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GLEICHHEIT/3343: Unten nehmen, oben geben - Bundestag beschließt Milliarden-Kürzungen


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Unten nehmen, oben geben
Bundestag beschließt Milliarden-Kürzungen

Von Dietmar Henning
5. November 2010


In der letzten Oktoberwoche beschloss die Regierungskoalition drastische Sozialkürzungen für Millionen Arbeitslose und arme Familien. Für die Unternehmen und Reichen gab es dagegen Geschenke.

Mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP verabschiedete der Bundestag am 28. Oktober große Teile des 80-Milliarden-Sparpakets der Bundesregierung. Mit dem so genannten Haushaltsbegleitgesetz spart die Regierung bis Ende 2014 rund 20 Milliarden Euro vor allem bei Hartz-IV-Empfängern ein.

Am Sonntagabend waren die Regierungsspitzen kurzfristig zusammengekommen, um das Sparpaket noch einmal zu besprechen. Doch sie diskutierten nicht über die insgesamt mehr als 29 Milliarden Euro Kürzungen im Sozialbereich, sondern über die ohnehin kosmetische Belastung der Unternehmen, die sie noch einmal verringerten.

Der Bundestag beschloss am Donnerstag unverändert die Streichung der Rentenbeiträge für Hartz-IV-Empfänger. Die Folge wird ein weiteres Anwachsen der Altersarmut sein. Auch der befristete Zuschlag beim Übergang vom Arbeitslosengeld I ins Arbeitslosengeld II (Hartz IV) fällt weg. Zudem werden Förderprogramme oder Eingliederungshilfen erheblich gekürzt.

Insbesondere die Ein-Euro-Jobs, in denen im September noch 274.000 Langzeitarbeitslose beschäftigt waren, sollen erheblich verringert werden, in einigen Kommunen um mehr als die Hälfte. An sich wäre es zu begrüßen, wenn diese moderne Form der Fronarbeit dem Ende entgegen sähe. Doch die Kürzung hat auch soziale Folgen.

Entgegen den offiziellen Behauptungen haben die Hunderttausenden Ein-Euro-Jobber häufig nicht "zusätzliche Arbeiten im öffentlichen Interesse" erledigt, wie es in der Hartz-IV-Gesetzgebung heißt. Vielfach haben sie notwendige soziale Aufgaben übernommen, aus denen sich die Kommunen wegen ihrer knappen Finanzen schon lange zurückgezogen haben. Ein-Euro-Jobber leisteten Betreuung, Nachhilfe und Hausmeistertätigkeiten an Schulen, gaben Essen an Arme und Kranke aus, schmierten Schulbrote für arme Kindern und halfen älteren Menschen beim Einkauf. Sind die Jobs weg, müssen Arme, Kranke und Alte zusehen, wer ihnen nun hilft.

Zudem werden viele Tausend Jobs bei den Bildungsträgern wegfallen, die den Einsatz der Ein-Euro-Jobber - und andere Maßnahmen für Arbeitslose - bislang organisieren und dabei sehr gut verdienen. So hat das Frankfurter Jobcenter im vergangenen Jahr 16,5 Millionen Euro für 2.800 Ein-Euro-Jobber ausgegeben. Nur 3,5 Millionen Euro gingen an die Arbeitslosen, 11,2 Millionen strichen die Träger ein. Die dort beschäftigten Ausbilder, Sozialpädagogen, Dozenten und Vermittler werden ebenfalls Opfer der Kürzungen in der Arbeitsmarktpolitik werden.

Auch das Elterngeld in Höhe von 300 Euro im Monat, das ein Jahr lang nach Geburt des Kindes gezahlt wird, verlieren Hartz-IV-Empfänger. Schon die Ersetzung des Erziehungsgeldes durch das Elterngeld hat 2007 für Arbeitslose eine Halbierung der Leistungen bedeutet und war für die wachsende Kinderarmut mitverantwortlich. Nun wird den Hartz-IV-Empfängern auch das letzte Geld genommen.

Die Regierung sah am vorletzten Wochenende keinen Grund, die geplanten Sozialkürzungen zu thematisieren. Sie sind unstrittig. Dafür beschloss sie weitere Änderungen im Interesse der Unternehmen. Energieintensive Industrien sollen nun doch nicht wie geplant ihre Sonderbehandlung bei der Ökosteuer einbüßen. Die Ausnahmeregelungen werden weniger stark reduziert, als von der Regierung ursprünglich beschlossen. Die Regierung schätzt allein den Wert dieses Steuergeschenks an die Industrie auf rund 550 Millionen Euro.

