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GLEICHHEIT/3466: Tunesische Einheitsregierung bricht unter dem Druck von Protesten auseinander


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Herausgegeben vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale

Tunesische Einheitsregierung bricht unter dem Druck von Protesten auseinander

Von Chris Marsden
20. Januar 2011


Mindestens fünf Minister, wahrscheinlich sogar mehr, haben die tunesische Regierung der Nationalen Einheit kaum einen Tag nach ihrer Bildung wieder verlassen. Die Opposition in der Bevölkerung gegen die beherrschende Rolle der Partei des abgesetzten Präsidenten Zine El Abisine Ben Ali in der Regierung war zu groß.

Mehrere Mitglieder von Oppositionsparteien hatten weniger wichtige Ministerämter in der Regierung übernommen, aber das täuschte niemanden über die Tatsache hinweg, dass die neue Regierung nichts weiter als eine Front für die Fortsetzung der Herrschaft von Ben Alis Partei RCD war.

Premierminister Mohammed Ghannouchi war einer der acht Minister aus der vorigen Regierung, genauso Interimspräsident Fuad Mebazaa, Innenminister Ahmed Friaa, Außenminister Kamal Morjane und der Verteidigungs- und der Finanzminister. RCD-Mitglieder halten alle wichtigen Posten, Oppositionspolitiker bekamen nur unbedeutende und manchmal besondere, völlig sinnfrei geschaffene Ministerien.

Aber als die Proteste weitergingen und sich gegen die Rolle der RCD in der neuen Regierung richteten, traten die drei Minister, die der Gewerkschaftsverband UGTT gestellt hatte, wieder zurück: der stellvertretende Verkehrsminister Anouar Ben Gueddour, der Minister ohne Geschäftsbereich Abdeljelil Bedoui und der stellvertretende Arbeitsminister Houssine Dimassi. Ihnen schloss sich Gesundheitsminister Mustafa Ben Jaafar vom Demokratischen Forum für Freiheit und Arbeit (FDLT) an.

Kulturminister Moufida Tlatl "denkt über einen Rücktritt nach".

Ghannouchi hat immer größere Probleme, seine Regierung zu rechtfertigen. In einem Radiointerview versuchte er die demokratischen Verdienste der früheren Lakaien Ben Alis hervorzuheben: "Wir müssen eine Hexenjagd vermeiden und nationale Versöhnung fördern... Viele Minister, die schon in der vorigen Regierung unter Präsident Ban Ali dienten, haben sich mit aller Kraft für das Gemeinwohl eingesetzt."

Sie hätten "saubere Hände und hohe Kompetenz", fügte er hinzu. "Mit ihrem Einsatz ist es ihnen gelungen, den Schaden zu reduzieren, den andere angerichtet haben."

Ein Treffen der größten Oppositionspartei, der Progressiven Demokratischen Partei (PDP) von Ahmed Najib Chebbi, dem neuen Minister für Regionalentwicklung, verlief turbulent. Chebbi saß da, den Kopf schwer in die Hände gestützt. Ein Parteimitglied fragte: "Wie kann ein Mörder heute unser Führer sein?"

Am Abend gaben der Premierminister und der Interimspräsident endlich ihren Austritt aus der RCD bekannt.

Diese Manöver wurden von zornigen Protesten in der Hauptstadt Tunis und in Sfax, Regueb, Kasserine und Sidi Bouzid erzwungen.

Stundenlang hielten Demonstranten der immer stärkeren Polizeibrutalität stand. Sie bestanden auf ihrem Protest gegen den Versuch, Ben Alis Diktatur ohne Ben Ali wieder zu errichten. Der Protest begann mit einem Zug von einigen hundert Teilnehmern zur Zentrale der UGTT, um dagegen zu protestieren, dass sich die Gewerkschaften an der Regierung beteiligten. "Keine Überbleibsel des alten Regimes", riefen die Demonstranten. "Bürger und Märtyrer, die Regierung ist immer noch die gleiche. Wir werden protestieren, wir werden protestieren, bis die Regierung fällt!"

Die Bereitschaftspolizei antwortete mit Schlagstöcken, Schilden und Tränengas. Ein Demonstrant wurde zu Boden gerissen und mehrfach getreten. Einem anderen wurde der Arm gebrochen. Fliehende wurden mit Schlagstöcken verfolgt. Ein Video tauchte auf, in dem Scharfschützen zu sehen waren, die in der Stadt Bizerte im Norden mehrfach auf Demonstranten schossen.

Der neue Innenminister Ahmed Friaa von der RCD erklärte öffentlich: "Wir werden den Menschen danken, die für Freiheit gekämpft und dem Land in der Krise geholfen haben, aber wir werden auch alle bestrafen, die uns terrorisiert haben... Ja zur Demokratie, Ja zur Freiheit und Nein zum Chaos."

Kommentare aus der Bevölkerung zeigen den tiefen Zorn, den die Regierung Ghannouchis zu unterdrücken sucht.

"Die neue Regierung ist ein Betrug. Sie ist eine Beleidigung der Revolution, die Leben und Blut gekostet hat", sagte ein Demonstrant.

"Nichts hat sich geändert", sagte der Lehrer Mohamed Cherni, der unter Ben Ali von der Polizei gefoltert worden war. "Es ist das gleiche Regime wie vorher, also müssen wir weiterkämpfen."

"Ich fürchte, dass die Revolution mir und meinem Volk gestohlen wird... Das sind die Gleichen, die das Volk 22 Jahre unterdrückt haben", sagte Ines Mawdud, eine 22-jährige Studentin.

