den 1920er Jahren, als das Buch geschrieben wurde, war das ein Appell, den Kapitalismus durch Sozialismus zu ersetzen. Glauben Sie daran? Denken Sie, dass es notwendig ist, in Japan und anderen Ländern, den Kapitalismus zu ersetzen?

Sabu: Das ist überhaupt nicht meine Zielrichtung. Ich denke einfach, dass die Menschen sich anstrengen müssen, und dass Arbeiter ihren gerechten Lohn bekommen sollten.

Fortsetzung folgt

Siehe auch:
Roman Polanskis Der Ghostwriter; eine neue Version von Metropolis
und andere Fragen (27. Februar 2010)
http://www.wsws.org/de/2010/feb2010/berl-f27.shtml

59. Berlinale: Ein alarmierendes Zurückbleiben hinter der Zeit
(28. Februar 2009)
http://www.wsws.org/de/2009/feb2009/berl-f28.shtml


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Quelle:
World Socialist Web Site, 06.03.2010
60. Berlinale - Teil 4
Kanikosen : ein "proletarischer japanischer Roman" - modernisiert
http://wsws.org/de/2010/mar2010/kani-m06.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2010