200 Millionen Euro davon sollen durch die schnell ins Gesetzgebungsverfahren genommene Erhöhung der Tabaksteuer wieder hereingeholt werden. Bis 2015 sollen Zigaretten und andere Tabakprodukte um bis zu 40 Cent pro Packung teurer werden. Diese Steuererhöhung und die Art ihrer Umsetzung, nämlich Schritt für Schritt über mehrere Jahre hinweg, war von der Tabakindustrie selbst vorgeschlagen worden. Offensichtlich hat diese vor, zusammen mit den Steuererhöhungen von jährlich ein paar Cent gleichzeitig schon lange nicht mehr stattgefundene Preiserhöhungen umzusetzen.

Die Bundesregierung erwartet durch die im Haushaltsbegleitgesetz geplanten Maßnahmen bis 2014 Einsparungen von insgesamt 20 Milliarden Euro. Als Grund für die hohen Kürzungen wird immer die Schuldenbremse im Grundgesetz genannt. Die von der Großen Koalition unter Bundesfinanzminister Peer Steinbrück (SPD) eingeführte Schuldenbremse verpflichtet den Bund, die Neuverschuldung bis spätestens 2016 unter 10 Milliarden Euro zu senken.

Die Kürzungen wurden innerhalb einer Woche durch das Parlament gepeitscht. Neben der Verabschiedung des Haushaltsbegleitgesetzes fanden weitere Debatten statt: über die Rente mit 67, über das so genannte Restrukturierungsgesetz, das den Umgang mit bankrottgefährdeten Banken und die Bankenabgabe regelt, und über die neuen Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger, die mit statistischen Tricks willkürlich kleingerechnet wurden,.

Selbst Mitglieder der Regierungsparteien, allen voran Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), erklärten, man habe kaum Zeit gehabt, die kurzfristig nochmals geänderten Gesetzesentwürfe zu lesen, geschweige denn zu prüfen. Die Ausschussberatungen fanden erst am Dienstag, den 27. Oktober statt, und schon zwei Tage später beschloss der Bundestag die Kürzungen des Haushaltsbegleitgesetzes und verlängerte die Laufzeiten von Atomkraftwerken auf faktisch unbegrenzte Zeit.

Dutzende Änderungsanträge zu den Gesetzen wurden erst kurz vor und teilweise erst während der Beratungen übergeben. "Das ist alles etwas viel auf einmal", zitiert die Frankfurter Rundschau einen Abgeordneten der Koalition. "Für Top 29", schreibt die Zeitung, "die erste Beratung der Hartz-IV-Reform und den Antrag der Grünen zum 'menschenwürdigen Dasein und Teilhabe für alle', hatten die Parlamentarier am Freitag genau eine Stunde Zeit."

Auch in den nächsten Wochen wird dieses Tempo beibehalten werden. Als nächstes werden das so genannte Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) und die Gesundheitsreform fast gleichzeitig beschlossen. Auch hier hat die Bundesregierung noch kurzfristig wichtige Änderungen beschlossen.

Während an der Beitragssatzerhöhung zur gesetzlichen Krankenversicherung auf 15,5 Prozent und dem anschließenden Einfrieren des Arbeitgeberanteils nicht gerüttelt wird, haben sich CDU und FDP die Zustimmung der CSU zum Arzneimittel-Gesetz mit einer erneuten Erhöhung der Honorare der niedergelassenen Kassenärzte erkauft. Obwohl für die 150.000 Kassenärzte in Deutschland bereits eine Honorarerhöhung von rund einer Milliarde Euro vereinbart worden war, erhöhte die schwarz-gelbe Koalition diese noch einmal um 120 Millionen Euro.

Das neue Arzneimittel-Gesetz hatte schon vor den Änderungen eine ganze Reihe von Geschenken für die Pharma-Industrie beinhaltet, darunter auch die faktische Aushebelung der Nutzenbewertung von neuen Arzneimitteln. Alle Regelungen, die die Profite der Pharma-Industrie bisher auch nur ansatzweise beschnitten hatten, werden aufgehoben.

Aus einem aktuellen Änderungsantrag der Koalition zum neuen Gesetz geht hervor, dass Pharmaunternehmen künftig auch als Vertragspartner bei integrierten Versorgungskonzepten zugelassen sind. Bislang können Krankenkassen ausschließlich mit Ärzten, Zahnärzten, Apotheken, Praxiskliniken, Pflegekassen sowie Trägern von Krankenhäusern und Medizinischen Versorgungszentren Verträge schließen. Dies soll nun auch mit Pharmaunternehmen möglich sein, "da die Versorgung mit Arzneimitteln wesentlicher Bestandteil integrierter Versorgungskonzepte sein kann", heißt es im Änderungsantrag. In der Folge müssten Mediziner die Arznei des Vertragsherstellers verordnen.

Selten hat eine Bundesregierung so offen die soziale Umverteilung organisiert.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 05.11.2010
Unten nehmen, oben geben
Bundestag beschließt Milliarden-Kürzungen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. November 2010