Auf einer tunesischen Facebookseite heißt es: "Die RCD, diese Partei der Diktatur, dieses Symbol des Totalitarismus und der Tyrannei, ist immer noch da."

Ein anderer Eintrag: "Der Diktator ist gestürzt, aber die Diktatur noch nicht. Die Tunesier müssen ihre Mission noch vollenden."

Die Gewerkschaftsbürokraten und Oppositionellen sahen sich gezwungen, aus der Regierung auszutreten, aber sie haben keine Erklärung abgegeben oder sich entschuldigt, dass sie überhaupt in die Regierung eingetreten sind. Ihre Beteiligung war nicht mehr tragbar.

Am Morgen hatte die UGTT auf einer Sondersitzung beschlossen, die neue Regierung nicht anzuerkennen. "Damit folgen wir den Forderungen der Menschen auf der Straße", erklärte Gewerkschaftsorganisator Abid al-Briki.

Aber der Rückzug aus der Regierung ändert nicht die wesentlichen Ziele dieser Elemente, nämlich die Enthauptung der Opposition der Arbeiterklasse und die Rettung des tunesischen Kapitalismus.

Mit jedem Tag werden die gesellschaftlichen Gegensätze in der so genannten "Jasmin-Revolution" deutlicher. Eine der wichtigsten Beobachtungen bei den Massenprotesten in Tunesien machte David D. Kirkpatrick von der New York Times. Er schrieb: "Auf den Straßen entwickelte sich die tunesische Revolution weiter. Sie begann in den problembeladenen Provinzen mit der Forderung nach mehr Arbeitsplätzen, vor allem für Tunesiens zahlreiche Hochschulabgänger, von denen fast ein Drittel arbeitslos oder stark unterbeschäftigt ist. Sie dehnte sich auf die Arbeiter und kleinen Ladenbesitzer aus und griff dann auf die selbständigen Mittelschichten an der Küste über, hauptsächlich als Revolte gegen die offene Korruption der Familie Ben Alis."

Weiter heißt es: "Aber am Montag schienen die Menschen, die auf die Straße gingen, mehr aus der Arbeiterklasse zu kommen. Unter ihnen waren erfahrene Oppositionelle, die unter der Regierung Ben Alis gelitten hatten."

"Abseits der Straße", schrieb Kirkpatrick weiter, "erklärten Vertreter der Mittelschicht, die letzte Woche noch gegen Ben Alis Regierung gewettert hatten, wie sehr sie von den ersten klugen Schritten der neuen Regierung angetan seien."

Eine andere wichtige Seite der Proteste ist ihre Bereitschaft, das demokratische Recht der islamistischen Ennahda auf freie politische Betätigung zu verteidigen, obwohl der politische Islam in der weitgehend säkularen Oppositionsbewegung bisher wenig Anklang findet.

Die Regierung erklärt, Scheich Raschid al-Ghannouchi, der Führer von Ennahda, könne nicht nach Tunesien zurückkehren, bevor ein Amnestiegesetz verabschiedet sei. Dadurch müsse ein Ausweisungsbeschluss von 1991 erst aufgehoben werden.

Am meisten Sorgen bereitet den imperialistischen Mächten und den arabischen Regimes die Gefahr, dass ein solcher, wirklicher Volksaufstand sich über Tunesien hinaus ausbreiten könnte.

Bisher ist das noch nicht geschehen. Aber in Ägypten, Algerien und Mauretanien hat es ebenfalls Selbstverbrennungen gegeben, ähnlich jenen, welche die Massenproteste in Tunesien auslösten.

In Ägypten verbrannte sich gestern ein Mann in Kairo. Das war der zweite an dem Tag und der dritte in zwei Tagen.

Am Vortag zündeten sich in Mauretanien und Algerien Menschen aus Protest an. In Algerien haben sich seit dem Beginn der tunesischen Revolte vier Menschen selbst verbrannt.

Die Arabische Liga trifft sich heute im ägyptischen Scharm El-Scheikh mit dem erklärten Ziel, über Handel und Entwicklung zu diskutieren. Ihre wirkliche Tagesordnung wurde nun aber in Tunesien festgelegt. Gestern erklärte Mohammed al-Sabah aus Kuwait auf einem Vorbereitungstreffen der Außenminister: "Die arabische Welt erlebt gerade beispiellose politische Entwicklungen und wirkliche Herausforderungen für die nationale Sicherheit der Araber... Länder fallen auseinander, Völker erheben sich ... und die arabischen Bürger fragen: Können die die Regierungen dynamisch auf diese Herausforderungen reagieren?"

Auf dem Treffen anwesend war auch der neu ernannte tunesische Außenminister Kamel Morjane. Er wird seinen Kollegen deutlich gemacht haben, wir prekär ihre Lage geworden ist.

Das Ausmaß der Krise der arabischen Regimes wird durch den stärksten Rückgang des ägyptischen Börsenindexes seit dem Mai vergangenen Jahres unterstrichen. Ausländische Investoren haben sich zurückgezogen. Nach Angaben von Bloomberg "haben nicht-arabische ausländische Investoren Nettobeträge für 38,9 Millionen Dollar verkauft... 'Ausländische Investoren fahren ihre Positionen zurück, weil die Ereignisse in Tunesien ein gesteigertes politisches Risiko signalisieren', sagte Ahmed Alseesi von Acumen Securities in Kairo."

Die tunesische Börse ist geschlossen.


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Quelle:
World Socialist Web Site, 20.01.2011
Tunesische Einheitsregierung bricht unter dem Druck von Protesten auseinander
http://www.wsws.org/de/2011/jan2011/tune-j20.shtml
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Januar 2011